Nochmals: Der ermäßigte Umsatzsteuersatz auf dem Prüfstand
Im Nachgang zu dem Beitrag in BB Heft 46/2010, 2798, Link zu diesem Artikel sind neue Zahlen
bekannt geworden, die für die anstehende Diskussion wichtig erscheinen.
Da der Verlag versehentlich noch die „alte Fassung" abgedruckt
hat, werden nachfolgend die aktuellen Daten vorgestellt und die einschlägigen Textpassagen ersetzt. Im Übrigen behalten die o.a. Ausführungen
des Autors ihre Gültigkeit.
I. Der derzeitige Stand des Rechts
1. Fiskalische Bedeutung der Umsatzsteuer
Die Umsatzsteuer ist mit Abstand die ertragreichste Einnahmequelle
des Bundes. Nach der letzten amtlichen Steuerschätzung vom November
2010 werden für dieses Jahr mit rd. 180 Mrd. Euro Umsatzsteuer
etwa 3 Milliarden mehr erwartet als im Vorjahr. Der bisher gute Konjunkturverlauf
in diesem Jahr dürfte diese Prognose noch positiv verändern.
Da der Anteil der Umsatzsteuereinnahmen, der auf den ermäßigten
Umsatzsteuer entfällt, knapp 7,5% des gesamten Umsatzsteueraufkommens
ausmacht, ergeben sich hieraus für 2010 schätzungsweise
Umsatzsteuereinnahmen von knapp 13,5 Mrd. Euro (7,5% von 180
Mrd. Euro = 13,5 Mrd. Euro). Oder anders ausgedrückt: Würde man
sämtlich Lieferungen und Leistungen, die dem ermäßigten Umsatzsteuersatz
unterliegen, statt mit 7% künftig mit 19% besteuern, ergäben sich daraus rechnerisch Umsatzsteuermehreinnahmen in Höhe
von circa 23 Mrd. Euro (13,5 Mrd. Euro dividiert durch 7 mal 19 = 36,5
Mrd. Euro minus 13,5 Mrd. Euro = 23 Mrd. Euro). Allerdings ist bei
diesem Aspekt zu berücksichtigen: Es handelt sich hierbei um eine rein
rechnerisch/theoretische Betrachtungsweise; denn die Besteuerung von
Lebensmitteln mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz stellt eine soziale
Komponente dar, die politisch kaum zur Disposition gestellt werden
kann. Bleibt die Besteuerung der Lebensmittelumsätze mit 7% unverändert, verringern sich die disponiblen Mehreinnahmenerheblich;
denn die Umsätze mit Lebensmitteln machen über 70% der gesamten
ermäßigt besteuerten Umsätze aus. Ließe man nur die Nahrungsmittelkäufe der privaten Haushalte unverändert mit 7% Umsatzsteuer belastet
und besteuerte alle anderen bisher ermäßigt besteuerten Güter und
Dienstleistungen dagegen mit 19%, ergäben sich „unter dem Strich"
aber immer noch Umsatzsteuermehreinnahmen von über 6,7 Mrd. Euro.
Das gesamte Umsatzsteueraufkommen fließt nach einem festgelegten
Verteilungsschlüssel Bund, Ländern, Gemeinden und EU zu, wobei
der Bund mit über 50%ammeisten profitiert.
2. Übersicht über die finanziellen Auswirkungen
ermäßigt besteuerter Umsätze
Der 22. Subventionsbericht der Bundesregierung1 weist unter den 20
größten Steuervergünstigungen allein vier Umsatzsteuerermäßigungen
mit einem Volumen von fast 3,9 Mrd. Euro aus. Es handelt sich
hierbei um Umsatzsteuerermäßigungen: für kulturelle und unterhaltende
Leistungen mit 1 815 Mio. Euro, für den öffentlichen Personennahverkehr
mit 830 Mio. Euro, für Beherbergungsleistungen mit
945 Mio. Euro und für Zahntechniker- und bestimmte Zahnärzteleistungen
mit 415 Mio. Euro. In der nachfolgenden Tabelle sind die wesentlichen
Steuertatbestände aufgeführt, die ermäßigt besteuert werden.
Spalten 2 und 3 weisen die Umsatzsteuereinnahmen nach einer
Besteuerung mit 7% und alternativ mit 19% aus. Spalte 4 enthält die
Beträge der jeweiligen Umsatzsteuermehreinnahmen, die entstehen
würden, wenn die Lieferungen und Leistungen statt dem ermäßigten
Steuersatz dem Regelsteuersatz unterlägen.
1
Finanzielle Auswirkungen ermäßigt besteuerter Umsätze nach § 12 Abs. 2 UStG im Jahr 2010
Steuertatbestand USt
bei 7%
USt
bei 19%
Mehreinnahmen
1 2 3 4
Nahrungsmittelkäufe der privaten Haushalte
(§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG)
9 450 25 650 16 200
Lieferungen, Eigenverbrauch und Einfuhren von landwirtschaftlichen
Vorprodukten (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V. mit
Anlage 2, Nrn. 1, 19, 23, 37, 45, 48)
120 320 200
Bestimmte alkoholfreie Getr_nke, z. B. Wasser, Milch, Tee,
Kaffee (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V. mit Anlage 2,
Nrn. 4, 12, 34, 35)
470 1 270 800
Lieferungen, Eigenverbrauch und Einfuhren von landwirtschaftlichen
Erzeugnissen (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V. mit
Anlage 2, Nrn. 6 bis 9, 13, 28; § 12 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 UStG)
425 1 155 730
Besteuerung von Hunde- und Katzenfutter (§ 12 Abs. 2 Nr. 1
UStG i.V. mit Anlage 2, Nr. 37)
180 480 300
Kulturelle und unterhaltende Leistungen (§ 12 Abs. 2 Nrn. 1
und 2 UStG i.V. mit Anlage 2, Nrn. 49, 53 u. 54 sowie § 12
Abs. 2 Nr. 7 UStG)
1 055 2 870 1 815
Lieferungen, Eigenverbrauch und Einfuhren von Krankenfahrstühlen, Körperersatzstücken und orthopädischen Hilfsmitteln
(§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.mit Anlage 2, Nrn. 51 und 52)
230 625 395
Umsätze aus der Tätigkeit als Zahntechniker sowie für die
Lieferungen und Wiederherstellungen von Zahnprothesen
und kieferorthopädischen Apparaten durch Zahnärzte
(§ 12 Abs. 2 Nr. 6 UStG)
250 665 415
Leistungen gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Einrichtungen
u. a. (§ 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG)
150 400 250
Leistungen der Schwimm- und Heilbäder und Bereitstellung
von Kureinrichtungen (§ 12 Abs. 2 Nr. 9 UStG)
25 65 40
Personenbeförderung im öffentlichen Nahverkehr
(§ 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG)
485 1 315 830
Beherbergungsleistungen (§ 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG) 555 1500 945
Summe: 13 395 36 315 22 920
Finanzielle Auswirkungen wurden ermittelt aus Angaben des 22. Subventionsberichts der Bundesregierung,
Angaben des Statistischen Bundesamtes (Genesis-online) und aus Angaben des
Agrarberichts 2007.
1 Bericht der Bundesregierung _ber die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuerverg_nstigungen
für die Jahre 2007 - 2010 (22. Subventionsbericht).
Aus der Übersicht ergibt sich, dass nach den Nahrungsmittelkäufen
privater Haushalte (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG) insbesondere die Umsätze für kulturelle und unterhaltende Leistungen (§ 12 Abs. 2 Nrn. 1
und 2 UStG i.V.m. den Nrn. 49, 53 und 54 der Anlage 2 zum UStG
sowie § 12 Abs. 2 Nr. 7 UStG), die Personenbeförderung im öffentlichen
Nahverkehr (§ 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG) und die erst zum
1.1.2010 neu eingeführte Begünstigung für Beherbergungsleistungen
(§ 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG) fiskalisch von großer Bedeutung sind.
Würde der Gesetzgeber allein für die letztgenannten drei Bereiche -
bei denen es sich um Subventionen handelt - eine Besteuerung mit
dem Normalsatz beschließen, ergäben sich daraus rechnerisch Umsatzsteuermehreinnahmen
in einer Größenordnung von fast 3,6 Mrd.
Euro pro Jahr. Nähme man hiervon einen Abschlag von rd. 20% für
Verhaltensänderungen der Verbraucher vor, bliebe immer noch ein
Steuerplus von jährlich rund 2,9 Mrd. Euro.
II. Bewertung und Zielsetzung
Die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes führt in der Praxis
vielfach zu missbräuchlichen Gestaltungen, Mitnahmeeffekten
und Abgrenzungsschwierigkeiten. Aus heutiger Sicht erfüllen nur wenige
Ermäßigungstatbestände das Kriterium, das soziokulturelle Existenzminimum
zu schonen. Das positivste Beispiel hierfür ist die Steuerermäßigung für Lebensmittel. Dagegen haben mehrere bestehende
Regelungen ausgesprochenen Subventionscharakter und sind deshalb
mit Recht im 22. Subventionsbericht der Bundesregierung aufgeführt.
Außerdem zeigen Studien, dass eine Ermäßigung der Umsatzsteuer
kein geeignetes Mittel ist, Preise zu senken und den Verbraucher zu
entlasten (vgl. Ermäßigung für Beherbergungsleistungen). Darüber
hinaus sind einige bestehende Ermäßigungstatbestände gemeinschaftsrechtlich
problematisch.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen hat die Umsatzsteuer eine regressive
Wirkung, d.h. niedrige Einkommen werden relativ stärker
belastet als hohe. Diese Wirkung ergibt sich, weil Haushalte mit niedrigem
Einkommen nahezu ihre gesamten Verfügungsmittel für Konsumgüter ausgeben. Dagegen sinkt bei steigenden Einkommen der
Konsumanteil am Gesamteinkommen und damit einhergehend auch
die anteilige Steuerbelastung. Die Belastung möglichst vieler bisher
begünstigt besteuerter Lieferungen und Leistungen mit dem Regelsteuersatz
diente letztlich auch der Steuervereinfachung.
Umsatzsteuerermäßigungen sind nach einem Beschluss des BVerfG
vom 10.11.19992 nur im Interesse der Verbraucher systemgerecht,
nicht jedoch im Interesse einzelner Unternehmensgruppen. Sie bedürfen deshalb schon aus verfassungsrechtlichen Gründen einer
Überprüfung.
Die sich aus der Abschaffung einzelner Ermäßigungstatbestände ergebenden
Mehreinnahmen ließen sich z. B. für eine Senkung des Regelsteuersatzes
oder zur Tilgung der Staatsschulden verwenden. Andererseits:
Was spricht dagegen, die in der vorstehenden Tabelle unter I. 2.
Spalte 4 ausgewiesenen Umsatzsteuermehreinnahmen (22920 Mio.
Euro) ohne die Mehreinnahmen für Nahrungsmittelkäufe (-16200
Mio. Euro) und Leistungen der Zahntechniker und Zahnärzte
(-415 Mio. Euro) in Höhe von verbleibenden 6305 Mio. Euro für entstehende
Mindereinnahmen durch die vom Gemeinschaftsrecht gebotene
Umsatzsteuerbefreiung der Zahntechniker-/Zahnarztumsätze zu
verwenden?
Das Fazit des vom BMF auf Bitten der Regierungsfraktionen des
Deutschen Bundestags vergebenen Forschungsgutachtens mit dem Titel
„Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten
Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-,
steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten" lautet: „Für die allermeisten
Umsatzsteuersatzermäßigungen gibt es keine tragfähige
Begründung. In Zukunft sollten daher prinzipiell alle umsatzsteuerpflichtigen
Leistungen dem Regelsatz unterliegen. Ein ermäßigter
Steuersatz erscheint nur für Lebensmittel gerechtfertigt".3 Es darf mit
großer Spannung erwartet werden, welche Schlussfolgerungen die Politik
aus dieser Erkenntnis zieht. Im Herbst dieses Jahres sind Entscheidungen
gefragt.
// Autor
Alfred Kruhl verfasst nach seiner jahrelangen Tätigkeit
in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums der
Finanzen gelegentlich Aufsätze zu aktuellen steuer- und
tagespolitischen Themen.
2 BvR 1820/92, BStBl. II 2000, 158.
3 Siehe letzte Seite der Kurzfassung des Forschungsgutachtens vom September 2010.