: Die italienische Mehrwertsteuer-Amnestie beeinträchtigt das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems schwerwiegend
Der allgemeine und undifferenzierte Verzicht auf Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen getätigten steuerbaren Umsätze bietet den Steuerpflichtigen einen starken Anreiz, entweder lediglich einen Teil der tatsächlichen Schuld anzugeben oder sich durch Zahlung eines Pauschalbetrags endgültig jeder Kontrolle und Sanktion zu entziehen - Das erhebliche Ungleichgewicht zwischen den tatsächlich geschuldeten und den nach der „ergänzenden Mehrwertsteuererklärung" bzw. der „Automatischen Bereinigung" noch zu entrichtenden Beträgen führt nahezu zu einer Steuerbefreiung, die nicht gerechtfertigt ist; sie begünstigt Steuerpflichtige, die sich eine Steuerhinterziehung haben zuschulden kommen lassen, obwohl die nationalen Steuerbehörden die Unregelmäßigkeiten hätten aufdecken können
EuGH (Große Kammer), Urteil vom 17. 7. 2008 - Rs. C-132/06; Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik
Tenor:
Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sowie aus Art. 10 EG verstoßen, dass sie in den Art. 8 und 9 der Legge n. 289 concernente le disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2003) (Gesetz Nr. 289 über die Bestimmungen zur Festlegung des Jahres- und Mehrjahreshaushalts des Staates [Haushaltsgesetz 2003]) einen allgemeinen und undifferenzierten Verzicht auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen bewirkten steuerbaren Umsätze vorgesehen hat.
Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG
Aus den Gründen:
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Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie aus Art. 10 EG verstoßen hat, dass sie in den Art. 8 und 9 der Legge n. 289 concernente le disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2003) (Gesetz Nr. 289 über die Bestimmungen zur Festlegung des Jahres- und Mehrjahreshaushalts des Staates [Haushaltsgesetz 2003]) vom 27. Dezember 2002 (Supplemento ordinario Nr. 240/L zu GURI Nr. 305 vom 31. Dezember 2002, im Folgenden: Gesetz Nr. 289/2002) ausdrücklich und allgemein vorgesehen hat, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen bewirkten steuerbaren Umsätze zu verzichten.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
2
Art. 10 EG lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe.
Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten."
3
Im zweiten Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie heißt es:
„... [D]er Haushalt der Gemeinschaften [wird], unbeschadet der sonstigen Einnahmen, vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaften finanziert. Diese Mittel umfassen unter anderem Mehrwertsteuereinnahmen, die sich aus der Anwendung eines gemeinsamen Satzes auf eine steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ergeben, welche einheitlich nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmt wird."
4
Der vierte Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie lautet:
„Dabei ist das Ziel im Auge zu behalten, die Besteuerung der Einfuhr und die steuerliche Entlastung der Ausfuhr im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen und zugleich die Neutralität des gemeinsamen Umsatzsteuersystems in Bezug auf den Ursprung der Gegenstände und Dienstleistungen zu wahren, damit schließlich ein gemeinsamer Markt verwirklicht wird, auf dem ein gesunder Wettbewerb herrscht und der mit einem echten Binnenmarkt vergleichbare Merkmale aufweist."
5
Im vierzehnten Erwägungsgrund der genannten Richtlinie heißt es:
„Die Pflichten der Steuerpflichtigen müssen so weit wie möglich harmonisiert werden, um die erforderliche Gleichmäßigkeit bei der Steuererhebung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Die Steuerpflichtigen haben periodische Steuererklärungen über den Gesamtbetrag ihrer Eingangs- und Ausgangsumsätze abzugeben, soweit dies für die Feststellung und Kontrolle der steuerpflichtigen Bemessungsgrundlage für die eigenen Mittel erforderlich erscheint."
6
Nach Art. 2 der Sechsten Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, sowie die Einfuhr von Gegenständen.
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Art. 22 der Sechsten Richtlinie bestimmt: „...
(4) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. ...
(5) Jeder Steuerpflichtige hat bei der Abgabe der periodischen Steuererklärung den sich nach Vornahme des Vorsteuerabzugs ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder vorläufige Vorauszahlungen erheben. ...
(8) ... [D]ie Mitgliedstaaten [können] weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden. ..."
Nationales Recht
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Die Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002, die „die Ergänzung der Besteuerungsgrundlagen für die Vorjahre" und die „automatische Bereinigung für die Vorjahre" regeln, gelten sowohl für die Mehrwertsteuer als auch für andere Steuern und obligatorische Abgaben.
Art. 8 des Gesetzes Nr. 289/2002
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Nach Art. 8 des Gesetzes Nr. 289/2002 haben Steuerpflichtige im Wesentlichen die Möglichkeit, eine ergänzende Mehrwertsteuererklärung zur Berichtigung der bereits für die Besteuerungszeiträume zwischen 1998 und 2001 abgegebenen Erklärungen einzureichen. Diese Erklärung muss gemäß Art. 8 Abs. 3 mit einer Zahlung des zusätzlich geschuldeten Mehrwertsteuerbetrags bis zum 16. April 2003 verbunden sein, wobei dieser „unter Anwendung der im jeweiligen Besteuerungszeitraum anwendbaren Bestimmungen" berechnet wird. Die genannte Erklärung ist nur gültig, wenn sie zusätzliche Steuerschulden in Höhe von mindestens 300 Euro für jedes Steuerjahr ausweist. Die Zahlungen können in zwei gleichen Raten erfolgen, wenn der Betrag 3 000 Euro im Fall natürlicher Personen bzw. 6 000 Euro bei juristischen Personen übersteigt.
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Art. 8 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 289/2002 sieht die Möglichkeit vor, die ergänzende Mehrwertsteuererklärung in einem vertraulichen Verfahren einzureichen. Ein Steuerpflichtiger, der für die betreffenden Steuerjahre gar keine Steuererklärung abgegeben hat, kann diese Möglichkeit jedoch nicht in Anspruch nehmen.
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Nach Art. 8 Abs. 6 dieses Gesetzes hat die Abgabe einer ergänzenden Mehrwertsteuererklärung zur Folge, dass für die sich aus dieser Erklärung ergebenden Mehrwertsteuermehrbeträge, erhöht um 100 % - d. h. für einen Mehrwertsteuerbetrag, der doppelt so hoch ist wie der vom Steuerpflichtigen angegebene Betrag -, die administrativen steuerlichen Sanktionen entfallen, für bestimmte Steuerdelikte und bestimmte Delikte des allgemeinen Strafrechts die strafrechtliche Ahndung gegenüber dem betreffenden Steuerpflichtigen ausgeschlossen ist und jede Steuerprüfung unterbleibt.
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Art. 8 Abs. 9 des genannten Gesetzes befreit die Steuerpflichtigen, die das in Art. 8 Abs. 4 dieses Gesetzes vorgesehene vertrauliche Verfahren gewählt haben, von jeder Überprüfung mit Ausnahme einer Schlüssigkeitsprüfung ihrer ergänzenden Erklärungen.
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Nach Art. 8 Abs. 10 des Gesetzes Nr. 289/2002 kann jedoch dieser Artikel nicht von Steuerpflichtigen in Anspruch genommen werden,
- denen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bereits ein Feststellungsprotokoll mit positivem Ergebnis, ein Berichtigungsbescheid oder eine Ladung in einem streitigen Verfahren zugestellt worden ist;
- gegen die wegen Verstößen im Sinne von Art. 8 Abs. 6 Buchst. c dieses Gesetzes ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, über das sie förmlich vor dem Zeitpunkt der Abgabe der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung in Kenntnis gesetzt worden sind.
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Nach Art. 8 Abs. 12 des Gesetzes Nr. 289/2002 stellt die Einreichung einer ergänzenden Mehrwertsteuererklärung keine Anzeige einer Straftat dar.
Art. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002
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Art. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 betrifft die „automatische Bereinigung für die Vorjahre". Dem Rundschreiben Nr. 12/2003 der Agenzia delle Entrate - Direzione centrale normativa e contenzioso (Geschäftsstelle für Einnahmen - Zentrale Direktion für die Auslegung und Anwendung von Gesetzen und für Streitverfahren) vom 21. Februar 2003 zufolge hat die Erklärung gemäß Art. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 zur automatischen Bereinigung im Unterschied zur ergänzenden Mehrwertsteuererklärung gemäß Art. 8 des genannten Gesetzes nicht die Angabe höherer Besteuerungsgrundlagen zum Gegenstand, sondern betrifft Angaben, die es erlauben, die Beträge zu ermitteln, die gezahlt werden müssen, um in den Genuss der Amnestie zu gelangen.
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Zwar sind die von der genannten automatischen Bereinigung erfassten Besteuerungszeiträume die gleichen wie die in Art. 8 des Gesetzes Nr. 289/2002 vorgesehenen, doch muss die Erklärung gemäß Art. 9 dieses Gesetzes nach Art. 9 Abs. 1 „zur Vermeidung ihrer Nichtigkeit sämtliche Besteuerungszeiträume betreffen".
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Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b des Gesetzes Nr. 289/2002 wird die automatische Mehrwertsteuerbereinigung in der Weise durchgeführt, dass für jeden Besteuerungszeitraum „ein Betrag von 2 % der Steuer auf die vom Steuerpflichtigen mit der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen bewirkten Umsätze, für die die Steuer während des Besteuerungszeitraums fällig geworden ist", und ein Betrag von 2 % der Mehrwertsteuer auf die Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die „im selben Zeitraum abgezogen worden ist", gezahlt werden, wobei die genannten Beträge zusammenzurechnen sind. Der Prozentsatz beträgt 1,5 %, wenn die fällige Steuer oder die abgezogene Steuer 200 000 Euro, und 1 %, wenn sie 300 000 Euro übersteigt. Führt die Anwendung der Bestimmung zur Entrichtung von Beträgen über 11 600 000 Euro, reduziert sich der diesen Betrag übersteigende Teil um 80 %. In Art. 9 Abs. 6 des Gesetzes ist jedoch für das einzelne Steuerjahr jeweils die Zahlung eines Mindestbetrags festgesetzt, und zwar von 500 Euro bei einem Umsatz des Steuerpflichtigen bis zu 50 000 Euro, von 600 Euro bei einem Umsatz zwischen 50 000 Euro und 180 000 Euro und von 700 Euro bei einem Umsatz über 180 000 Euro.
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Für jedes einzelne Steuerjahr, für das keine Steuererklärung abgegeben wurde, wird nach Art. 9 Abs. 8 des Gesetzes Nr. 289/2002 von den betreffenden natürlichen Personen ein Pauschalbetrag in Höhe von 1 500 Euro und von Gesellschaften und Vereinen in Höhe von 3 000 Euro verlangt.
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Nach Art. 9 Abs. 10 Buchst. b und c des genannten Gesetzes hat die automatische Mehrwertsteuerbereinigung für den betreffenden Steuerpflichtigen zur Folge, dass die administrativen steuerlichen Sanktionen entfallen, für bestimmte Steuerdelikte und bestimmte damit verbundene Delikte des allgemeinen Strafrechts die strafrechtliche Ahndung ausgeschlossen ist und jede Steuerprüfung unterbleibt.
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Nach Art. 9 Abs. 14 des Gesetzes Nr. 289/2002 kommen Steuerpflichtige nicht in den Genuss der genannten automatischen Bereinigung,
- denen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bereits ein Feststellungsprotokoll mit positivem Ergebnis, ein Berichtigungsbescheid oder eine Ladung in einem streitigen Verfahren zugestellt worden ist;
- gegen die wegen Verstößen im Sinne von Art. 9 Abs. 10 Buchst. c dieses Gesetzes ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, über das sie förmlich vor dem Zeitpunkt der Abgabe der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung in Kenntnis gesetzt worden sind;
- die nicht sämtliche Erklärungen bezüglich aller in Art. 9 Abs. 2 aufgeführten Abgaben für sämtliche in Art. 9 Abs. 1 genannten Besteuerungszeiträume abgegeben haben.
Vorverfahren
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Da die Kommission der Auffassung war, dass die Bestimmungen der Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 mit den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie sowie mit den Art. 10 EG und 249 EG unvereinbar seien, sandte sie gemäß dem in Art. 226 EG vorgesehenen Verfahren ein Mahnschreiben an die Italienische Republik, das vom 16. Dezember 2003 datiert. In ihrem Schreiben vom 30. März 2004 widersprach die Italienische Republik der von der Kommission geltend gemachten Unvereinbarkeit. Da die Antwort der Italienischen Republik die Kommission nicht zufriedenstellte, sandte sie an diesen Mitgliedstaat mit Schreiben vom 18. Oktober 2004 eine mit Gründen versehene Stellungnahme und forderte ihn dazu auf, dieser Stellungnahme binnen zweier Monate ab ihrer Zustellung nachzukommen. In ihrer Antwort vom 31. Januar 2005 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme verneinte die Italienische Republik abermals, dass eine Unvereinbarkeit vorliege. Daher hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
Zur Klage
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
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Die Kommission trägt vor, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie und aus Art. 10 EG verstoßen habe, dass sie in den Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 ausdrücklich und allgemein vorgesehen habe, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen getätigten steuerbaren Umsätze zu verzichten.
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Die Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie und Art. 10 EG erlegten den Mitgliedstaaten eine doppelte Verpflichtung auf: Zum einen seien sie gehalten, sämtliche nationalen Rechtsvorschriften zu erlassen, die erforderlich seien, um der Sechsten Richtlinie Wirksamkeit zu verleihen, und zum anderen müssten sie sämtliche Verwaltungsmaßnahmen ergreifen, die erforderlich seien, um zu gewährleisten, dass die Mehrwertsteuerpflichtigen die aus dieser Richtlinie resultierenden Verpflichtungen beachteten, insbesondere diejenige, binnen einer bestimmten Frist die infolge der Bewirkung steuerbarer Umsätze geschuldete Steuer zu entrichten.
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Die Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 wichen von den allgemeinen Mehrwertsteuervorschriften zur Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer in italienisches Recht ab. Eine derartige Abweichung verstoße gegen die Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie.
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Hinsichtlich der Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 2 der Sechsten Richtlinie, sämtliche Lieferungen von Gegenständen und sämtliche Dienstleistungen der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, macht die Kommission geltend, es sei ausgeschlossen, dass sich ein Mitgliedstaat einseitig der Verpflichtung entziehen könne, bestimmte Kategorien steuerbarer Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, sei es, indem er Steuerbefreiungen einführe, die der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht vorgesehen habe, oder indem er steuerbare Umsätze aus dem Geltungsbereich dieser Richtlinie herausnehme, obwohl sie der Richtlinie unterworfen werden müssten.
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Die in Art. 22 der Sechsten Richtlinie genannten Verpflichtungen seien unmissverständlich und zwingend formuliert. Die Mitgliedstaaten könnten die Steuerpflichtigen von der einen oder anderen dieser Verpflichtungen daher nur dann freistellen, wenn eine spezifische Vorschrift des Art. 22 ihnen ausdrücklich eine Abweichung von den genannten Verpflichtungen erlaube. Art. 22 Abs. 8 der genannten Richtlinie solle die nationalen Steuerverwaltungen mit den erforderlichen Kontrollinstrumenten ausstatten; gleichzeitig erlege er den Steuerpflichtigen diesen Kontrollerfordernissen entsprechende Verpflichtungen und den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, mittels einer wirkungsvollen Überprüfung und Bekämpfung der Steuerhinterziehung „eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen". Art. 22 räume den Mitgliedstaaten kein Ermessen ein, das es ihnen erlaubte, sämtliche Steuerpflichtigen von ihrer Pflicht zur Buchführung, zur Erstellung von Rechnungen und zur Abgabe einer Erklärung über die Zahlung der Mehrwertsteuer zu befreien.
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Die Kommission räumt ein, dass die Mitgliedstaaten bei der Überprüfung der Richtigkeit der Mehrwertsteuererklärungen und der entsprechenden Zahlungen der Steuerpflichtigen über einen gewissen Ermessensspielraum verfügten, der es ihnen erlaube, ihre Kontrollen entsprechend den personellen und technischen Mitteln, über die sie hierfür verfügten, zu gestalten. Die Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 gingen jedoch über den den Mitgliedstaaten vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewährten Ermessensspielraum hinaus, da die Italienische Republik allgemein, undifferenziert und im Voraus auf ihre Kontrollen und Überprüfungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer verzichtet habe.
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Da es außerdem an jedem Zusammenhang zwischen der nach den gewöhnlichen Mehrwertsteuervorschriften berechneten Steuerschuld und den Beträgen fehle, die die Steuerpflichtigen zu zahlen hätten, die in den Genuss der Amnestieregelungen der Art. 8 bzw. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 kommen wollten, seien die Bestimmungen der genannten Artikel geeignet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems schwerwiegend zu stören, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der diesem System innewohne, zu verfälschen, und gegen das Gebot zu verstoßen, eine in allen Mitgliedstaaten gleichmäßige Steuererhebung sicherzustellen.
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Die Italienische Republik, die zugesteht, dass die Gemeinschaftsregelung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von den Mitgliedstaaten verlange, sämtliche Steuerpflichtigen der Steuer zu unterwerfen und infolge dieser Verpflichtung eine entsprechende Kontrolle auszuüben, trägt vor, dass der in den Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 vorgesehene Mechanismus sich weder auf die Verpflichtungen der Steuerpflichtigen noch auf die Grundlagen der Steuer auswirke. Dieser Mechanismus greife vielmehr bei der Kontrolle und bei der Eintreibung der Steuer ein, wo die Mitgliedstaaten über ein Ermessen verfügten.
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Die Rüge der Kommission, durch die der in den Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 vorgesehene Mechanismus als „allgemeiner, undifferenzierter und im Voraus erfolgter Verzicht auf jede Kontroll- und Überprüfungstätigkeit auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer" qualifiziert werde, laufe darauf hinaus, die Mitgliedstaaten generell daran zu hindern, auf Instrumente der gütlichen Einigung oder Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zurückzugreifen, um streitige Verfahren zu vermeiden und sich sofortige Einnahmen über ausgehandelte Steuernachlässe zu verschaffen.
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Die Italienische Republik macht insbesondere geltend, ihre Steuerverwaltung sei nicht in der Lage, sämtliche Steuerpflichtigen zu kontrollieren. Das in den Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 vorgesehene System ermögliche es dagegen, sofort einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Steuer zu erheben und die Kontrollen gegen diejenigen Steuerpflichtigen zu richten, die die Durchführung des fraglichen Amnestieverfahrens nicht beantragt hätten.
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Außerdem spreche der Umstand, dass deutlich höhere Steuern erhoben würden, als sie aufgrund eines gewöhnlichen Überprüfungs- und Kontrollverfahrens erhoben werden könnten, dafür, dass die sich aus der Sechsten Richtlinie ergebenden Verpflichtungen beachtet worden seien und dass nicht allein deshalb das Gegenteil behauptet werden könne, weil diese Beträge in Form spontaner Zahlungen der Steuerpflichtigen eingezogen würden und nicht aufgrund einer zwingenden Forderung der Finanzverwaltung.
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Durch Art. 8 des Gesetzes Nr. 289/2002 solle den Steuerpflichtigen, die der Finanzverwaltung noch nicht als Betrüger aufgefallen seien, Gelegenheit gegeben werden, ihre Situation zu bereinigen, sofern sie spontan die von ihnen hinterzogenen Steuerbeträge angäben und wenigstens 50 % der hinterzogenen Steuer (oder zwei Drittel dieser Steuer, wenn es sich um Abzüge handele) zahlten. Nach Eingang dieser Zahlungen sei die Finanzverwaltung daran gehindert, Kontrollen in Bezug auf Beträge durchzuführen, die die ergänzend angegebenen Beträge nicht um mehr als 100 % (oder 50 % bei den zusätzlichen Abzügen) überstiegen.
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Unter Berufung auf den in Randnr. 13 des vorliegenden Urteils erwähnten Art. 8 Abs. 10 des Gesetzes Nr. 289/2002 macht die Italienische Republik geltend, dass die bereits als Steuerhinterzieher bekannten Steuerpflichtigen nicht in den Genuss der in Art. 8 genannten Regelung kommen könnten.
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In Bezug auf Art. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 weist die Italienische Republik darauf hin, dass in den beiden in Art. 8 Abs. 10 dieses Gesetzes vorgesehenen und in Randnr. 13 des vorliegenden Urteils beschriebenen Fällen ebenso wie nach Art. 9 Abs. 14 des genannten Gesetzes Art. 9 nicht angewandt werden könne, wenn der Betreffende nicht sämtliche Erklärungen für alle in Art. 9 Abs. 2 aufgeführten Abgaben und sämtliche in Art. 9 Abs. 1 genannten Besteuerungszeiträume abgegeben habe.
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Die Bezugnahme in Art. 9 Abs. 14 des Gesetzes Nr. 289/2002 auf „alle in Art. 9 Abs. 2 aufgeführten Abgaben" sei immer so ausgelegt worden, dass die in Art. 9 Abs. 2 Buchst. a dieses Gesetzes aufgeführten Abgaben und die in Art. 9 Abs. 2 Buchst. b genannte Mehrwertsteuer getrennt zu betrachten seien. So sei anerkannt, dass die automatische Bereinigung nach Art. 9 nicht in Betracht komme, wenn in all den fraglichen Jahren keine Mehrwertsteuer erklärt worden sei, selbst wenn für dieselben Jahre Erklärungen für andere Steuern eingereicht worden seien. Gemäß Art. 9 Abs. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 sei die Finanzverwaltung stets befugt, die Steuer zu erheben, die aufgrund der Angaben in der Mehrwertsteuererklärung geschuldet werde. Eine Steuerprüfung sei jedenfalls immer dann möglich, wenn es darum gehe, zu prüfen, ob ein Recht auf Erstattung der Steuer, das sich aus dieser Erklärung ergeben müsse, bestehe (oder nicht).
Würdigung durch den Gerichtshof
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Aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie sowie aus Art. 10 EG geht hervor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die Erklärungen der Steuerpflichtigen, deren Konten und die anderen einschlägigen Unterlagen prüfen und die geschuldete Steuer berechnen und einziehen.
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Im Rahmen des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sind die Mitgliedstaaten gehalten, die Beachtung der Verpflichtungen sicherzustellen, denen die Steuerpflichtigen unterliegen. Sie verfügen insoweit insbesondere hinsichtlich der Art des Einsatzes der ihnen zu Gebote stehenden Mittel über einen gewissen Spielraum.
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Dieser Spielraum wird jedoch durch die Verpflichtung begrenzt, eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Gemeinschaft zu garantieren, und bei der Behandlung der Steuerpflichtigen keine bedeutsamen Unterschiede zu schaffen, und zwar weder innerhalb eines der Mitgliedstaaten noch in den Mitgliedstaaten insgesamt. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Sechste Richtlinie gemäß dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der dem Gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnt, auszulegen ist, dem zufolge Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen (Urteil vom 16. September 2004, Cimber Air, C‑382/02, Slg. 2004, I‑8379, Randnr. 24). Jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die die Erhebung der Mehrwertsteuer betrifft, muss diesem Grundsatz Rechnung tragen.
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Nach Art. 8 des Gesetzes Nr. 289/2002 können sich Steuerpflichtige, die ihren Verpflichtungen für die Besteuerungszeiträume zwischen 1998 und 2001 - also in bestimmten Fällen lediglich ein Jahr vor Erlass dieses Gesetzes - nicht nachgekommen sind, jeder Kontrolle und den anwendbaren Sanktionen bis zu einem Betrag entziehen, der dem Doppelten des Mehrwertsteuerbetrags entspricht, der in der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung angegeben worden ist. Denn die italienischen Behörden dürfen die in den vier Jahren vor Erlass des genannten Gesetzes bewirkten steuerbaren Umsätze nicht mehr prüfen, wenn auch nur bis zur Höhe der in Art. 8 Abs. 6 des Gesetzes festgelegten Beträge. Dieser Verzicht gilt grundsätzlich dann, wenn der Steuerpflichtige den Betrag, den er ursprünglich hätte zahlen müssen, angibt und entrichtet. Da jedoch eine Überprüfung nur für Beträge durchgeführt werden kann, die über das Doppelte der vom Steuerpflichtigen in der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung angegebenen Beträge hinausgehen, bietet das Gesetz Nr. 289/2002 für die Steuerpflichtigen einen starken Anreiz, lediglich einen Teil der tatsächlichen Schuld anzugeben. Daraus folgt, dass die Steuerpflichtigen, die in den Genuss dieses Artikels kommen, sich endgültig ihren Verpflichtungen zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer entziehen können, die sie normalerweise für die zwischen 1998 und 2001 liegenden Besteuerungszeiträume hätten entrichten müssen.
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Was den nach Art. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 geschuldeten Betrag betrifft, so ist dieser noch weiter von demjenigen entfernt, den der Steuerpflichtige hätte entrichten müssen. Denn nach dieser Vorschrift kann ein Steuerpflichtiger, der für die Besteuerungszeiträume zwischen 1998 und 2001 keine Erklärung eingereicht hat, jeglicher Kontrolle sowie jeglicher administrativen steuerlichen und strafrechtlichen Sanktion dadurch entgehen, dass er einen Betrag in Höhe von 2 % der für seine Lieferung von Gegenständen und seine Dienstleistungen geschuldeten Mehrwertsteuer und einen Betrag von 2 % der im selben Zeitraum abgezogenen Mehrwertsteuer zahlt. Dieser Prozentsatz beträgt 1,5 %, wenn die fällige Steuer oder die abgezogene Steuer 200 000 Euro, und 1 %, wenn sie 300 000 Euro übersteigt. Überschreitet der nach Art. 9 geschuldete Betrag eine bestimmte Höhe, reduziert sich der diesen Betrag übersteigende Teil um 80 %. Die Beträge, die zu zahlen sind, dürfen 500 Euro nicht unterschreiten.
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Daraus folgt, dass Art. 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 es Steuerpflichtigen, die ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer für die Besteuerungszeiträume zwischen 1998 und 2001 nicht nachgekommen sind, ermöglicht, sich diesen Verpflichtungen und den Sanktionen, die gegen sie im Fall der Nichtbeachtung dieser Verpflichtungen verhängt werden, endgültig zu entziehen, indem sie einen pauschalen Betrag anstelle eines Prozentsatzes des erzielten Umsatzes zahlen. Diese pauschalen Beträge stehen außer Verhältnis zu dem Betrag, den der Steuerpflichtige auf der Grundlage des Volumens, das sich aus den von ihm bewirkten, aber nicht angegebenen Umsätzen ergibt, hätte zahlen müssen.
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Indem die Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 die Verpflichtungen, die sich aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie für die Steuerpflichtigen ergaben, sehr kurze Zeit nach dem Ablauf der Frist für die Betroffenen zur Entrichtung der normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge durch andere Verpflichtungen ersetzten, die nicht die Zahlung dieser Beträge verlangten, haben die genannten Art. 8 und 9 den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie, die doch die Grundlage des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems bilden, jede Bedeutung genommen und rühren somit an die Struktur dieser Steuer selbst. Das erhebliche Ungleichgewicht zwischen den tatsächlich geschuldeten Beträgen und denjenigen, die die Steuerpflichtigen, die in den Genuss der steuerlichen Amnestie kommen möchten, entrichten, führt nahezu zu einer Steuerbefreiung.
44
Daraus ergibt sich, dass das Gesetz Nr. 289/2002 das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems schwerwiegend beeinträchtigt. Die Bestimmungen dieses Gesetzes verfälschen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, indem sie erhebliche Unterschiede bei der Behandlung der Steuerpflichtigen im italienischen Hoheitsgebiet eingeführt haben. Aus dem gleichen Grund verstoßen diese Bestimmungen gegen die Verpflichtung, eine in allen Mitgliedstaaten gleichmäßige Steuererhebung sicherzustellen.
45
Da, wie es im vierten Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie heißt, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität darauf abzielt, die Verwirklichung eines Gemeinsamen Marktes zu ermöglichen, auf dem ein gesunder Wettbewerb herrscht, beeinträchtigen die italienischen Rechtsvorschriften gerade das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, da in Italien die Steuerpflichtigen darauf hoffen können, einen großen Teil ihrer Steuerschulden nicht begleichen zu müssen.
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In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen ein Ziel ist, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird (vgl. Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, Slg. 2006, I‑1609, Randnr. 71, und vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C‑162/07, Slg. 2008, I‑0000, Randnr. 29). So fordert Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu auf, gegebenenfalls zusätzliche Verpflichtungen zur Vermeidung der Steuerhinterziehung vorzusehen.
47
Es ist festzustellen, dass die italienischen Rechtsvorschriften die gegenteilige Wirkung haben, da das Gesetz Nr. 289/2002 Steuerpflichtige, die sich der Steuerhinterziehung schuldig gemacht haben, begünstigt.
48
Die Italienische Republik trägt vor, dass angesichts der Fälle, in denen die fragliche Steueramnestie ausgeschlossen sei, deren tatsächliche Auswirkung gering sei. Die Steuerpflichtigen, die für keines der betreffenden Steuerjahre eine Mehrwertsteuererklärung eingereicht hätten, sowie diejenigen, die ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer nicht nachgekommen seien und denen gegenüber bereits ein Verfahren zugunsten der Steuerbehörden abgeschlossen worden sei, seien von der Amnestie ausgeschlossen.
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Jedoch zeigen die Zahlen, die die Italienische Republik zu ihrer Verteidigung vorgelegt hat und denen zufolge etwa 15 % der Steuerpflichtigen, d. h. ungefähr 800 000 von ihnen, im Jahr 2001 eine steuerliche Amnestie beantragt haben, die Dimension einer Maßnahme, die trotz der Ausschlussfälle, auf die der betroffene Mitgliedstaat hingewiesen hat, nicht als wenig bedeutsam angesehen werden kann.
50
Da die Ausschlussfälle sehr begrenzt sind, hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass durch die angefochtene Amnestiemaßnahme allgemein und undifferenziert auf die Überprüfungs- und Berichtigungsbefugnisse der Steuerverwaltung verzichtet worden ist.
51
Die Italienische Republik macht geltend, dass das Gesetz Nr. 289/2002 der Staatskasse erlaubt habe, sofort und ohne Einleitung langwieriger Gerichtsverfahren einen Teil der ursprünglich nicht erklärten Mehrwertsteuer zu vereinnahmen.
52
Jedoch erlaubt die fragliche Maßnahme, indem sie sehr kurz nach dem Ablauf der für die Steuerpflichtigen geltenden Fristen für die Entrichtung der Mehrwertsteuer eine Amnestie eingeführt hat und die Entrichtung eines im Vergleich zur tatsächlich geschuldeten Steuer sehr geringen Betrags verlangt, den betreffenden Steuerpflichtigen, sich ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer endgültig zu entziehen, obwohl die nationalen Steuerbehörden wenigstens einen Teil dieser Steuerpflichtigen in den vier Jahren vor der Verjährung der normalerweise geschuldeten Steuer hätten ermitteln können. In diesem Sinne stellt das Gesetz Nr. 289/2002 die jeden Mitgliedstaat treffende Verantwortlichkeit in Frage, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen.
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Somit ist die Klage der Kommission als begründet anzusehen und festzustellen ... [s. Tenor].