Niedersächsisches FG: Ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG
Niedersächsisches FG, Beschluss vom 3.7.2015 – 16 V 95/15
Leitsätze
Es bestehen ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG (Anschluss an FG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 3. Juni 2015 5 V 5026/15, Juris).
Durch den Erlass des Umsatzsteuerjahresbescheids kommt es nicht zu einer Änderung der bisherigen Umsatzsteuervoranmeldungen i. S. d. § 176 AO.
§ 27 Abs 19 UStG
Aus den Gründen
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin nach dem Erlass des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. August 2013 V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 für das Streitjahr 2013 Umsatzsteuer für die Erbringung von Bauleistungen an die W GmbH (GmbH) im Streitjahr 2013 schuldet, obwohl Antragstellerin und GmbH bei Abrechnung dieser Leistungen übereinstimmend davon ausgegangen waren, dass die GmbH als Leistungsempfängerin die Umsatzsteuer nach § 13 b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 und Abs. 5 Umsatzsteuergesetz (UStG) i. V. m. Abschn. 13 b. 3. Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und 8 des Umsatzsteueranwendungserlasses 2013 (UStAE) schulde.
Die Antragstellerin betreibt einen Heizungs- und Lüftungsbau. Im Streitjahr 2013 erbrachte sie u. a. Leistungen gegenüber der GmbH. In den von der Antragstellerin erteilten Abrechnungen wurde keine Umsatzsteuer ausgewiesen; sie enthielten einen Hinweis auf die Steuerschuldnerschaft der GmbH als Leistungsempfängerin. Die Gesellschaft meldete die sich aus den berechneten Nettoentgelten in Höhe von 55.723,86 € Steuer zwar an, ob sie sie auch abführte, lässt sich aus den Akten nicht entnehmen.
Mit Schreiben vom 24. September 2014 beantragte die GmbH bei dem für sie zuständigen Finanzamt unter Berufung auf das Urteil des BFH vom 22. August 2013 V R 37/10, nicht mehr Steuerschuldner für diese Umsätze zu sein, die Umsatzsteuerfestsetzungen u. a. für 2013 zu ändern und die entrichteten Umsatzsteuerbeträge zu erstatten. Nachdem das Finanzamt diesen Sachverhalt dem Antragsgegner am 22. Dezember 2014 mitgeteilt hatte, wies dieser die Antragstellerin am 6. Januar 2015 darauf hin, dass sie nunmehr diesen Umsatz als Steuerschuldnerin zu versteuern habe. Weiterhin habe die Antragstellerin nach Auffassung des Antragsgegners Rechnungen nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG mit gesondertem Ausweis der gesetzlichen Umsatzsteuer zu erstellen. Die Antragstellerin wurde darauf hingewiesen, dass sie die sich aus den berichtigten Rechnungen gegenüber der GmbH entstehenden Ansprüche auf Zahlung der Umsatzsteuer an den Antragsgegner abtreten könne.
Mit Schreiben vom 29. Januar 2015 wies die Antragstellerin darauf hin, dass über das Vermögen der GmbH mit Beschluss des Amtsgerichts O (... IN .../14) das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. Aus diesem Grunde sei es bereits zweifelhaft, ob der Insolvenzverwalter eine Abtretung überhaupt akzeptieren werde. Bis zu einer Klärung der Frage, ob der Antragsgegner trotz der sich möglicherweise ergebenden rechtlichen Hindernisse eine Abtretung mit schuldbefreiender Wirkung nach § 27 Abs. 19 Satz 3 UStG in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juli 2014 (BGBl. I S. 1266 = UStG n. F.) akzeptieren werde, werde sie keine berichtigten Rechnungen erteilen. Der Antragsgegner erteilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 3. Februar 2015 zu der Frage einer Abtretung eine ausweichende Antwort unter Hinweis auf laufende Abstimmungen auf Bund- und Länderebene. Der Antragsgegner rechnete aus den in Rechnung gestellten Nettobeträgen die gesetzliche Umsatzsteuer heraus und erließ am 22. April 2015 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2013.
Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 27. April 2015 Einspruch, über den noch nicht entschieden worden ist. Einen gleichzeitig gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte der Antragsgegner am 7. Mai 2015 ab.
Mit dem bei Gericht am 12. Mai 2015 erhobenen Eilantrag begehrt die Antragstellerin die Aussetzung der Vollziehung unter Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG n. F., mit dem die Anwendung des § 176 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) ausgeschlossen wird. Zur Begründung verweist sie insbesondere auf den Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. Juni 2015 5 V 5026/15. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken müssten auch für das Streitjahr durchschlagen. Zwar habe die Antragstellerin bis zur Änderung und Anpassung der Verwaltungsvorschrift des Abschn. 13 b. 3. UStAE an die Rechtsprechung des BFH durch das BMF-Schreiben vom 13. Januar 2014 IV D 3 – S 7279/11/100002 beim Antragsgegner nur Umsatzsteuervoranmeldungen eingereicht; die Umsatzsteuererklärung für 2013 sei erst am 16. September 2014 bei diesem eingegangen. Die Berufung auf den in § 176 Abs. 2 AO geregelten Vertrauensschutz sei aber nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht (Lippross, DStR 2014, 879) möglich.
Die Antragstellerin beantragt,
die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 2013 vom 22. April 2015 bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung des Antragsgegners über den Einspruch ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er geht davon aus, dass keine ernsthaften Bedenken gegen die Regelung des § 27 Abs. 189 UStG n. F. bestehen.
II.
Der Antrag ist unbegründet.
Die Aussetzung der Vollziehung soll gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz Finanzgerichtsordnung (FGO) erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen, wenn bei summarischer Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung; vgl. BFH-Beschlüsse vom 19. März 2014 V B 14/14, BFH/NV 2014, 999 und vom 19. März 2014 III S 22/13, BFH/NV 2014, 856 jeweils mit weiteren Nachweisen).
Der Senat teilt zwar im Grundsatz die ernsthaften Zweifel des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 3. Juni 2015 5 V 5026/15 an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG n. F. Aber selbst wenn man zugunsten der Antragstellerin die Anwendung des § 176 Abs. 2 AO in Betracht zieht, ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids. § 176 Abs. 2 AO ist auf die vorliegende Konstellation nicht anwendbar.
Nach § 176 Abs. 2 AO darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift einer obersten Bundesbehörde von einem obersten Gerichthof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht im Einklang stehend bezeichnet worden ist. Unstreitig unterfällt der UStAE als Verwaltungsvorschrift des Bundesfinanzministeriums dem sachlichen Anwendungsbereich, durch das Urteil des BFH vom 22. August 2013 V R 37/10 wurden für den Streitfall entscheidende Regelungen als mit dem geltenden Recht unvereinbar bezeichnet. Die Voraussetzung einer Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids ist dagegen nicht erfüllt.
Mit den Begriffen der Aufhebung oder Änderung verweist § 176 Abs. 1 und Abs. 2 AO nach seinem Wortlaut auf § 172 Abs. 1 Satz 1 AO, nicht aber auch auf die anderweitige Erledigung i. S. des § 124 Abs. 2 AO. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH führt der Erlass eines Umsatzsteuerjahresbescheids oder der Eingang einer Umsatzsteuererklärung als Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 18 Abs. 3 UStG) zu einer anderweitigen Erledigung eines Bescheids über den Umsatzsteuervoranmeldungszeitraums oder der bislang eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen i. S. von § 124 Abs. 2 AO führt, kommt es durch den Erlass des Umsatzsteuerjahresbescheids oder den Eingang einer Umsatzsteuererklärung nicht zu einer Änderung des bislang vorliegenden Voranmeldungsfestsetzungen. Darüber hinaus regelt der Umsatzsteuerjahresbescheid oder die Jahreserklärung ein mit den einzelnen Voranmeldungszeiträumen nicht identisches Steuerrechtsverhältnis, wie sich bereits daraus ergibt, dass beide Bescheide, auch wenn sie dasselbe Kalenderjahr betreffen, unterschiedliche Zeiträume dieses Jahres erfassen. Im Übrigen sind auch keine Umstände erkennbar, die es rechtfertigen könnten, das Vertrauen in einen Voranmeldungsbescheid oder eine Voranmeldung zu schützen (BFH, Beschluss vom 23. April 2010 V B 89/09, BFH/NV 2010, 1782). Der Senat schließt sich dieser Auffassung an, die vereinzelt in der Literatur vertretene Ansicht vermag demgegenüber nicht zu überzeugen (vgl. z. B. Frotscher, in Schwarz/Pahlke, AO-FGO-Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 164. Lieferung 5/2015, § 176 Rdnr. 13 a).
Da die bisherige Regelung in Abschn. 13 b. 3 UStAE mit BMF-Schreiben vom 13. Januar 2014 an die Rechtsprechung des BFH angepasst wurde und zu diesem Zeitpunkt die Umsatzsteuererklärung der Antragstellerin noch nicht beim Antragsgegner eingegangen war, scheidet eine Anwendung des § 176 Abs. 2 AO im Streitfall aus.
Eine unbillige und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte liegt vor, wenn der Antragstellerin durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides wirtschaftliche Nachteile drohen, die durch eine etwaige spätere Rückzahlung der eingezogenen Beträge nicht ausgeglichen werden oder nur schwer gutzumachen sind, oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Antragstellerin führen würde (BFH-Beschluss vom 26. Oktober 2011 I S 7/11, BFH/NV 2012, 583). Es ist insoweit erforderlich, dass die Antragstellerin ihre wirtschaftliche Lage im Einzelnen vorträgt oder glaubhaft macht (BFH-Beschluss vom 9. März 2012 VII B 185/11, BFH/NV 2012, 999). Diesem Erfordernis ist die Antragstellerin nicht nachgekommen; auch nach Aktenlage sind entsprechende Hinweise nicht erkennbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.