EuGH: Ermittlung der geschuldeten Mehrwertsteuer, wenn die Vertragsparteien bei Vertragsabschluss hinsichtlich dieser Steuer keine Regelung getroffen haben
EuGH, Urteil vom 7.11.2013 - verb. Rs. C-249/12 und C-250/12;
leitsatz
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, insbesondere ihre Art. 73 und 78, ist dahin auszulegen, dass, wenn der Preis eines Gegenstands von den Vertragsparteien ohne jeglichen Hinweis auf die Mehrwertsteuer festgelegt wurde und der Lieferer dieses Gegenstands für den besteuerten Umsatz Steuerschuldner der Mehrwertsteuer ist, der vereinbarte Preis in dem Fall, dass der Lieferer nicht die Möglichkeit hat, die von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber wiederzuerlangen, so anzusehen ist, dass er die Mehrwertsteuer bereits enthält.
Aus den Gründen
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), insbesondere von deren Art. 73 und 78.
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Frau Tulică und der Agenţia Naţională de Administrare Fiscală - Direcţia Generală de Soluţionare a Contestaţiilor (Staatliche Steuerverwaltungsagentur - Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen) sowie Herrn Plavoşin und der Direcţia Generală a Finanţelor Publice Timiş - Serviciul Soluţionare Contestaţii (Generaldirektion für öffentliche Finanzen Timiş - Rechtsbehelfsstelle) über die Ermittlung der geschuldeten Mehrwertsteuer, wenn die Vertragsparteien bei der Festlegung des Preises des verschafften Gegenstands hinsichtlich dieser Steuer keinerlei Regelung getroffen haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Der siebte Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden."
4 Art. 1 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie legt das gemeinsame Mehrwertsteuersystem fest.
(2) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.
Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.
Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem wird bis zur Einzelhandelsstufe, diese eingeschlossen, angewandt."
5 Art. 73 dieser Richtlinie bestimmt:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen."
6 Art. 78 der genannten Richtlinie lautet:
„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:
a) Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;
b) Nebenkosten wie Provisions-, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger fordert.
Die Mitgliedstaaten können als Nebenkosten im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b Kosten ansehen, die Gegenstand einer gesonderten Vereinbarung sind."
Rumänisches Recht
7 Art. 1251 („Bedeutung bestimmter Begriffe und Ausdrücke") in Titel VI („Mehrwertsteuer") des Gesetzes Nr. 571/2003 über den Cod fiscal (Steuergesetzbuch) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Cod fiscal) bestimmt:
„(1) Im Sinne dieses Titels haben die nachfolgenden Begriffe und Ausdrücke die folgende Bedeutung: ...
5. Bemessungsgrundlage: Gegenwert der steuerbaren Lieferung von Gegenständen oder der steuerbaren Erbringung von Dienstleistungen, einer steuerbaren Einfuhr oder eines steuerbaren innergemeinschaftlichen Erwerbs; sie wird gemäß Kapitel VII bestimmt; ..."
8 Art. 137 („Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen im Inland") des Cod fiscal sieht vor:
„(1) Die Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer besteht:
a) bei der Lieferung von Gegenständen und der Erbringung von Dienstleistungen ... aus der gesamten Gegenleistung, die der Lieferer oder Leistungserbringer vom Käufer, vom Begünstigten oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar an den Preis dieses Umsatzes geknüpften Subventionen; ...
(2) Die Bemessungsgrundlage umfasst:
a) Steuern und Abgaben, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, mit Ausnahme der Mehrwertsteuer;
b) Nebenkosten wie Provisions-, Verpackungs-, Transport- und Versicherungskosten, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer vom Käufer oder Begünstigten fordert. Vom Lieferer der Gegenstände oder vom Dienstleistungserbringer dem Käufer in Rechnung gestellte Kosten, die Gegenstand eines separaten Vertrags sind und mit der fraglichen Lieferung von Gegenständen oder der Erbringung von Dienstleistungen in Zusammenhang stehen, gelten als Nebenkosten."
9 Der Cod civil (Zivilgesetzbuch) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung bestimmt:
„Art. 962
Vertragsgegenstand ist das, wozu sich die Parteien oder auch nur eine der Parteien verpflichtet hat. ...
Art. 969
Gesetzeskonforme Verträge haben zwischen den Vertragsparteien Gesetzeskraft. Sie können im gegenseitigen Einvernehmen oder aus den im Gesetz vorgesehenen Gründen aufgehoben werden.
Art. 970
Verträge sind nach Treu und Glauben auszuführen. Sie verpflichten nicht nur zu dem, was ausdrücklich in ihnen vereinbart ist, sondern zu allem Weiteren, wozu die Gerechtigkeit, die Verkehrssitte oder das Gesetz entsprechend dem Wesen des jeweiligen Vertrags verpflichtet."
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 Frau Tulicǎ und Herr Plavoşin schlossen zahlreiche Immobilienkaufverträge, nämlich 134 Verträge in den Jahren 2007 und 2008 bzw. 15 Verträge in den Jahren 2007 bis 2009.
11 Weder Frau Tulicǎ noch Herr Plavoşin trafen bei Abschluss dieser Kaufverträge irgendeine Regelung hinsichtlich der Mehrwertsteuer.
12 Nachdem die genannten Umsätze getätigt worden waren, stellte die Steuerbehörde aufgrund von Steuerprüfungen fest, dass die von Frau Tulicǎ und Herrn Plavoşin ausgeführte Tätigkeit die Merkmale einer wirtschaftlichen Tätigkeit aufweise.
13 Die Steuerbehörde stufte Frau Tulicǎ und Herrn Plavoşin daher von Amts wegen als mehrwertsteuerpflichtige Personen ein und erließ gegen die Betroffenen Steuerbescheide, mit denen sie die Zahlung von Mehrwertsteuer verlangte, die zum einen in der Weise berechnet worden war, dass ihr Betrag auf den zwischen den Vertragsparteien vereinbarten Preis aufgeschlagen wurde, und die zum anderen um einen Säumniszuschlag erhöht worden war.
14 In dem der Rechtssache C-249/12 zugrunde liegenden Verfahren machte Frau Tulicǎ geltend, dass das Vorgehen der Steuerbehörde, die Mehrwertsteuer in der Weise zu berechnen, dass deren Betrag auf den zwischen den Vertragsparteien vereinbarten Preis aufgeschlagen werde, mehrere Rechtsgrundsätze, darunter den Grundsatz der Vertragsfreiheit, verletze. Die Mehrwertsteuer sei Bestandteil des Preises und nicht ein Element, das auf diesen aufgeschlagen werde. Es sei keinesfalls offensichtlich, dass der Erwerber die betreffende Immobilie unter den von der Steuerbehörde vorgesehenen Bedingungen käuflich erworben hätte. Die von Letzterer beanspruchte Mehrwertsteuer könne nicht vom Erwerber wiedererlangt werden, da sie über den Vertragsgegenstand hinausgehe und ihm weder als vertragliche noch als gesetzliche außervertragliche Pflicht entgegengehalten werden könne.
15 Die Steuerverwaltung vertritt unter Berufung auf Art. 137 des Cod fiscal die Ansicht, dass der von den Vertragsparteien vereinbarte Preis als Berechnungsgrundlage für die geschuldete Mehrwertsteuer heranzuziehen sei.
16 Frau Tulică erhob Klage bei der Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest), die diese als unbegründet abwies.
17 Gegen das Urteil der Curte de Apel Bucureşti legte Frau Tulică bei der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) ein Rechtsmittel ein.
18 Im Rahmen dieses Rechtsmittels wiederholte Frau Tulică u. a. ihr Vorbringen, dass die Bestimmung der Bemessungsgrundlage fehlerhaft sei. Hierfür berief sie sich auf die Randnrn. 26 und 27 des Urteils vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, Slg. 1996, I-5339).
19 Während des Verfahrens vor der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie wurde die Auslegungsentscheidung Nr. 2 der Comisia fiscală centrală (Zentrale Steuerkommission) vom 12. April 2011 im Monitorul Oficial al României Nr. 278 vom 20. April 2011 veröffentlicht (im Folgenden: Auslegungsentscheidung Nr. 2/2011). Diese Entscheidung war von der genannten Kommission in Ausübung der ihr übertragenen Aufgaben zur Vereinheitlichung der steuerrechtlichen Vorschriften erlassen worden. Sie bestätigt die Betrachtungsweise der Steuerbehörde, was die Bestimmung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer betrifft. In dieser Entscheidung heißt es:
„... die Mehrwertsteuer [bestimmt sich] für die steuerbare Lieferung von Bauwerken und von Grundstücken nach dem Willen der Parteien, wie er sich aus Verträgen oder anderen gemäß der Ordonanţa Guvernului [Regierungsverordnung] Nr. 92/2003 ... vorgelegten Beweisen ergibt ...
a) durch Anwendung des Mehrwertsteuersatzes auf den Gegenwert der Lieferung ..., wenn:
1. die Parteien vereinbart haben, dass die Mehrwertsteuer nicht im Gegenwert der Lieferung enthalten ist oder
2. die Parteien hinsichtlich der Mehrwertsteuer keine Vereinbarung getroffen haben;
b) durch Anwendung des Verfahrens zur Berechnung der Mehrwertsteuer aus einem Bruttobetrag ..., wenn die Parteien vereinbart haben, dass die Mehrwertsteuer im Gegenwert der Lieferung enthalten ist."
20 In dem der Rechtssache C-250/12 zugrunde liegenden Verfahren machte Herr Plavoşin geltend, dass durch den Aufschlag der Mehrwertsteuer auf den als Gegenleistung für den Verkauf gezahlten Betrag gegen den zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag verstoßen werde und Wirkungen erzeugt würden, die dem Zweck der Mehrwertsteuer entgegenliefen. Mit dieser Steuer dürfe nicht der Lieferer belastet werden, da sie ihrem Wesen nach eine Verbrauchsteuer sei, die vom Endverbraucher getragen werden müsse.
21 Enthalte der Kaufvertrag keinerlei Hinweis auf die Mehrwertsteuer, müsse die geschuldete Steuer nach einem Betrag bestimmt werden, der dem von den Parteien vereinbarten Preis abzüglich des Gesamtbetrags der Steuer entspreche, so dass der vom Erwerber gezahlte Betrag sowohl den dem Lieferer geschuldeten Preis als auch die Mehrwertsteuer umfasse.
22 Die Steuerbehörde beruft sich auf die Auslegungsentscheidung Nr. 2/2011, die ihre Betrachtungsweise hinsichtlich der Berechnung der anwendbaren Mehrwertsteuer bestätige.
23 Herr Plavoşin erhob Klage bei der Curte de Apel Timişoara (Berufungsgericht Temeschwar), die diese abwies.
24 Daraufhin legte Herr Plavoşin gegen das Urteil der Curte de Apel Timişoara ein Rechtsmittel bei der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie ein.
25 Die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie hat Zweifel an der Richtigkeit der Auslegungsentscheidung Nr. 2/2011, was den Begriff „erhaltene Gegenleistung" und die Tragweite der Art. 73 und 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, wenn die Vertragsparteien bei einem Verkauf keinerlei Regelung hinsichtlich der Mehrwertsteuer getroffen haben. Sie hat daher beschlossen, die Verfahren auszusetzen und in beiden bei ihr anhängigen Rechtssachen dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Art. 73 und 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie in dem Fall, in dem die Eigenschaft des Lieferers als mehrwertsteuerpflichtige Person neu bewertet wird und die Gegenleistung (Preis) für die Lieferung eines unbeweglichen Gegenstands von den Parteien ohne jeglichen Hinweis auf die Mehrwertsteuer festgelegt wurde, dahin auszulegen, dass die Steuerbemessungsgrundlage
a) in der von den Parteien festgelegten Gegenleistung (Preis) für die Lieferung des Gegenstands abzüglich des Mehrwertsteuersatzes besteht, oder dahin, dass sie
b) in der von den Parteien festgelegten Gegenleistung (Preis) für die Lieferung des Gegenstands besteht?
26 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Juni 2012 sind die Rechtssachen C-249/12 und C-250/12 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zur Vorlagefrage
27 Das vorlegende Gericht möchte im Hinblick auf die Art. 73 und 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Wesentlichen wissen, ob, wenn der Preis eines Gegenstands von den Vertragsparteien ohne jeglichen Hinweis auf die Mehrwertsteuer festgelegt wurde und der Lieferer dieses Gegenstands für den besteuerten Umsatz Steuerschuldner der Mehrwertsteuer ist, der vereinbarte Preis als ein Preis anzusehen ist, der die Mehrwertsteuer bereits enthält, oder als ein Preis ohne Mehrwertsteuer, der um diese noch zu erhöhen ist.
28 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren, Lieferer von unbeweglichen Gegenständen, Steuerschuldner der für die von ihnen durchgeführten steuerbaren Umsätze geschuldeten Mehrwertsteuer sind. Diesen Akten ist auch zu entnehmen, dass die Parteien der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge bei der Festlegung des Preises der unbeweglichen Gegenstände, die den Kaufgegenstand darstellen, keinerlei Regelung in Bezug auf die Mehrwertsteuer getroffen haben. Dagegen übermittelte das vorlegende Gericht keine Informationen zu der Frage, ob diese Lieferer nach nationalem Recht die Möglichkeit haben, bei den Erwerbern zusätzlich zum vereinbarten Preis die von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer wiederzuerlangen.
29 Frau Tulicǎ und Herr Plavoşin sowie die Europäische Kommission sind im Wesentlichen der Ansicht, dass die Mehrwertsteuer ihrem Wesen nach eine Verbrauchsteuer sei, die vom Endverbraucher getragen werden müsse und die deshalb nicht dem Lieferer aufgebürdet werden dürfe. Die Mehrwertsteuer müsse deshalb Bestandteil des Preises sein und nicht ein Element, das auf diesen aufgeschlagen werde.
30 Die rumänische Regierung ist im Wesentlichen der Meinung, dass zur Bestimmung der vom Lieferer erhaltenen Gegenleistung, die einen subjektiven Wert habe, auf den Willen der Vertragsparteien abzustellen und davon auszugehen sei, dass diese Gegenleistung aus dem Betrag bestehe, den der Lieferer habe erhalten wollen und den der Erwerber zu zahlen bereit gewesen sei. Dieser Betrag entspreche im vorliegenden Fall dem im Vertrag festgelegten Preis ohne Abzug der Mehrwertsteuer.
31 Außerdem hätte der Lieferer, wenn entschieden würde, dass die Gegenleistung aus dem um den Mehrwertsteuerbetrag verminderten Preis des gelieferten Gegenstands bestehe, einen Vorteil gegenüber seinen Wettbewerbern, was dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer widerspräche und Unregelmäßigkeiten, wie sie die in den Ausgangsverfahren betroffenen Lieferer begangenen hätten, begünstigen könnte.
32 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, dass der Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darin besteht, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen eine allgemeine, zu deren Preis genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist und dass die Steuerbemessungsgrundlage alles umfasst, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer des Gegenstands oder der Erbringer der Dienstleistung für die betreffenden Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll. Art. 78 der Richtlinie führt bestimmte Elemente auf, die in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen sind. Nach Art. 78 Buchst. a der Richtlinie ist die Mehrwertsteuer in diese Bemessungsgrundlage nicht einzubeziehen.
33 Nach der in Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten allgemeinen Regel ist die Besteuerungsgrundlage für die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Entgelt die vom Steuerpflichtigen tatsächlich dafür erhaltene Gegenleistung. Diese Gegenleistung stellt den subjektiven, nämlich tatsächlich erhaltenen Wert und nicht einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert dar (vgl. u. a. Urteile vom 5. Februar 1981, Coöperatieve Aardappelenbewaarplaats, 154/80, Slg. 1981, 445, Randnr. 13, und vom 26. April 2012, Balkan and Sea Properties und Provadinvest, C-621/10 und C-129/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 43).
34 Diese Regel ist in Übereinstimmung mit dem Grundprinzip der Mehrwertsteuerrichtlinie anzuwenden, nach dem nur der Endverbraucher durch das Mehrwertsteuersystem belastet werden soll (vgl. u. a. Urteil Elida Gibbs, Randnr. 19, und Beschluss vom 9. Dezember 2011, Connoisseur Belgium, C-69/11, Randnr. 21).
35 Wenn jedoch ein Kaufvertrag ohne Hinweis auf die Mehrwertsteuer abgeschlossen wurde und der Lieferer nach nationalem Recht die später von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber nicht wiedererlangen kann, hätte die Berücksichtigung des Gesamtpreises ohne Abzug der Mehrwertsteuer als Grundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer zur Folge, dass die Mehrwertsteuer diesen Lieferer belasten würde, und verstieße somit gegen den Grundsatz, dass es sich bei der Mehrwertsteuer um eine Verbrauchsteuer handelt, die vom Endverbraucher zu tragen ist.
36 Eine solche Berücksichtigung verstieße außerdem gegen die Regel, wonach die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen Betrag erheben darf, der den dem Steuerpflichtigen gezahlten übersteigt (vgl. u. a. Urteile Elida Gibbs, Randnr. 24, vom 3. Juli 1997, Goldsmiths, C-330/95, Slg. 1997, I-3801, Randnr. 15, sowie Balkan and Sea Properties und Provadinvest, Randnr. 44).
37 Etwas anderes gälte hingegen dann, wenn der Lieferer nach nationalem Recht die Möglichkeit hätte, zum vereinbarten Preis einen Zuschlag entsprechend der auf den Umsatz zu erhebenden Steuer hinzufügen und diesen vom Erwerber des Gegenstands einzufordern.
38 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es eines der wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer ist, dass sie genau proportional zum Preis der betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen ist. Das bedeutet, dass alle Lieferer, bezogen auf den für die verkauften Gegenstände erhaltenen Gesamtbetrag, im selben Verhältnis zur Zahlung der Mehrwertsteuer beitragen.
39 Im vorliegenden Fall ist es Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob für den Lieferer nach rumänischem Recht die Möglichkeit besteht, von den Erwerbern die später von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer wiederzuerlangen.
40 Sollte diese Prüfung ergeben, dass eine entsprechende Wiedererlangung nicht möglich ist, wäre festzustellen, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie einer Regel wie der in der Auslegungsentscheidung Nr. 2/2011 angeführten entgegensteht.
41 Soweit die rumänische Regierung vorträgt, dass eine Regel wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende bewirke, dass von der Begehung von Unregelmäßigkeiten abgehalten werde, ist festzustellen, dass jeder Mitgliedstaat befugt ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen, und verpflichtet ist, solche Vorschriften zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Diese Maßnahmen dürfen aber nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport, C-284/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung). Genau dies wäre aber bei der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regel der Fall, sollte sich erweisen, dass diese zu einer Situation führen würde, bei der die Mehrwertsteuer den Lieferer belastet und daher nicht in einer Weise erhoben wird, die mit dem oben in Randnr. 34 genannten Grundprinzip des Mehrwertsteuersystems vereinbar wäre.
43 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere ihre Art. 73 und 78, dahin auszulegen ist, dass, wenn der Preis eines Gegenstands von den Vertragsparteien ohne jeglichen Hinweis auf die Mehrwertsteuer festgelegt wurde und der Lieferer dieses Gegenstands für den besteuerten Umsatz Steuerschuldner der Mehrwertsteuer ist, der vereinbarte Preis in dem Fall, dass der Lieferer nicht die Möglichkeit hat, die von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber wiederzuerlangen, so anzusehen ist, dass er die Mehrwertsteuer bereits enthält.