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Steuerrecht
14.12.2010
Steuerrecht
Nochmals: Der ermäßigte Umsatzsteuersatz auf dem Prüfstand

Im Nachgang zu dem Beitrag in BB Heft 46/2010, 2798, Link zu diesem Artikel sind neue Zahlen

bekannt geworden, die für die anstehende Diskussion wichtig erscheinen.

Da der Verlag versehentlich noch die „alte Fassung" abgedruckt

hat, werden nachfolgend die aktuellen Daten vorgestellt und die einschlägigen Textpassagen ersetzt. Im Übrigen behalten die o.a. Ausführungen

des Autors ihre Gültigkeit.

I. Der derzeitige Stand des Rechts

1. Fiskalische Bedeutung der Umsatzsteuer

Die Umsatzsteuer ist mit Abstand die ertragreichste Einnahmequelle

des Bundes. Nach der letzten amtlichen Steuerschätzung vom November

2010 werden für dieses Jahr mit rd. 180 Mrd. Euro Umsatzsteuer

etwa 3 Milliarden mehr erwartet als im Vorjahr. Der bisher gute Konjunkturverlauf

in diesem Jahr dürfte diese Prognose noch positiv verändern.

Da der Anteil der Umsatzsteuereinnahmen, der auf den ermäßigten

Umsatzsteuer entfällt, knapp 7,5% des gesamten Umsatzsteueraufkommens

ausmacht, ergeben sich hieraus für 2010 schätzungsweise

Umsatzsteuereinnahmen von knapp 13,5 Mrd. Euro (7,5% von 180

Mrd. Euro = 13,5 Mrd. Euro). Oder anders ausgedrückt: Würde man

sämtlich Lieferungen und Leistungen, die dem ermäßigten Umsatzsteuersatz

unterliegen, statt mit 7% künftig mit 19% besteuern, ergäben sich daraus rechnerisch Umsatzsteuermehreinnahmen in Höhe

von circa 23 Mrd. Euro (13,5 Mrd. Euro dividiert durch 7 mal 19 = 36,5

Mrd. Euro minus 13,5 Mrd. Euro = 23 Mrd. Euro). Allerdings ist bei

diesem Aspekt zu berücksichtigen: Es handelt sich hierbei um eine rein

rechnerisch/theoretische Betrachtungsweise; denn die Besteuerung von

Lebensmitteln mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz stellt eine soziale

Komponente dar, die politisch kaum zur Disposition gestellt werden

kann. Bleibt die Besteuerung der Lebensmittelumsätze mit 7% unverändert, verringern sich die disponiblen Mehreinnahmenerheblich;

denn die Umsätze mit Lebensmitteln machen über 70% der gesamten

ermäßigt besteuerten Umsätze aus. Ließe man nur die Nahrungsmittelkäufe der privaten Haushalte unverändert mit 7% Umsatzsteuer belastet

und besteuerte alle anderen bisher ermäßigt besteuerten Güter und

Dienstleistungen dagegen mit 19%, ergäben sich „unter dem Strich"

aber immer noch Umsatzsteuermehreinnahmen von über 6,7 Mrd. Euro.

Das gesamte Umsatzsteueraufkommen fließt nach einem festgelegten

Verteilungsschlüssel Bund, Ländern, Gemeinden und EU zu, wobei

der Bund mit über 50%ammeisten profitiert.

2. Übersicht über die finanziellen Auswirkungen

ermäßigt besteuerter Umsätze

Der 22. Subventionsbericht der Bundesregierung1 weist unter den 20

größten Steuervergünstigungen allein vier Umsatzsteuerermäßigungen

mit einem Volumen von fast 3,9 Mrd. Euro aus. Es handelt sich

hierbei um Umsatzsteuerermäßigungen: für kulturelle und unterhaltende

Leistungen mit 1 815 Mio. Euro, für den öffentlichen Personennahverkehr

mit 830 Mio. Euro, für Beherbergungsleistungen mit

945 Mio. Euro und für Zahntechniker- und bestimmte Zahnärzteleistungen

mit 415 Mio. Euro. In der nachfolgenden Tabelle sind die wesentlichen

Steuertatbestände aufgeführt, die ermäßigt besteuert werden.

Spalten 2 und 3 weisen die Umsatzsteuereinnahmen nach einer

Besteuerung mit 7% und alternativ mit 19% aus. Spalte 4 enthält die

Beträge der jeweiligen Umsatzsteuermehreinnahmen, die entstehen

würden, wenn die Lieferungen und Leistungen statt dem ermäßigten

Steuersatz dem Regelsteuersatz unterlägen.

1

Finanzielle Auswirkungen ermäßigt besteuerter Umsätze nach § 12 Abs. 2 UStG im Jahr 2010

Steuertatbestand USt

bei 7%

USt

bei 19%

Mehreinnahmen

1 2 3 4

Nahrungsmittelkäufe der privaten Haushalte

(§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG)

9 450 25 650 16 200

Lieferungen, Eigenverbrauch und Einfuhren von landwirtschaftlichen

Vorprodukten (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V. mit

Anlage 2, Nrn. 1, 19, 23, 37, 45, 48)

120 320 200

Bestimmte alkoholfreie Getr_nke, z. B. Wasser, Milch, Tee,

Kaffee (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V. mit Anlage 2,

Nrn. 4, 12, 34, 35)

470 1 270 800

Lieferungen, Eigenverbrauch und Einfuhren von landwirtschaftlichen

Erzeugnissen (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V. mit

Anlage 2, Nrn. 6 bis 9, 13, 28; § 12 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 UStG)

425 1 155 730

Besteuerung von Hunde- und Katzenfutter (§ 12 Abs. 2 Nr. 1

UStG i.V. mit Anlage 2, Nr. 37)

180 480 300

Kulturelle und unterhaltende Leistungen (§ 12 Abs. 2 Nrn. 1

und 2 UStG i.V. mit Anlage 2, Nrn. 49, 53 u. 54 sowie § 12

Abs. 2 Nr. 7 UStG)

1 055 2 870 1 815

Lieferungen, Eigenverbrauch und Einfuhren von Krankenfahrstühlen, Körperersatzstücken und orthopädischen Hilfsmitteln

(§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.mit Anlage 2, Nrn. 51 und 52)

230 625 395

Umsätze aus der Tätigkeit als Zahntechniker sowie für die

Lieferungen und Wiederherstellungen von Zahnprothesen

und kieferorthopädischen Apparaten durch Zahnärzte

(§ 12 Abs. 2 Nr. 6 UStG)

250 665 415

Leistungen gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Einrichtungen

u. a. (§ 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG)

150 400 250

Leistungen der Schwimm- und Heilbäder und Bereitstellung

von Kureinrichtungen (§ 12 Abs. 2 Nr. 9 UStG)

25 65 40

Personenbeförderung im öffentlichen Nahverkehr

(§ 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG)

485 1 315 830

Beherbergungsleistungen (§ 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG) 555 1500 945

Summe: 13 395 36 315 22 920

Finanzielle Auswirkungen wurden ermittelt aus Angaben des 22. Subventionsberichts der Bundesregierung,

Angaben des Statistischen Bundesamtes (Genesis-online) und aus Angaben des

Agrarberichts 2007.

1 Bericht der Bundesregierung _ber die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuerverg_nstigungen

für die Jahre 2007 - 2010 (22. Subventionsbericht).

Aus der Übersicht ergibt sich, dass nach den Nahrungsmittelkäufen

privater Haushalte (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG) insbesondere die Umsätze für kulturelle und unterhaltende Leistungen (§ 12 Abs. 2 Nrn. 1

und 2 UStG i.V.m. den Nrn. 49, 53 und 54 der Anlage 2 zum UStG

sowie § 12 Abs. 2 Nr. 7 UStG), die Personenbeförderung im öffentlichen

Nahverkehr (§ 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG) und die erst zum

1.1.2010 neu eingeführte Begünstigung für Beherbergungsleistungen

(§ 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG) fiskalisch von großer Bedeutung sind.

Würde der Gesetzgeber allein für die letztgenannten drei Bereiche -

bei denen es sich um Subventionen handelt - eine Besteuerung mit

dem Normalsatz beschließen, ergäben sich daraus rechnerisch Umsatzsteuermehreinnahmen

in einer Größenordnung von fast 3,6 Mrd.

Euro pro Jahr. Nähme man hiervon einen Abschlag von rd. 20% für

Verhaltensänderungen der Verbraucher vor, bliebe immer noch ein

Steuerplus von jährlich rund 2,9 Mrd. Euro.

II. Bewertung und Zielsetzung

Die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes führt in der Praxis

vielfach zu missbräuchlichen Gestaltungen, Mitnahmeeffekten

und Abgrenzungsschwierigkeiten. Aus heutiger Sicht erfüllen nur wenige

Ermäßigungstatbestände das Kriterium, das soziokulturelle Existenzminimum

zu schonen. Das positivste Beispiel hierfür ist die Steuerermäßigung für Lebensmittel. Dagegen haben mehrere bestehende

Regelungen ausgesprochenen Subventionscharakter und sind deshalb

mit Recht im 22. Subventionsbericht der Bundesregierung aufgeführt.

Außerdem zeigen Studien, dass eine Ermäßigung der Umsatzsteuer

kein geeignetes Mittel ist, Preise zu senken und den Verbraucher zu

entlasten (vgl. Ermäßigung für Beherbergungsleistungen). Darüber

hinaus sind einige bestehende Ermäßigungstatbestände gemeinschaftsrechtlich

problematisch.

Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen hat die Umsatzsteuer eine regressive

Wirkung, d.h. niedrige Einkommen werden relativ stärker

belastet als hohe. Diese Wirkung ergibt sich, weil Haushalte mit niedrigem

Einkommen nahezu ihre gesamten Verfügungsmittel für Konsumgüter ausgeben. Dagegen sinkt bei steigenden Einkommen der

Konsumanteil am Gesamteinkommen und damit einhergehend auch

die anteilige Steuerbelastung. Die Belastung möglichst vieler bisher

begünstigt besteuerter Lieferungen und Leistungen mit dem Regelsteuersatz

diente letztlich auch der Steuervereinfachung.

Umsatzsteuerermäßigungen sind nach einem Beschluss des BVerfG

vom 10.11.19992 nur im Interesse der Verbraucher systemgerecht,

nicht jedoch im Interesse einzelner Unternehmensgruppen. Sie bedürfen deshalb schon aus verfassungsrechtlichen Gründen einer

Überprüfung.

Die sich aus der Abschaffung einzelner Ermäßigungstatbestände ergebenden

Mehreinnahmen ließen sich z. B. für eine Senkung des Regelsteuersatzes

oder zur Tilgung der Staatsschulden verwenden. Andererseits:

Was spricht dagegen, die in der vorstehenden Tabelle unter I. 2.

Spalte 4 ausgewiesenen Umsatzsteuermehreinnahmen (22920 Mio.

Euro) ohne die Mehreinnahmen für Nahrungsmittelkäufe (-16200

Mio. Euro) und Leistungen der Zahntechniker und Zahnärzte

(-415 Mio. Euro) in Höhe von verbleibenden 6305 Mio. Euro für entstehende

Mindereinnahmen durch die vom Gemeinschaftsrecht gebotene

Umsatzsteuerbefreiung der Zahntechniker-/Zahnarztumsätze zu

verwenden?

Das Fazit des vom BMF auf Bitten der Regierungsfraktionen des

Deutschen Bundestags vergebenen Forschungsgutachtens mit dem Titel

„Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten

Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-,

steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten" lautet: „Für die allermeisten

Umsatzsteuersatzermäßigungen gibt es keine tragfähige

Begründung. In Zukunft sollten daher prinzipiell alle umsatzsteuerpflichtigen

Leistungen dem Regelsatz unterliegen. Ein ermäßigter

Steuersatz erscheint nur für Lebensmittel gerechtfertigt".3 Es darf mit

großer Spannung erwartet werden, welche Schlussfolgerungen die Politik

aus dieser Erkenntnis zieht. Im Herbst dieses Jahres sind Entscheidungen

gefragt.

// Autor

Alfred Kruhl verfasst nach seiner jahrelangen Tätigkeit

in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums der

Finanzen gelegentlich Aufsätze zu aktuellen steuer- und

tagespolitischen Themen.

2 BvR 1820/92, BStBl. II 2000, 158.

3 Siehe letzte Seite der Kurzfassung des Forschungsgutachtens vom September 2010.

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