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Steuerrecht
01.10.2024
Steuerrecht
EuGH: Entsendung von Arbeitnehmern – steuerliche und soziale Vergünstigungen für Arbeitnehmer und Bauunternehmen – Befreiung von der Einkommensteuer – Befreiung von Krankenversicherungsbeiträgen (Rumänisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 26.9.2024 – C-387/22; Nord Vest Pro Sani Pro SRL gegen Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Satu Mare, Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca

ECLI:EU:C:2024:786

Volltext BB-Online BBL2024-2325-1

Tenor

Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmen des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben und sich in einer vergleichbaren Situation wie die Unternehmen des Bausektors befinden, deren Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten entsandt werden, sofern diese nationale Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass ihre Anwendung geeignet sein muss, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und sie nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 26 und 56 AEUV sowie von Art. 20 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nord Vest Pro Sani Pro SRL (im Folgenden: Nord Vest Pro) auf der einen Seite und der Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Satu Mare (Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Satu Mare, Rumänien) sowie der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj-Napoca [Klausenburg], Rumänien) (im Folgenden: Finanzbehörden) auf der anderen Seite über die Weigerung der Finanzbehörden, den Beschäftigten des Bausektors, die ihre Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten ausüben, die steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zuzuerkennen, die den im rumänischen Hoheitsgebiet tätigen Beschäftigten dieses Sektors gewährt werden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2006/123

3          Nach Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 gilt diese Richtlinie nicht für den Bereich der Steuern.

4          Art. 20 („Nichtdiskriminierung“) der Richtlinie 2006/123 bestimmt:

„(1)       Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass dem Dienstleistungsempfänger keine diskriminierenden Anforderungen auferlegt werden, die auf dessen Staatsangehörigkeit oder Wohnsitz beruhen.

(2)        Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die allgemeinen Bedingungen für den Zugang zu einer Dienstleistung, die der Dienstleistungserbringer bekannt gemacht hat, keine auf der Staatsangehörigkeit oder dem Wohnsitz des Dienstleistungsempfängers beruhenden diskriminierenden Bestimmungen enthalten; dies berührt jedoch nicht die Möglichkeit, Unterschiede bei den Zugangsbedingungen vorzusehen, die unmittelbar durch objektive Kriterien gerechtfertigt sind.“

Richtlinie 96/71/EG

5          Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) bestimmt:

„(1)       Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer gemäß Absatz 3 in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden.

(3)        Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden länderübergreifenden Maßnahmen treffen:

a)         einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht, …

…“

Verordnung Nr. 883/2004

6          In Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) heißt es:

„Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.“

Rumänisches Recht

Steuergesetzbuch

7          Art. 60 der Legea nr. 227/2015 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 227/2015 über das Steuergesetzbuch) vom 8. September 2015 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 688 vom 10. September 2015) in der später geänderten und ergänzten Fassung (im Folgenden: Steuergesetzbuch) bestimmt:

„Die folgenden Steuerpflichtigen sind von der Einkommensteuer befreit:

5.         im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis einschließlich 31. Dezember 2028 natürliche Personen für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit und diesen gleichgestellte Einkünfte gemäß Art. 76 Abs. 1 bis 3, bei denen folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

a)         Die Arbeitgeber üben im Bausektor … Tätigkeiten aus …

b)         die Arbeitgeber erzielen mit den unter Buchst. a genannten Tätigkeiten und anderen bauspezifischen Tätigkeiten einen Umsatz von mindestens 80 % ihres Gesamtumsatzes. …

c)         das monatliche Bruttoeinkommen aus den in Art. 76 Abs. 1 bis 3 genannten Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellten Einkünften natürlicher Personen, für die die Steuerbefreiung gilt, wird auf der Grundlage eines Bruttolohns von mindestens 3 000 [rumänische Lei (RON) (etwa 610 Euro)] pro Monat bei acht Arbeitsstunden pro Tag berechnet. Die Befreiung gilt für monatliche Bruttoeinkommen bis zu 30 000 [RON], die aus den in Art. 76 Abs. 1 bis 3 genannten Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellten Einkünften natürlicher Personen stammen. Für den Teil des monatlichen Bruttoeinkommens, der 30 000 [RON] übersteigt, werden keine Steuervergünstigungen gewährt;

…“

8          Art. 78 des Steuergesetzbuchs sieht vor:

„(1)       Die Bezieher von Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit schulden eine – endgültige – monatliche Steuer, die von den Personen, die diese Einkünfte ausbezahlen, berechnet und einbehalten wird.

(2)        Die monatliche Steuer nach Abs. 1 wird wie folgt festgesetzt:

a)         am gewöhnlichen Arbeitsort durch Anwendung eines Satzes von 10 % auf die errechnete Differenz zwischen dem Nettoeinkommen, das durch Abzug der nach rumänischem Recht oder nach internationalen Rechtsinstrumenten, deren Vertragspartei Rumänien ist, für einen Monat geschuldeten Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung berechnet wird, sowie gegebenenfalls dem gesetzlich geschuldeten individuellen Beitrag zum Staatshaushalt und folgenden Positionen:

(i)         dem für den betreffenden Monat gewährten persönlichen Freibetrag;

(ii)        dem in dem betreffenden Monat gemäß dem Gesetz entrichteten Gewerkschaftsbeitrag;

(iii)        den Beiträgen zu Rentensparplänen …

(iv)       den Prämien für die Zusatzkrankenversicherung sowie regelmäßig bezogene medizinische Leistungen, deren Kosten von den Beschäftigten zu tragen sind;

…“

9          Art. 80 Abs. 1 des Steuergesetzbuchs lautet:

„Personen, die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte ausbezahlen, sind verpflichtet, die Einkommensteuer für jeden Monat zum Zeitpunkt der Auszahlung dieser Einkünfte zu berechnen und einzubehalten und sie spätestens am 25. des Monats, der auf den Monat folgt, für den diese Einkünfte ausgezahlt werden, an den Staatshaushalt abzuführen.“

10        In Art. 138 Buchst. a des Steuergesetzbuchs heißt es:

„Für die Beiträge zur Sozialversicherung gelten folgende Sätze:

25 % für natürliche Personen, die Arbeitnehmer sind oder nach diesem Gesetz sozialversicherungspflichtig sind“.

11        Art. 138Abs. 1 des Steuergesetzbuchs lautet:

„Im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2028 wird der in Art. 138 Buchst. a vorgesehene Beitragssatz für natürliche Personen, die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte aufgrund von Verträgen mit Arbeitgebern beziehen, die im Bausektor tätig sind und die Voraussetzungen von Art. 60 Nr. 5 erfüllen, um 3,75 Prozentpunkte herabgesetzt.“

12        Art. 139 Abs. 1 Buchst. a des Steuergesetzbuchs bestimmt:

„Bei natürlichen Personen, die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte beziehen, ist die Berechnungsgrundlage für den monatlichen Beitrag zur Sozialversicherung das Bruttoeinkommen aus Löhnen und diesen gleichgestellten Einkünften, das im In- und Ausland gemäß den einschlägigen europäischen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit sowie gemäß den Abkommen über Systeme der sozialen Sicherheit, deren Vertragspartei Rumänien ist, erzielt wird, wobei diese Berechnungsgrundlage Folgendes umfasst:

a)         die Einkünfte aus Bar- und/oder Sachleistungen, die im Rahmen eines Arbeitsvertrags, eines Arbeitsverhältnisses oder eines besonderen gesetzlich vorgesehenen Status erzielt werden. …“

13        Art. 146 Abs. 1 des Steuergesetzbuchs lautet:

„Natürliche und juristische Personen, die Arbeitgeber oder ihnen gleichgestellte Personen sind, sind verpflichtet, die Sozialversicherungsbeiträge für natürliche Personen, die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte beziehen, zu berechnen und einzubehalten. Die in Art. 136 Buchst. d bis f genannten Einrichtungen sowie die natürlichen und juristischen Personen, die Arbeitgeber oder ihnen gleichgestellte Personen sind, sind verpflichtet, die von ihnen gegebenenfalls geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge zu berechnen.“

14        In Art. 154 Abs. 1 Buchst. r des Steuergesetzbuchs heißt es:

„Folgende Gruppen natürlicher Personen sind von der Entrichtung von Krankenversicherungsbeiträgen befreit:

r)          natürliche Personen für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit und diesen gleichgestellte Einkünfte auf der Grundlage von Arbeitsverträgen, die mit im Bausektor tätigen Arbeitgebern geschlossen wurden und die Voraussetzungen des Art. 60 Nr. 5 im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis einschließlich 31. Dezember 2028 erfüllen“.

15        In Art. 156 des Steuergesetzbuchs heißt es:

„Der Beitragssatz zur Krankenversicherung, den natürliche Personen zu entrichten haben, die nach diesem Gesetz als Arbeitnehmer beschäftigt sind oder Krankenversicherungsbeiträge zu entrichten haben, beträgt 10 %.“

16        Art. 168 Abs. 1 des Steuergesetzbuchs bestimmt:

„Natürliche und juristische Personen, die Arbeitgeber oder ihnen gleichgestellte Personen sind, sind verpflichtet, den Krankenversicherungsbeitrag für natürliche Personen, die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte beziehen, zu berechnen und einzubehalten.“

Erlass Nr. 611/2019 und Erlass Nr. 2165/2019

17        Ordinul nr. 611/138/127/2019 pentru aprobarea modelului, conținutului, modalității de depunere și de gestionare a „Declarației privind obligațiile de plată a contribuțiilor sociale, impozitului pe venit și evidența nominală a persoanelor asigurate“ (Erlass Nr. 611/138/127/2019 zur Genehmigung des Musters, des Inhalts, der Modalitäten der Einreichung und Verwendung der „Erklärung über die Verpflichtungen zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die Einkommensteuer und das Versichertenverzeichnis“) vom 31. Januar und 1. Februar 2019 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 123 vom 15. Februar 2019, im Folgenden: Erlass Nr. 611/2019) und Ordinul nr. 2165/837/743/2019 pentru aprobarea modelului, conținutului, modalității de depunere și de gestionare a formularului 112 „Declarație privind obligațiile de plată a contribuțiilor sociale, impozitului pe venit și evidența nominală a persoanelor asigurate“ (Erlass Nr. 2165/837/743/2019 zur Genehmigung des Musters, des Inhalts und der Modalitäten der Einreichung und Verwendung des Formblatts 112 „Erklärung über die Verpflichtungen zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die Einkommensteuer und das Versichertenverzeichnis“) vom 10., 15. und 17. Mai 2019 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 404 vom 23. Mai 2019, im Folgenden: Erlass Nr. 2165/2019) bestimmen in Anhang 6 Abs. 8:

„Die in Art. 60 Abs. 5, Art. 1381, Art. 154 Abs. 1 Buchst. r und Art. 220Abs. 2 des Steuergesetzbuchs vorgesehenen Steuervergünstigungen werden nicht für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte entsandter Arbeitnehmer gewährt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

18        Nord Vest Pro ist eine Gesellschaft rumänischen Rechts, die im Bausektor tätig ist. Im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit erbringt sie u. a. Dienstleistungen in Deutschland und Österreich, indem sie Arbeitnehmer zur Ausführung von Bauarbeiten im Hoheitsgebiet dieser beiden Mitgliedstaaten entsendet.

19        Nachdem die Finanzbehörden bei dieser Gesellschaft eine Prüfung durchgeführt hatten, wurde am 10. Mai 2021 ein Steuerbescheid erlassen. Den Finanzbehörden zufolge war die Gesellschaft zu Unrecht davon ausgegangen, dass ihre Beschäftigten, die in Deutschland und Österreich Bauarbeiten ausführten, in den Genuss der in Art. 60 Nr. 5 Steuergesetzbuch vorgesehenen Befreiung von der Einkommensteuer kämen. Nach Art. 78 Abs. 2 Buchst. a des Steuergesetzbuchs betrage der auf diese Beschäftigten anwendbare Steuersatz 10 % des Einkommens. Außerdem habe Nord Vest Pro zu Unrecht angenommen, dass die Herabsetzung des Beitragssatzes zur Sozialversicherung bzw. die Befreiung von der Entrichtung der Krankenversicherungsbeiträge nach Art. 1381 bzw. Art. 154 Abs. 1 Buchst. r des Sozialgesetzbuchs auf ins Ausland entsandte Beschäftigte anwendbar seien, obwohl für diese Kategorie von Beschäftigten die in Art. 138 Buchst. a und Art. 156 des Steuergesetzbuchs vorgesehenen Sätze gälten, nämlich ein Beitragssatz zur Sozialversicherung in Höhe von 25 % und ein Beitragssatz zur Krankenversicherung in Höhe von 10 %.

20        Infolgedessen wurden mit dem Steuerbescheid finanzielle Berichtigungen für die Einkommensteuer und die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Beiträge in einer Gesamthöhe von 331 906 RON (etwa 67 255 Euro) festgesetzt.

21        Der von Nord Vest Pro gegen diesen Steuerbescheid eingelegte Einspruch wurde von der regionalen Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj-Napoca mit Bescheid vom 18. Oktober 2021 zurückgewiesen.

22        Gegen diesen ablehnenden Bescheid erhob die Gesellschaft Klage beim vorlegenden Gericht, dem Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare, Rumänien).

23        Dieses Gericht weist darauf hin, dass die Finanzbehörden den Steuerbescheid gemäß Art. 60 Nr. 5 des Steuergesetzbuchs in Verbindung mit den Erlassen Nrn. 611/2019 und 2165/2019 erlassen hätten, aus denen sich ergebe, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergünstigungen nicht für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit sowie diesen gleichgestellte Einkünfte gewährt würden, die von entsandten Beschäftigten bezogen würden. Außerdem seien die finanziellen Berichtigungen aufgrund des Erlasses der Ordonanță de urgență a Guvernului nr. 114/2018 privind instituirea unor măsuri în domeniul investițiilor publice și a unor măsuri fiscal-bugetare, modificarea și completarea unor acte normative și prorogarea unor termene (Dringlichkeitsverordnung Nr. 114/2018 der Regierung über den Erlass bestimmter Maßnahmen im Bereich öffentlicher Investitionen und bestimmter steuerlicher und haushaltspolitischer Maßnahmen, zur Änderung und Ergänzung bestimmter Rechtsakte und zur Verlängerung bestimmter Fristen) vom 28. Dezember 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1116 vom 29. Dezember 2018) notwendig geworden, deren Ziel, wie aus ihrer Begründung hervorgehe, im Wesentlichen darin bestanden habe, den Bausektor in Rumänien dadurch zu unterstützen, dass den im rumänischen Hoheitsgebiet tätigen Beschäftigten dieses Sektors bestimmte Vergünstigungen gewährt würden.

24        Indem er die Vergünstigungen auf diese Beschäftigten beschränkt habe, habe der rumänische Gesetzgeber den in Rumänien tätigen Unternehmen des Bausektors eine günstigere steuerliche Behandlung gewährt als Unternehmen, die im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten tätig seien. Dieser gesetzgeberische Ansatz stehe jedoch im Widerspruch zur Schaffung eines Binnenmarkts und damit zu einem der Hauptziele der Europäischen Union. Denn durch eine solche steuerliche Behandlung würden Unternehmen des Bausektors, die ihre Tätigkeiten außerhalb des rumänischen Hoheitsgebiets ausübten, höher besteuert werden als die im nationalen Hoheitsgebiet tätigen Unternehmen und dadurch davon abgebracht werden, Bauleistungen außerhalb Rumäniens zu erbringen, was de facto ein wesentliches Hindernis für die Vollendung des Binnenmarkts bilde.

25        Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Art. 26 und 56 AEUV sowie Art. 20 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der rumänische Gesetzgeber rumänische Unternehmen, die im rumänischen Hoheitsgebiet gewinnorientierte Tätigkeiten ausüben, und rumänische Unternehmen, die solche Tätigkeiten im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten der Union ausüben, steuerlich unterschiedlich behandelt, so dass die Klägerin, die ihre Dienstleistungen hauptsächlich im Hoheitsgebiet der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland erbracht hat, nicht in den Genuss der Steuerbefreiungen kommt, die andere Unternehmen des Bausektors, die ihre Tätigkeit im Hoheitsgebiet des rumänischen Staates ausüben, erhalten?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

26        Die rumänische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da das vorlegende Gericht Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs missachtet habe, da es die Gründe, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung der Art. 26 und 56 AEUV sowie von Art. 20 der Richtlinie 2006/123 habe, den Zusammenhang zwischen diesen Vorschriften und der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung sowie die Konsequenzen, die es aus der gewünschten Auslegung dieser Vorschriften für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zu ziehen beabsichtige, nicht erläutert habe.

27        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten die Notwendigkeit, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, erforderlich macht, dass dieses Gericht die Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens, die in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, von dem das vorlegende Gericht Kenntnis haben sollte, ausdrücklich aufgeführt sind, genauestens einhält (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C-561/19, EU:C:2021:799, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung). Auf diese Anforderungen wird im Übrigen in den Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) hingewiesen.

28        So ist es nach Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung unerlässlich, dass die Vorlageentscheidung eine Darstellung der Gründe enthält, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang angibt, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C-561/19, EU:C:2021:799, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht, soweit sich die Vorlagefrage auf Art. 20 der Richtlinie 2006/123 bezieht, keine Angaben gemacht, weshalb es diese Vorschrift genannt hat, so dass dem Gerichtshof entgegen den Anforderungen von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung weder die Gründe bekannt sind, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung dieser Vorschrift hat, noch der Zusammenhang, den es zwischen ihr und der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung herstellt. Folglich ist die Vorlagefrage insoweit unzulässig.

30        In Bezug auf die Art. 26 und 56 AEUV ist das vorlegende Gericht hingegen der Ansicht, dass die außerhalb des rumänischen Hoheitsgebiets tätigen Unternehmen des Bausektors weniger günstig behandelt worden seien als die im Inland tätigen Unternehmen und deswegen davon abgebracht worden seien, Bauleistungen außerhalb Rumäniens zu erbringen. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Vorlageentscheidung eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung dieser Vorschriften hat, und den Zusammenhang enthält, den es im spezifischen Rahmen des Ausgangsverfahrens zwischen diesen Vorschriften und der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung herstellt. Daher ist das Vorabentscheidungsersuchen insoweit als zulässig zu erachten und in der Sache zu beantworten.

Zur Vorlagefrage

31        Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 26 und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmen des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben.

32        Vorab ist zum einen festzustellen, dass, soweit sich die Vorlagefrage auf Art. 26 AEUV bezieht, diese Vorschrift als eigenständige Grundlage nur auf unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen angewandt werden kann, für die der Vertrag keine besonderen Vorschriften vorsieht. Da diese Vorschrift vorsieht, dass der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem u. a. die Arbeitnehmerfreizügigkeit und der freie Verkehr von Dienstleistungen gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet sind und diese Freiheiten durch die Art. 45 und 56 AEUV umgesetzt worden sind, bedarf es keiner Auslegung von Art. 26 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. März 2020, Tesco-Global Áruházak, C-323/18, EU:C:2020:140, Rn. 55 und 56 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 16. Dezember 2021, Prefettura di Massa Carrara, C-274/20, EU:C:2021:1022, Rn. 22).

33        Was zum anderen die Zweifel der Europäischen Kommission an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit den Vorschriften über staatliche Beihilfen betrifft, genügt die Feststellung, dass über diese nicht entschieden zu werden braucht, da dieser von der Kommission aufgeworfene Aspekt im vorliegenden Fall nicht Gegenstand der Vorlagefrage ist.

34        Nach ständiger Rechtsprechung ist es nämlich ausschließlich Sache des nationalen Gerichts, den Gegenstand der Fragen zu bestimmen, die es dem Gerichtshof vorlegen will. Wenn das Ersuchen selbst keine Notwendigkeit einer solchen Umformulierung erkennen lässt, ist es dem Gerichtshof daher verwehrt, auf Anregung eines der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten Fragen zu prüfen, die ihm das innerstaatliche Gericht nicht vorgelegt hat. Sollte dieses im weiteren Verlauf des Verfahrens die Klärung weiterer Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts für erforderlich halten, kann es den Gerichtshof erneut anrufen (Urteil vom 19. Dezember 2019, Airbnb Ireland, C-390/18, EU:C:2019:1112, Rn. 37).

35        Was Art. 56 AEUV betrifft, auf den sich die Vorlagefrage bezieht, ergibt sich keine Notwendigkeit einer Umformulierung des Vorabentscheidungsersuchens. Dieses Ersuchen bezieht sich nämlich auf eine Situation, in der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Gesellschaft „für Beschäftigte, die in Deutschland und Österreich Dienstleistungen erbringen“, nicht in den Genuss der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen kam.

36        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung über den vorübergehenden Ortswechsel von Arbeitnehmern, die in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, um dort im Rahmen von Dienstleistungen ihres Arbeitgebers Bauarbeiten auszuführen, und nach Erfüllung ihrer Aufgabe in ihr Herkunftsland zurückkehren, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats aufzutreten, in den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs fällt (Urteile vom 27. März 1990, Rush Portuguesa, C-113/89, EU:C:1990:142, Rn. 15, vom 9. August 1994, Vander Elst, C-43/93, EU:C:1994:310, Rn. 21, vom 25. Oktober 2001, Finalarte u. a., C-49/98, C-50/98, C-52/98 bis C-54/98 und C-68/98 bis C-71/98, EU:C:2001:564, Rn. 22 und 23, und vom 3. April 2008, Rüffert, C-346/06, EU:C:2008:189, Rn. 37).

37        Daraus folgt, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen allein im Licht von Art. 56 AEUV zu prüfen ist.

Zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs

38        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse im Bereich der direkten Steuern unter Wahrung des Unionsrechts und insbesondere der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ausüben müssen (Urteil vom 27. April 2023, L Fund, C-537/20, EU:C:2023:339, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39        Art. 56 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb nur eines Mitgliedstaats erschwert (Urteil vom 18. Oktober 2012, X, C-498/10, EU:C:2012:635, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40        Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs sind solche nationalen Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteil vom 18. Oktober 2012, X, C-498/10, EU:C:2012:635, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die Finanzbehörden die in Art. 60 Nr. 5, Art. 1381 und Art. 154 Abs. 1 Buchst. r des Steuergesetzbuchs vorgesehenen Vergünstigungen in Bezug auf die in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich entsandten Beschäftigten der Klägerin des Ausgangsverfahrens im Einklang mit den anwendbaren Rechtsvorschriften versagt haben, während diese Vergünstigungen den im rumänischen Hoheitsgebiet tätigen Beschäftigten gewährt werden. Diese Vergünstigungen bestehen erstens in der Befreiung dieser Beschäftigten von der Einkommensteuer, zweitens in der Herabsetzung ihrer Sozialversicherungsbeiträge und drittens in der Befreiung von der Entrichtung ihrer Krankenversicherungsbeiträge.

42        Es ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung in nicht diskriminierender Weise auf sämtliche rumänischen und ausländischen Unternehmen des Bausektors anwendbar ist, sofern ihre Beschäftigten ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet Rumäniens ausüben.

43        Allerdings ist eine solche Regelung, mit der ein unterschiedliches Steuer- und Sozialsystem eingeführt wird, je nachdem, ob die betreffenden Beschäftigten ihre Arbeitsaufträge in dem betreffenden Mitgliedstaat oder in anderen Mitgliedstaaten ausführen, geeignet, rumänische Unternehmen davon abzubringen, Bauleistungen in einem anderen Mitgliedstaat durch die Entsendung von Beschäftigten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu erbringen, auch wenn diese Regelung unterschiedslos auf rumänische und ausländische Unternehmen des Bausektors, die im Hoheitsgebiet Rumäniens tätig sind, anwendbar ist.

44        Solche Maßnahmen zugunsten der Beschäftigten sind nämlich, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, auch geeignet, die Arbeitskosten zu senken und damit den Unternehmen, sofern ihre Tätigkeiten im rumänischen Hoheitsgebiet ausgeübt werden, einen Vorteil zu verschaffen, da sie die Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat weniger attraktiv machen.

45        Um festzustellen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung trotz ihrer beschränkenden Wirkung als mit dem freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Art. 56 AEUV vereinbar angesehen werden kann, ist zu prüfen, ob die sich aus ihr ergebende Ungleichbehandlung entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder ob sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Dezember 2021, UBS Real Estate, C-478/19 und C-479/19, EU:C:2021:1015, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zum Vorliegen objektiv vergleichbarer Situationen

46        Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit einer grenzüberschreitenden Situation mit einer mitgliedstaatsinternen Situation sind das mit den in Rede stehenden nationalen Vorschriften verfolgte Ziel sowie ihr Zweck und ihr Inhalt zu berücksichtigen (Urteil vom 16. Dezember 2021, UBS Real Estate, C-478/19 und C-479/19, EU:C:2021:1015, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47        Im Übrigen sind für die Beurteilung, ob die unterschiedliche Behandlung aufgrund einer derartigen Regelung einem objektiven Unterschied der Situationen entspricht, nur die von der betreffenden Regelung aufgestellten maßgeblichen Unterscheidungskriterien zu berücksichtigen (Urteil vom 16. Dezember 2021, UBS Real Estate, C-478/19 und C-479/19, EU:C:2021:1015, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48        Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, dessen Auslegung vorzunehmen, um zu prüfen, ob möglicherweise objektiv vergleichbare Situationen vorliegen.

49        Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen geltend gemacht hat, in Rumänien gegründete Unternehmen, die Bauleistungen in Rumänien erbringen, und in Rumänien gegründete Unternehmen, die Bauleistungen in einem anderen Mitgliedstaat durch die Entsendung von Beschäftigten erbringen, im Hinblick auf den Gegenstand und den Inhalt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung in einer vergleichbaren Situation befinden, da sie die gleichen Tätigkeiten ausüben und, was ihre Verpflichtungen hinsichtlich der Einkommensteuer wie auch hinsichtlich der Kranken- und Sozialversicherungsbeiträge anbelangt, dem rumänischen Recht unterliegen.

50        Bei der Prüfung, ob sich die Situation der Unternehmen des Bausektors, deren Beschäftigte im rumänischen Hoheitsgebiet arbeiten, und diejenige der Unternehmen, die Bauleistungen in anderen Mitgliedstaaten erbringen, voneinander unterscheiden, besteht die Schwierigkeit indessen darin, dass das vorlegende Gericht das mit den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen verfolgte Ziel in keiner Weise darlegt.

51        Womöglich gelangt das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass, wie die rumänische Regierung geltend macht, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung darauf abzielt, den Nettolohn der im Bausektor in Rumänien tätigen Beschäftigten zu erhöhen, um zum sozialen Schutz dieser Beschäftigten beizutragen und so auf den diesen Sektor kennzeichnenden Arbeitskräftemangel, der an der Funktionsfähigkeit dieses Sektors Zweifel aufkommen lässt, zu reagieren.

52        Obwohl insoweit die staatlichen Statistiken der rumänischen Regierung zufolge belegen, dass die in Rumänien tätigen Beschäftigten auch bei Inanspruchnahme der gewährten Vergünstigungen Löhne erhielten, die deutlich unter den Mindestlöhnen in anderen Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich lägen, schließen diese Statistiken nicht aus, dass diese Beschäftigten in bestimmten Fällen die gleichen Löhne erhalten könnten wie diejenigen Beschäftigten, die in anderen Mitgliedstaaten Bauleistungen erbringen, da nach den Angaben in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten die Befreiung von der Einkommensteuer für monatliche Bruttoeinkommen von bis zu 30 000 RON gilt.

53        Unter diesen Umständen entspricht die unterschiedliche Behandlung, die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung vorgenommen wird, offenbar keinem objektiven Unterschied der Situationen, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Zum Bestehen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses

54        Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nur zulässig, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem AEU-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird, sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass ihre Anwendung geeignet sein muss, die Erreichung der betreffenden Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieser Zielsetzung erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 2019, Österreich/Deutschland, C-591/17, EU:C:2019:504, Rn. 139 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C-391/20, EU:C:2022:638, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55        Im vorliegenden Fall präzisiert zwar das vorlegende Gericht die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung verfolgte Zielsetzung nicht, die rumänische Regierung macht jedoch im Wesentlichen geltend, dass diese Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei, die in erster Linie das Erfordernis beträfen, den sozialen Schutz der Beschäftigten im Bausektor sicherzustellen und angemessene Arbeitsbedingungen im Rahmen des Binnenmarkts durch Verringerung des auf Unionsebene bestehenden Lohngefälles zu gewährleisten, sodann das Ziel, Schwarzarbeit und dadurch Steuerhinterziehung zu bekämpfen, und schließlich spezifische Probleme des rumänischen Bausektors, die mit dem Arbeitskräftemangel zusammenhingen, mit dem dieser Sektor konfrontiert sei, da aus Lohngründen eine besorgniserregende Abwanderung ins Ausland von qualifizierten Beschäftigten in diesem Bereich stattfinde.

56        Was als Erstes das Erfordernis betrifft, den sozialen Schutz der Beschäftigten dieses Sektors sicherzustellen und angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, ist darauf hinzuweisen, dass zu den vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses sowohl der Schutz der Arbeitnehmer als auch die Aufrechterhaltung und die Förderung der Beschäftigung zu den legitimen Zielen der Sozialpolitik gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 73 bis 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57        Als zwingende Gründe des Allgemeininteresses hat der Gerichtshof auch die Bekämpfung von Betrug, insbesondere Sozialbetrug, und die Verhinderung von Missbräuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C-64/18, C-140/18, C-146/18 und C-148/18, EU:C:2019:723, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie das Anliegen, Störungen auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern (Urteil vom 14. November 2018, Danieli & C. Officine Meccaniche u. a., C-18/17, EU:C:2018:904, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung), anerkannt.

58        Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass, da die Union eine wirtschaftliche und eine soziale Zielrichtung hat, die sich aus den Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele abgewogen werden müssen, zu denen, wie aus Art. 151 Abs. 1 AEUV hervorgeht, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und ein angemessener sozialer Schutz gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59        Im vorliegenden Fall ermöglicht es die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung zwar grundsätzlich, den in Rumänien tätigen Beschäftigten des Bausektors eine Erhöhung des Nettolohns im Umfang der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zu gewähren. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Regelung geeignet ist, durch die Verringerung des auf Unionsebene bestehenden Lohngefälles in kohärenter und systematischer Weise den sozialen Schutz der Beschäftigten im Bausektor sicherzustellen, indem es sich insbesondere vergewissert, dass die Unternehmen die erhaltenen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen für die den Beschäftigten gezahlten Löhne in der Praxis weitergeben, so dass eine Erhöhung dieser Löhne erfolgt.

60        Sollte diese Regelung als geeignet anzusehen sein, die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, darf sie zudem nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

61        Was als Zweites die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung betrifft, stellen nach ständiger Rechtsprechung sowohl die Bekämpfung der Schwarzarbeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2006, Kommission/Frankreich, C-255/04, EU:C:2006:401, Rn. 43, 46 und 52) als auch die Notwendigkeit, die Effizienz der Beitreibung der Steuer zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2022, Airbnb Ireland und Airbnb Payments UK, C-83/21, EU:C:2022:1018, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie die Bekämpfung der Steuerhinterziehung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Pharmacie populaire – La Sauvegarde und Pharma Santé – Réseau Solidaris, C-52/21 und C-53/21, EU:C:2022:127, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung) ebenfalls zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Beschränkungen der Ausübung der vom AEU-Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten rechtfertigen können.

62        Insofern genügt der Hinweis, dass die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung es nicht rechtfertigen kann, ausschließlich den Unternehmen, deren Beschäftigte ihre Arbeitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringen, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zu versagen. Es kann nämlich nicht unterstellt werden, dass die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs zu Betrugsfällen führt.

63        Was als Drittes die spezifischen Probleme des rumänischen Bausektors betrifft, die mit dem Arbeitskräftemangel zusammenhängen, der darauf zurückgeht, dass aus Lohngründen qualifizierte Beschäftigte ins Ausland abwandern, können nach ständiger Rechtsprechung rein wirtschaftliche Gründe, wie u. a. die Förderung der nationalen Wirtschaft oder deren gutes Funktionieren, keine Beeinträchtigungen rechtfertigen, die gemäß dem Vertrag verboten sind (Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64        Indessen können, wie die Generalanwältin in den Nrn. 45, 46 und 48 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, Erwägungen im Zusammenhang mit dem Ziel der Bekämpfung systemischer Risiken, mit denen ein Mitgliedstaat in einem Sektor von gewisser Bedeutung für seine Entwicklung – im vorliegenden Fall dem Bausektor –konfrontiert ist, um die Funktionsfähigkeit oder den Fortbestand dieses Sektors zu gewährleisten, zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gleichkommen, die eine Beschränkung der vom AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten rechtfertigen können. Die nationale Regelung, mit der allein Unternehmen, deren Beschäftigten ihre Arbeitsleistungen in diesem Mitgliedstaat erbringen, steuerliche und soziale Vergünstigungen gewährt werden, muss jedoch geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Dezember 2021, UBS Real Estate, C-478/19 und C-479/19, EU:C:2021:1015, Rn. 73).

65        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmen des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben und sich in einer vergleichbaren Situation wie die Unternehmen des Bausektors befinden, deren Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten entsandt werden, sofern diese nationale Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass ihre Anwendung geeignet sein muss, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und sie nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Kosten

66        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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