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Steuerrecht
19.09.2024
Steuerrecht
EuGH: Berichtigung des Vorsteuerabzugs – verlängerter Berichtigungszeitraum für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden – Begriff „Investitionsgüter“ – Art. 190 (Belgisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 12.9.2024 – C-243/23, Belgische Staat/Federale Overheidsdienst Financiën gegen L BV

ECLI:EU:C:2024:736

Volltext BB-Online BBL2024-2197-2

 

Tenor

1. Der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung über die Berichtigung der Vorsteuerabzüge entgegensteht, nach der der gemäß Art. 187 für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, festgelegte verlängerte Berichtigungszeitraum nicht auf Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, anwendbar ist, die eine umfangreiche Erweiterung und/oder tiefgreifende Renovierung des Gebäudes mit sich bringen, auf das sich die Bauleistungen beziehen, und deren rechtliche Auswirkungen eine wirtschaftliche Nutzungsdauer haben, die der wirtschaftlichen Nutzungsdauer eines neuen Gebäudes entspricht.

2. Der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Richtlinie 2006/112/EG ist dahin auszulegen, dass ihm unmittelbare Wirkung in dem Sinne zukommt, dass sich ein Steuerpflichtiger vor einem nationalen Gericht gegenüber der zuständigen Steuerbehörde auf ihn berufen kann, damit auf die zu seinen Gunsten erbrachten Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, der für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, vorgesehene längere Berichtigungszeitraum angewandt wird, wenn die Behörde es unter Berufung auf eine nationale Regelung wie die in der ersten Frage genannte abgelehnt hat, diesen längeren Berichtigungszeitraum anzuwenden.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 187 und 189 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem belgischen Staat/Federale Overheidsdienst Financiën (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen) (im Folgenden: Steuerbehörde) und der L BV über die Dauer des Berichtigungszeitraums, der für den Abzug der Mehrwertsteuer gilt, die auf Arbeiten an einem von der L BV für ihre wirtschaftliche Tätigkeit genutzten Gebäude entrichtet wurde.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Sechste Richtlinie

3          Art. 20 Abs. 2 und 4 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. 1995, L 102, S. 18) und die Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom 24. Juli 2006 (ABl. 2006, L 221, S. 9) geänderten Fassung (im Folgenden „Sechste Richtlinie“), die durch die Mehrwertsteuerrichtlinie aufgehoben und ersetzt wurde, bestimmte:

„(2) Für Investitionsgüter wird eine Berichtigung vorgenommen, die sich auf einen Zeitraum von fünf Jahren einschließlich des Jahres, in dem die Güter erworben oder hergestellt wurden, erstreckt. Die jährliche Berichtigung betrifft nur ein Fünftel der Steuer, mit der diese Güter belastet waren. Die Berichtigung erfolgt unter Berücksichtigung der Änderungen des Anspruchs auf Vorsteuerabzug in den folgenden Jahren gegenüber dem Anspruch für das Jahr, in dem die Güter erworben oder hergestellt wurden.

Bei Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden, kann der Zeitraum für die Berichtigung bis auf 20 Jahre verlängert werden.

(4) Zur Durchführung [von Absatz 2] können die Mitgliedstaaten

– den Begriff ‚Investitionsgüter‘ bestimmen;

Die Mitgliedstaaten können [Absatz 2] auch auf Dienstleistungen anwenden, die Merkmale aufweisen, die den üblicherweise Investitionsgütern zugeschriebenen vergleichbar sind.“

 

4          Mit Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 95/7 war Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie geändert worden. Der fünfte Erwägungsgrund der Richtlinie 95/7 sah vor:

„Der Zeitraum, der der Berechnung der Berichtigungen gemäß Artikel 20 Absatz 2 der [Sechsten] Richtlinie zugrunde liegt, sollte von den Mitgliedstaaten für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, auf 20 Jahre verlängert werden können, wobei ihrer wirtschaftlichen Lebensdauer Rechnung zu tragen ist.“

 

5          Mit Art. 1 Abs. 6 der Richtlinie 2006/69 war Art. 20 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie eingefügt worden. Der fünfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/69 sah vor:

„Es sollte hervorgehoben werden, dass Dienstleistungen, die die Merkmale von Investitionsgütern aufweisen, gemäß der Regelung behandelt werden können, die eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs für Investitionsgüter entsprechend ihrer tatsächlichen Nutzungsdauer vorsieht.“

 

Mehrwertsteuerrichtlinie

6          In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

 

7            Art. 12 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten können Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere einen der folgenden Umsätze bewirken:

a) Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt;

(2) Als ‚Gebäude‘ im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk.

Die Mitgliedstaaten können die Einzelheiten der Anwendung des in Absatz 1 Buchstabe a genannten Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden und den Begriff ‚dazugehöriger Grund und Boden‘ festlegen.

…“

 

8          Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“

 

9          Art. 24 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist“.

 

10        Art. 135 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

j) Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als den in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a genannten;

…“

 

11        Art. 168 der Richtlinie bestimmt:

 

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

 

12        Art. 184 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.“

 

13        Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.“

 

14        In Art. 187 der Richtlinie heißt es:

„(1) Bei Investitionsgütern erfolgt die Berichtigung während eines Zeitraums von fünf Jahren einschließlich des Jahres, in dem diese Güter erworben oder hergestellt wurden.

Bei Grundstücken, die als Investitionsgut erworben wurden, kann der Zeitraum für die Berichtigung bis auf 20 Jahre verlängert werden.

(2) Die jährliche Berichtigung betrifft nur ein Fünftel beziehungsweise im Falle der Verlängerung des Berichtigungszeitraums den entsprechenden Bruchteil der Mehrwertsteuer, mit der diese Investitionsgüter belastet waren.

Die in Unterabsatz 1 genannte Berichtigung erfolgt entsprechend den Änderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug, die in den folgenden Jahren gegenüber dem Recht für das Jahr eingetreten sind, in dem die Güter erworben, hergestellt oder gegebenenfalls erstmalig verwendet wurden.“

 

15        Art. 189 der Richtlinie sieht vor:

„Für die Zwecke der Artikel 187 und 188 können die Mitgliedstaaten folgende Maßnahmen treffen:

a) den Begriff ‚Investitionsgüter‘ definieren;

…“

 

16        Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Für die Zwecke der Artikel 187, 188, 189 und 191 können die Mitgliedstaaten Dienstleistungen, die Merkmale aufweisen, die den üblicherweise Investitionsgütern zugeschriebenen vergleichbar sind, wie Investitionsgüter behandeln.“

 

Belgisches Recht

17        Art. 1 § 9 Nr. 1 der Wet tot invoering van het Wetboek van de belasting over de toegevoegde waarde (Gesetz zur Einführung des Mehrwertsteuergesetzbuchs) vom 3. Juli 1969 (Belgisch Staatsblad vom 17. Juli 1969, S. 7046) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) bestimmt:

„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzbuches gilt als:

1. Gebäude oder Gebäudeteil jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk“.

 

18        Art. 48 § 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs bestimmt:

„Der Vorsteuerabzug auf Investitionsgüter und auf Dienstleistungen mit Merkmalen, die mit denen vergleichbar sind, die normalerweise Investitionsgütern zugeschrieben werden, kann während eines Zeitraums von fünf Jahren Gegenstand einer Berichtigung sein. Die Berichtigung erfolgt jedes Jahr im Verhältnis zu einem Fünftel des Betrags dieser Steuern, wenn Änderungen in den Faktoren aufgetreten sind, die für die Berechnung des Abzugs berücksichtigt worden sind.

Für die Steuer auf Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, die der König bestimmt, beläuft sich der Berichtigungszeitraum jedoch auf fünfzehn Jahre und die Berichtigung erfolgt jedes Jahr im Verhältnis zu einem Fünfzehntel des Betrags dieser Steuer.“

 

19        Nach Art. 49 des Mehrwertsteuergesetzbuchs legt der König die Bedingungen für die Anwendung der Art. 45 bis 48 fest.

 

20        Art. 9 des Koninklijk besluit nr. 3 met betrekking tot de aftrekregeling voor de toepassing van de belasting over de toegevoegde waarde (Königlicher Erlass Nr. 3 über Vorsteuerabzüge für die Anwendung der Mehrwertsteuer) vom 10. Dezember 1969 (Belgisch Staatsblad vom 12. Dezember 1969, S. 12006) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Königlicher Erlass Nr. 3) sieht vor:

„§ 1 Für Steuern auf Investitionsgüter kann der ursprünglich von den Steuerpflichtigen vorgenommene Vorsteuerabzug während eines Zeitraums von fünf Jahren ab dem 1. Januar des Jahres, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, Gegenstand einer Berichtigung sein.

Für Steuern auf unbewegliche Investitionsgüter beläuft sich dieser Zeitraum jedoch auf fünfzehn Jahre.

Unter Steuern auf unbewegliche Investitionsgüter versteht man Steuern auf:

1. Umsätze, die zur Errichtung von Gütern wie in Artikel 1 § 9 Absatz 1 des [Mehrwertsteuergesetzbuchs] erwähnt führen oder beitragen,

2. den Erwerb von Gütern wie in Artikel 1 § 9 des [Mehrwertsteuergesetzbuchs] erwähnt,

3. den Erwerb eines in Artikel 9 Absatz 2 Nr. 2 des [Mehrwertsteuergesetzbuchs] erwähnten dinglichen Rechts an Gütern wie in Artikel 1 § 9 des [Mehrwertsteuergesetzbuchs] erwähnt.

…“

 

21        Art. 21bis § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Königlichen Erlasses Nr. 3 bestimmt, dass Steuerpflichtige, die Tätigkeiten ausüben, die steuerfrei sind und die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen, wenn sie für dieselben Tätigkeiten zu Steuerpflichtigen werden, die Umsätze bewirken, die zum Vorsteuerabzug berechtigen, im Wege von Berichtigungen ihr Recht auf Vorsteuerabzug insbesondere für Investitionsgüter ausüben können, die zum Zeitpunkt dieser Änderung noch bestehen, insofern diese Güter noch verwendbar sind und der in Art. 48 § 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs festgelegte Zeitraum noch nicht abgelaufen ist.

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22        Die L BV ist eine Rechtsanwaltsgesellschaft. Zur Ausübung dieser wirtschaftlichen Tätigkeit verfügt sie über eine Immobilie, die von ihrem Geschäftsführer auch zu Wohnzwecken genutzt wird.

 

23        In den Jahren 2007 bis 2015 wurden umfangreiche Arbeiten an diesem Gebäude durchgeführt, nach deren Abschluss es sich nunmehr aus einem renovierten Hauptgebäude und einem renovierten Zwischengebäude sowie einem neu errichteten Keller, Glasanbau und Aufzugschacht zusammensetzt. Die verschiedenen Räume werden durch Korridore im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss miteinander verbunden, wobei der Aufzugschacht es darüber hinaus ermöglicht, alle Stockwerke des Haupt- und des Zwischengebäudes zu erreichen. Mitte 2015 wurden die Arbeiten vollständig abgeschlossen und das Gebäude konnte wieder in Betrieb genommen werden.

 

24        Dem gesamten Gebäude wurde ein einziges „Katastereinkommen“ zugewiesen, das sich vor Beginn der Arbeiten auf 2 456 Euro und nach Abschluss der Arbeiten auf 3 850 Euro belief. Das so umgebaute Gebäude war zu 40 % für private Zwecke und zu 60 % für geschäftliche Zwecke bestimmt.

 

25        Am 1. Januar 2014 hob das Königreich Belgien die bis dahin für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs geltende Mehrwertsteuerbefreiung auf, so dass die L BV seither als Mehrwertsteuerpflichtige registriert ist.

 

26        Die L BV berichtigte sodann die Vorsteuerabzüge, indem sie einen Teil der Mehrwertsteuer abzog, die sie auf die Kosten der betreffenden Arbeiten entrichtet hatte und die sie nicht abziehen konnte, als ihre Tätigkeit steuerfrei war, wobei sie der Ansicht war, dass der für diese Arbeiten geltende Berichtigungszeitraum noch andauere.

 

27        Die L BV stützte sich dabei auf die Prämisse, dass es sich bei diesen Arbeiten um Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, handele, die einem längeren Berichtigungszeitraum von 15 Jahren und nicht dem für Investitionsgüter, die keine Grundstücke sind, geltenden üblichen Berichtigungszeitraum von fünf Jahren unterlägen.

 

28        Am 28. August und am 1. Dezember 2015 führte die Steuerbehörde am Sitz der L BV jeweils eine unangekündigte Steuerprüfung für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 30. September 2015 durch. Im Anschluss an diese Prüfung räumte die Steuerbehörde zwar ein, dass die L BV grundsätzlich das Recht habe, die Vorsteuerabzüge für die betreffenden Bauleistungen zu berichtigen, kam aber zu dem Schluss, dass diese Arbeiten nicht die Errichtung eines neuen Gebäudes zur Folge gehabt hätten, sondern nur zur Verbesserung und Renovierung des bestehenden Gebäudes geführt hätten, so dass der Berichtigungszeitraum von fünf Jahren anzuwenden sei.

 

29        Die Steuerbehörde war somit der Ansicht, dass die Berichtigung der diese Arbeiten betreffenden Vorsteuerabzüge zu korrigieren sei, und stellte der L BV am 25. Oktober 2017 einen Zahlungsbescheid zu, dem zufolge die L BV einen gewissen Mehrwertsteuerbetrag im Zusammenhang mit den Vorsteuerabzügen schulde.

 

30        Auf eine Klage der L BV hin befand die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, Belgien) mit Urteil vom 10. März 2020, dass der gesamte von dieser Gesellschaft errichtete Glasanbau und Aufzugschacht sowie das von ihr renovierte Zwischengebäude als neu errichtete Gebäudeteile anzusehen seien, die Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, darstellten, so dass die L BV nach Ansicht dieses Gerichts zum Abzug der Mehrwertsteuer auf diese Arbeiten in Höhe von 60 % berechtigt war.

 

31        Die Steuerbehörde legte gegen dieses Urteil beim Hof van Beroep te Gent (Appellationshof Gent, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Die L BV legte ihrerseits Anschlussberufung ein.

 

32        Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Berufung der Steuerbehörde insoweit begründet sei, als der Aufzugschacht und die beiden hinteren Bauten des Hauptgebäudes jeweils nicht als „Gebäudeteile“ im Sinne von Art. 1 § 9 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs angesehen werden könnten.

 

33        Es führt jedoch in Bezug auf die Anschlussberufung der L BV aus, dass nach belgischem Recht bei Arbeiten an einem bestehenden Gebäude der verlängerte Berichtigungszeitraum von 15 Jahren für die Mehrwertsteuer, die auf diese Arbeiten erhoben worden sei, nur angewandt werde, wenn nach deren Durchführung für die Zwecke der Mehrwertsteuer ein „neues Bauwerk“ vorliege. Daher sei dieser Zeitraum von 15 Jahren nicht auf Bauleistungen anwendbar, die keinen Umbau beinhalteten, der für die Zwecke der Mehrwertsteuer faktisch zur Errichtung eines „neuen“ Gebäudes führe, auch wenn diese Bauleistungen aufgrund ihrer Art und ihres Umfangs dem Gebäude, an dem sie ausgeführt würden, eine wirtschaftliche Nutzungsdauer verschafften, die ebenso lang sei wie die wirtschaftliche Nutzungsdauer neuer Gebäude.

 

34        Wie die L BV bezweifelt das vorlegende Gericht jedoch, dass diese Regelung mit der Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere mit deren Art. 187 und 189, vereinbar sei.

 

35        Denn erstens fiele aufgrund der Regelung im Wesentlichen nur die Errichtung eines Gebäudes oder eines Gebäudeteils unter den Begriff „Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden“, obwohl die Art. 187 und 189 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Inhalt dieses Begriffs ihrerseits keineswegs derart einschränkten. Diese Artikel verwiesen im Übrigen auch nicht auf den Begriff „Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen … vor dem Erstbezug“ in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie, da diese Bestimmung lediglich erläutern solle, unter welchen Voraussetzungen die Übertragung eines Gebäudes der Mehrwertsteuer unterworfen werden könne. Es sei daher nicht gerechtfertigt, den Begriff „Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden“ in so enger Weise in das nationale Recht umzusetzen, wie es der belgische Gesetzgeber getan habe.

 

36        Zweitens seien Gebäude, an denen umfangreiche Umbauten vorgenommen worden seien, die ihnen eine wirtschaftliche Nutzungsdauer verschafften, die ebenso lang sei wie die wirtschaftliche Nutzungsdauer neuer Gebäude, mit neuen Gebäuden vergleichbar, wie im vorliegenden Fall dadurch belegt werde, dass die in Rede stehenden Arbeiten über einen Zeitraum von 33 Jahren abgeschrieben würden, und müssten im Hinblick auf die Mehrwertsteuer gleich behandelt werden, und zwar gemäß dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität als besonderem Ausdruck des Grundsatzes der Gleichbehandlung. In diesem Zusammenhang könne vertreten werden, dass der Begriff „Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden“ auf alle Güter anzuwenden sei, deren wirtschaftliche Nutzungsdauer erheblich länger sei als der übliche Berichtigungszeitraum von fünf Jahren.

 

37        Sollte dies der Fall sein, schließt das vorlegende Gericht nicht aus, dass sich die L BV auf die Mehrwertsteuerrichtlinie berufen könne, um gegen eine nationale Regelung vorzugehen, die gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie und die ihr zugrunde liegenden Grundsätze verstoße.

 

38        Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Gent (Appellationshof Gent) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Stehen die Art. 187 und 189 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden (Art. 48 § 2 und Art. 49 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in Verbindung mit Art. 9 des Königlichen Erlasses Nr. 3) entgegen, wonach der verlängerte Berichtigungszeitraum (von 15 Jahren) bei Umbauarbeiten an einem bestehenden Gebäude nur dann Anwendung findet, wenn nach Abschluss der Arbeiten auf der Grundlage der Kriterien des nationalen Rechts ein „neues Gebäude“ im Sinne von Art. 12 der Richtlinie vorliegt, obwohl die wirtschaftliche Nutzungsdauer eines grundlegend umgebauten Gebäudes (das nach den Kriterien des nationalen Rechts jedoch nicht als „neues Gebäude“ im Sinne von Art. 12 einzustufen ist) mit der wirtschaftlichen Nutzungsdauer eines neuen Gebäudes identisch ist, die erheblich länger ist als der in Art. 187 der Richtlinie vorgesehene Zeitraum von fünf Jahren, was u. a. dadurch belegt wird, dass die ausgeführten Arbeiten über einen Zeitraum von 33 Jahren abgeschrieben werden, der dem Abschreibungszeitraum für neue Gebäude entspricht?

2. Hat Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbare Wirkung, so dass sich ein Steuerpflichtiger, der Arbeiten an einem Gebäude ausgeführt hat, ohne dass diese Arbeiten dazu führen, dass das umgebaute Gebäude auf der Grundlage der Kriterien des nationalen Rechts als „neues Gebäude“ im Sinne von Art. 12 der Richtlinie einzustufen ist, wobei diese Arbeiten aber eine wirtschaftliche Nutzungsdauer haben, die mit der wirtschaftlichen Nutzungsdauer entsprechender neuer Gebäude, für die ein Berichtigungszeitraum von 15 Jahren gilt, identisch ist, auf die Anwendung des Berichtigungszeitraums von 15 Jahren berufen kann?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

39        Vorab ist festzustellen, dass die erste Frage den Berichtigungszeitraum im Sinne von Art. 187 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, der auf den Abzug der von der L BV auf die Erbringung der in Rede stehenden Bauleistungen entrichteten Mehrwertsteuer anzuwenden ist, d. h. entweder den in dieser Bestimmung für Investitionsgüter im Allgemeinen vorgesehenen Fünfjahreszeitraum oder den längeren Zeitraum von bis zu 20 Jahren, den die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung in Bezug auf Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, anwenden können, und der in Belgien gemäß Art. 48 § 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs und Art. 9 § 1 des Königlichen Erlasses Nr. 3 auf 15 Jahre festgesetzt worden ist.

 

40        Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten und den Erläuterungen der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung geht jedoch hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bauleistungen als Dienstleistungen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 24 der Mehrwertsteuerrichtlinie und nicht als Lieferung von Gegenständen der Mehrwertsteuer unterworfen wurden.

 

41        Im Übrigen hat die Steuerbehörde zur Anwendung des in Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Berichtigungszeitraums von fünf Jahren auf diese Arbeiten von der den Mitgliedstaaten nunmehr durch Art. 190 der Richtlinie eingeräumten und in Art. 48 § 2 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in belgisches Recht umgesetzten Befugnis Gebrauch gemacht, diejenigen Dienstleistungen Investitionsgütern gleichzustellen, die Merkmale aufweisen, die den üblicherweise mit Investitionsgütern verbundenen vergleichbar sind.

 

42        Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort auf die erste Frage zu geben, ist daher auch Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu berücksichtigen.

 

43        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 187, 189 und 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung über die Berichtigung der Vorsteuerabzüge entgegenstehen, nach der der gemäß Art. 187 für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, festgelegte verlängerte Berichtigungszeitraum nur dann auf Bauleistungen anwendbar ist, wenn diese so umfangreich sind, dass sie zu einem Umbau des Gebäudes im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie führen, so dass Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, ausgeschlossen werden, die, ohne zu einem solchen Umbau zu führen, eine umfangreiche Erweiterung und/oder tiefgreifende Renovierung des Gebäudes mit sich bringen und deren wirtschaftliche Nutzungsdauer der wirtschaftlichen Nutzungsdauer eines neuen Gebäudes entspricht.

 

44        Zur Beantwortung dieser Frage ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom 25. Juli 2018, Gmina Ryjewo, C‑140/17, EU:C:2018:595, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

45        Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 25. Juli 2018, Gmina Ryjewo, C‑140/17, EU:C:2018:595, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

46        Ebenso soll der in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Berichtigungsmechanismus, der Bestandteil dieser Abzugsregelung ist, die Genauigkeit der Abzüge in der Weise erhöhen, dass die steuerliche Neutralität gewährleistet wird, so dass die auf einer früheren Stufe bewirkten Umsätze weiterhin nur insoweit zum Abzug berechtigen, als sie der Erbringung von Leistungen dienen, die dieser Steuer unterliegen (Urteil vom 9. Juli 2020, Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler, C‑374/19, EU:C:2020:546, Rn. 20).

 

47        Insoweit nennen die Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie allgemein die Voraussetzungen, unter denen die nationale Finanzbehörde eine Berichtigung der ursprünglich als Vorsteuer abgezogenen Mehrwertsteuer zu verlangen hat, während die Art. 187 bis 192 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmte Einzelheiten der Berichtigung des Vorsteuerabzugs vorsehen, die für den Sonderfall der Investitionsgüter gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2020, Stichting Schoonzicht, C‑791/18, EU:C:2020:731, Rn. 27 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

48        So sieht Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Bezug auf diese Investitionsgüter vor, dass die Berichtigung während eines Zeitraums von fünf Jahren einschließlich des Jahres erfolgt, in dem diese Güter erworben oder hergestellt wurden.

 

49        Ein solcher Berichtigungszeitraum erlaubt es, Unrichtigkeiten bei der Berechnung der Abzüge und ungerechtfertigte Vorteile oder Nachteile für den Steuerpflichtigen zu vermeiden, etwa, wenn nach Abgabe der Steuererklärung Änderungen der ursprünglich für die Festlegung des Abzugsbetrags berücksichtigten Umstände eintreten. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Wahrscheinlichkeit solcher Änderungen besonders groß bei Investitionsgütern, die oft über mehrere Jahre verwendet werden, während deren sich ihre Zuordnung ändern kann, wobei die Kosten für ihren Erwerb über mehrere Jahre hinweg abgeschrieben werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2016, Mateusiak, C‑229/15, EU:C:2016:454, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

50        In diesem Rahmen bezieht sich Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie u. a. auf Fälle der Berichtigung der Vorsteuerabzüge, in denen ein Investitionsgut, dessen Verwendung kein Abzugsrecht eröffnet, später einer Verwendung zugeordnet wird, die ein solches Recht eröffnet (Urteil vom 25. Juli 2018, Gmina Ryjewo, C‑140/17, EU:C:2018:595, Rn. 31).

 

51        Speziell in Bezug auf Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, erlaubt Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten, den Zeitraum für die Berichtigung bis auf 20 Jahre zu verlängern.

 

52        Diese Bestimmung entspricht im Wesentlichen Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie, die durch die Mehrwertsteuerrichtlinie ersetzt wurde. Wie aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 95/7 hervorgeht, mit der diese Bestimmung geändert worden war, um den maximalen Berichtigungszeitraum für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, von 10 Jahren auf 20 Jahre zu erhöhen, wurde der verlängerte Zeitraum in Anbetracht der „wirtschaftlichen Lebensdauer“ dieser Güter gewählt.

 

53        Daraus folgt, dass die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, einen längeren Berichtigungszeitraum festzulegen, derselben Logik folgt, die den Einzelheiten der Berichtigung für Investitionsgüter im Allgemeinen zugrunde liegt, nämlich die Genauigkeit der Vorsteuerabzüge zu erhöhen und gleichzeitig diese Einzelheiten an die Merkmale der als Investitionsgüter erworbenen Grundstücke anzupassen, die sich insbesondere auf deren wirtschaftliche Nutzungsdauer beziehen, die noch länger ist als die wirtschaftliche Nutzungsdauer der übrigen Investitionsgüter.

 

54        Was als Zweites die Frage betrifft, ob Bauleistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unter den Begriff „Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden“ im Sinne von Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen können und folglich der möglicherweise im innerstaatlichen Recht für solche Gegenstände festgelegte längere Berichtigungszeitraum anzuwenden ist, ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bauleistungen, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, als Dienstleistungen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuer unterworfen wurden und nicht als Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie.

 

55        Zwar ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass die Ausführung solcher Arbeiten gegebenenfalls als Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden kann, doch ist dies im Ausgangsverfahren nicht der Fall.

 

56        Daraus folgt, dass diese Arbeiten als solche nicht unter den Begriff „Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden“ in Art. 187 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen können, da sie Dienstleistungen und nicht Gegenstände darstellen, und zwar unabhängig davon, wie Investitionsgüter gegebenenfalls im innerstaatlichen Recht gemäß Art. 189 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert wurden.

 

57        Unter diesen Umständen sind die in Art. 187 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Einzelheiten der Berichtigung, die Investitionsgüter betreffen, als solche nicht auf die Berichtigung des Abzugs der für die Ausführung dieser Arbeiten entrichteten Mehrwertsteuer anwendbar.

 

58        Diese Beurteilung wird nicht durch den von der Europäischen Kommission in der mündlichen Verhandlung angeführten Umstand in Frage gestellt, dass durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bauleistungen eine Immobilie, nämlich das alte Gebäude in seiner Gestalt vor Beginn der Arbeiten, physisch verändert worden sei oder dass durch sie andere materielle Elemente eingefügt worden seien, die nach dieser Einfügung als Bestandteil einer Immobilie angesehen werden könnten.

 

59        Als Drittes ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie u. a. für die Zwecke von Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie Dienstleistungen, die Merkmale aufweisen, die den üblicherweise Investitionsgütern zugeschriebenen vergleichbar sind, wie Investitionsgüter behandeln können.

 

60        Wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hat die Steuerbehörde im vorliegenden Fall die in Rede stehenden Bauleistungen eben dadurch Investitionsgütern im Sinne von Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gleichgestellt, dass sie von dieser im belgischen Recht umgesetzten Befugnis Gebrauch gemacht hat.

 

61        Unter diesen Umständen ist erstens zu prüfen, ob Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie es den Mitgliedstaaten erlaubt, bestimmte Dienstleistungen nicht nur Investitionsgütern gleichzustellen, sondern auch Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden.

 

62        Insoweit lässt der Wortlaut von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der sich allgemein und ohne Einschränkungen auf den Begriff „Investitionsgüter“ bezieht und somit Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, nicht ausschließt, grundsätzlich den Schluss zu, dass dies der Fall ist.

 

63        Wenn nämlich der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie beschlossen hat, Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, innerhalb der allgemeinen Kategorie der Investitionsgüter besonders zu behandeln und auf sie einen längeren Berichtigungszeitraum anzuwenden, fallen diese Güter, obwohl sie demnach anders behandelt werden als Investitionsgüter, die keine Grundstücke sind, weiterhin in die allgemeine Kategorie der Investitionsgüter.

 

64        Die in Rn. 62 des vorliegenden Urteils angeführte Auslegung wird durch den Zweck von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt, wie er sich aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/69 ergibt, aus dem Art. 20 Abs. 4 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie hervorgegangen ist, dessen Inhalt nunmehr im Wesentlichen Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie entspricht.

 

65        Nach diesem fünften Erwägungsgrund soll die Einräumung der in den beiden genannten Vorschriften vorgesehenen Befugnis zur Gleichstellung es ermöglichen, dass „Dienstleistungen, die die Merkmale von Investitionsgütern aufweisen, gemäß der Regelung behandelt werden können, die eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs für Investitionsgüter entsprechend ihrer tatsächlichen Nutzungsdauer vorsieht“.

 

66        Daraus folgt, dass der Zweck dieser Befugnis darin besteht, die Mitgliedstaaten zu ermächtigen, für die Zwecke des Mechanismus zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs bestimmte Dienstleistungen wie Investitionsgüter zu behandeln, soweit diese Dienstleistungen den Investitionsgütern insbesondere unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Nutzungsdauer ihrer Auswirkungen und der gleichzeitigen Möglichkeit einer Änderung der tatsächlichen Nutzung der Güter, auf die sich die Dienstleistungen beziehen, ähnlich sind.

 

67        Da aber innerhalb der in Rn. 63 des vorliegenden Urteils erwähnten allgemeinen Kategorie der Investitionsgüter Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, durch ihre noch längere wirtschaftliche Nutzungsdauer gekennzeichnet sind, wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils festgestellt, wäre es im Hinblick auf diesen Zweck inkohärent, wenn es den Mitgliedstaaten bei Gebrauchmachen von der in Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befugnis zur Gleichstellung nicht möglich wäre, ihrerseits die betreffenden Dienstleistungen nach der wirtschaftlichen Nutzungsdauer ihrer Auswirkungen zu unterscheiden und sie gegebenenfalls Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden, gleichzustellen, sofern der betreffende Mitgliedstaat für die letztgenannte Kategorie von Gütern gemäß Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen längeren Zeitraum für die Berichtigung des Vorsteuerabzugs festgelegt hat.

 

68        Eine Auslegung von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie in dem Sinne, dass dieser Artikel die Mitgliedstaaten ermächtigt, für die Zwecke des Mechanismus zur Berichtigung der Vorsteuerabzüge je nach Fallgestaltung bestimmte Dienstleistungen Investitionsgütern oder Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden, gleichzustellen, ermöglicht es hingegen, die Genauigkeit der Abzüge der Mehrwertsteuer, die für diese Dienstleistungen entsprechend der wirtschaftlichen Nutzungsdauer ihrer Auswirkungen entrichtet wurde, zu erhöhen, ebenso wie die zu diesem Zweck für Investitionsgüter vorgesehenen und in den Rn. 46, 49 und 53 des vorliegenden Urteils genannten Einzelheiten.

 

69        Zweitens steht es den Mitgliedstaaten zwar frei, von der ihnen durch Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen oder nicht, und wenn sie sich dafür entscheiden, verfügen sie darüber hinaus zwar über einen Wertungsspielraum in Bezug auf die Ähnlichkeit der Merkmale der betreffenden Dienstleistungen und Gegenstände, doch müssen sie bei der Ausübung dieses Wertungsspielraums das Unionsrecht und u. a. den Zweck dieses Artikels sowie insbesondere den Grundsatz der steuerlichen Neutralität berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. September 2020, Stichting Schoonzicht, C‑791/18, EU:C:2020:731, Rn. 49).

 

70        In diesem Zusammenhang dürfen die Mitgliedstaaten in Anbetracht des Zwecks von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wie er in Rn. 66 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, bei der Umsetzung dieser Bestimmung die wirtschaftliche Nutzungsdauer der Auswirkungen der Dienstleistungen, die Investitionsgütern gleichgestellt werden sollen, nicht außer Acht lassen, da aus den in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten Gründen die Ähnlichkeit der Merkmale der betreffenden Dienstleistungen und Güter für die Zwecke des Mechanismus zur Berichtigung der Vorsteuerabzüge insbesondere von dieser wirtschaftlichen Nutzungsdauer abhängt. Die in Rede stehende Dienstleistung kann sich nämlich unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Nutzungsdauer ihrer Auswirkungen als einem Grundstück, das als Investitionsgut erworben wurde, ähnlicher erweisen als einem Investitionsgut, das kein Grundstück ist.

 

71        Zum Grundsatz der steuerlichen Neutralität, in dem der Unionsgesetzgeber den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck gebracht hat, hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Grundsatz es nicht zulässt, zum einen gleichartige und infolgedessen miteinander in Wettbewerb stehende Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln und zum anderen Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteile vom 29. Oktober 2009, SKF, C‑29/08, EU:C:2009:665, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 30. Juni 2022, Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Administraţia Sector 1 a Finanţelor Publice, C‑146/21, EU:C:2022:512, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

72        Daher müssen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie sicherstellen, dass ein Steuerpflichtiger, der bestimmte Dienstleistungen in Anspruch genommen hat, für die Zwecke der Mehrwertsteuer nicht anders behandelt wird als ein Steuerpflichtiger, der im Rahmen der gleichen wirtschaftlichen Tätigkeit Güter erworben hat, deren wirtschaftliche Merkmale im Wesentlichen denen dieser Dienstleistungen entsprechen.

 

73        Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung die oben in den Rn. 69 bis 72 genannten Voraussetzungen erfüllt.

 

74        Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, wie das vorlegende Gericht auch selbst hervorgehoben hat, feststeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bauleistungen, die sich über mehrere Jahre erstreckten, in ihrer Gesamtheit zu einer umfangreichen Renovierung des betreffenden Gebäudes geführt und dieses auch erweitert haben, indem ihm u. a. ein Glasanbau und ein Aufzugschacht hinzugefügt wurden. Der Umfang dieser Bauleistungen scheint außerdem durch die von der L BV vorgelegten Zahlen belegt zu sein, denen zufolge die Gesamtkosten für diese Arbeiten etwa 1 937 104 Euro betrugen.

 

75        Außerdem steht offenbar fest, dass diese Bauleistungen insbesondere in Anbetracht ihres Umfangs eine wirtschaftliche Nutzungsdauer haben, die mit der eines neuen Gebäudes identisch ist.

 

76        Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte scheinen die Bauleistungen für die Zwecke des Mechanismus zur Berichtigung der Vorsteuerabzüge deutlich eher Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden, zu ähneln als Investitionsgütern, die keine Grundstücke sind.

 

77        Angesichts dieser Ähnlichkeit kann der Umstand, dass diese Bauleistungen dennoch Investitionsgütern gleichgestellt werden, die keine Immobilien sind, und somit der für diese Güterkategorie geltende Berichtigungszeitraum von fünf Jahren auf sie angewandt wird, zur steuerlichen Ungleichbehandlung eines Steuerpflichtigen führen, der wie die L BV in Erweiterungs- und Renovierungsarbeiten an einem bestehenden Gebäude investiert und die für diese Bauleistungen, für die der Berichtigungszeitraum von fünf Jahren gilt, geschuldete Mehrwertsteuer entrichtet hat, gegenüber einem vergleichbaren Steuerpflichtigen, der in die Errichtung eines neuen Gebäudes investiert hat, für das ein längerer Berichtigungszeitraum gilt, obwohl diese Investitionen in Anbetracht ihrer wirtschaftlichen Merkmale ähnlich oder sogar funktional identisch sind.

 

78        Dagegen ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, dass die betreffenden Bauleistungen keinen Umbau eines Gebäudes im Sinne von Art. 12 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellen, da sich der Gegenstand dieser Bestimmungen vom Gegenstand des Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie unterscheidet.

 

79        Der Zweck der erstgenannten Bestimmungen besteht nämlich darin, unter Berücksichtigung ihres Mehrwerts die Immobilienumsätze auszumachen, die als Lieferung eines neuen Gegenstands (Gebäude) besteuert werden können und insoweit also der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. November 2017, Kozuba Premium Selection, C‑308/16, EU:C:2017:869, Rn. 32 und 55, sowie vom 9. März 2023, État belge und Promo 54, C‑239/22, EU:C:2023:181, Rn. 23), wohingegen der Zweck von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der Teil des für Investitionsgüter geltenden Berichtigungsmechanismus ist, darin besteht, die Einzelheiten festzulegen, nach denen der Vorsteuerabzug für Dienstleistungen zu berichtigen ist, die solchen Gütern ähnlich sind.

 

80        Unter diesen Umständen kann eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegen den im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegten Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen.

 

81        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung über die Berichtigung der Vorsteuerabzüge entgegensteht, nach der der gemäß Art. 187 für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, festgelegte verlängerte Berichtigungszeitraum nicht auf Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, anwendbar ist, die eine umfangreiche Erweiterung und/oder tiefgreifende Renovierung des Gebäudes mit sich bringen, auf das sich die Bauleistungen beziehen, und deren Auswirkungen eine wirtschaftliche Nutzungsdauer haben, die der wirtschaftlichen Nutzungsdauer eines neuen Gebäudes entspricht.

 

Zur zweiten Frage

82        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ihm unmittelbare Wirkung in dem Sinne zukommt, dass sich ein Steuerpflichtiger vor einem nationalen Gericht gegenüber der zuständigen Steuerbehörde auf ihn berufen kann, damit auf die zu seinen Gunsten erbrachten Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, der für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, vorgesehene längere Berichtigungszeitraum angewandt wird, wenn die Behörde es unter Berufung auf eine nationale Regelung wie die in der ersten Frage genannte abgelehnt hat, diesen längeren Berichtigungszeitraum anzuwenden.

 

83        Erstens ist darauf hinzuweisen, dass sich, falls das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die Weigerung der Steuerbehörde, auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bauleistungen den längeren Berichtigungszeitraum anzuwenden, gegen den im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegten Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt, die Frage der unmittelbaren Wirkung des erstgenannten Artikels nur dann stellen würde, wenn keine unionsrechtskonforme Auslegung der Regelung, auf die diese Weigerung gestützt wird, möglich wäre, wie die L BV und die Kommission zu Recht hervorgehoben haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 23 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

84        Insoweit müssen die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichte bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachgekommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

85        Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung der nationalen Gerichte, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

86        Daher ist zweitens für den Fall, dass das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass es keine unionsrechtskonforme Auslegung der in Rede stehenden nationalen Regelung vornehmen kann, zu prüfen, ob der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbare Wirkung entfalten kann, so dass sich die L BV gegenüber der Steuerbehörde auf diese Bestimmung berufen kann, damit auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bauleistungen der längere Berichtigungszeitraum angewandt wird, der in Belgien gemäß Art. 48 § 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs und Art. 9 § 1 des Königlichen Erlasses Nr. 3 auf 15 Jahre festgelegt wurde.

 

87        Nach ständiger Rechtsprechung kann sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber einem Mitgliedstaat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteil vom 14. Mai 2024, Stachev, C‑15/24 PPU, EU:C:2024:399, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

88        Der Einzelne kann sich somit insbesondere gegenüber allen Trägern der Verwaltung dieses Staates auf derartige Bestimmungen berufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Oktober 2017, Farrell, C‑413/15, EU:C:2017:745, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

89        Was in diesem Zusammenhang die Unbedingtheit von Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, ist es richtig, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten lediglich eine Befugnis einräumt, von der sie Gebrauch machen können oder nicht, und dass das Gebrauchmachen von dieser Befugnis, soweit es die Möglichkeit betrifft, Dienstleistungen Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden, gleichzustellen, im Übrigen davon abhängig ist, dass der betreffende Mitgliedstaat zuvor von der in Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befugnis Gebrauch gemacht hat, solche Güter innerhalb der Gesamtheit der Investitionsgüter unterschiedlich zu behandeln.

 

90        Die den Mitgliedstaaten eingeräumte freie Wahl in Bezug auf die Entscheidung, ob sie von einer Befugnis wie der in Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Gebrauch machen wollen, hindert die nationalen Gerichte jedoch nicht daran, nachzuprüfen, ob ein Mitgliedstaat, der die Entscheidung getroffen hat, dies zu tun, die Voraussetzungen dafür beachtet hat und insbesondere innerhalb der Grenzen seines Ermessens geblieben ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Februar 1977, Verbond van Nederlandse Ondernemingen, 51/76, EU:C:1977:12, Rn. 27 und 29).

 

91        Im Übrigen steht der in der vorstehenden Randnummer genannten gerichtlichen Kontrolle nichts mehr entgegen, wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall beschlossen hat, von der in Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befugnis Gebrauch zu machen, und er damit das ihm insoweit zustehende Ermessen vollständig ausgeschöpft hat.

 

92        Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ist daher zu prüfen, ob der betreffende Mitgliedstaat, der auch von der in Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befugnis Gebrauch gemacht hat, dabei unter Berücksichtigung der in den Rn. 70 bis 72 des vorliegenden Urteils dargelegten Prüfungsgesichtspunkte seiner Verpflichtung nachgekommen ist, die Grenzen des Ermessens zu wahren, über das er insoweit in der Gestalt verfügt, die sich aus dem im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegten Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt.

 

93        Was die hinreichende Genauigkeit des im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegten Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, steht auch der in der vorstehenden Randnummer genannte und zudem in Rn. 69 des vorliegenden Urteils angeführte Umstand, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Bestimmungen über ein Ermessen verfügen, einer gerichtlichen Überprüfung, ob der betreffende Mitgliedstaat dieses Ermessen möglicherweise überschritten hat, nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Oktober 1996, Kraaijeveld u. a., C‑72/95, EU:C:1996:404, Rn. 59, und vom 28. November 2013, MDDP, C‑319/12, EU:C:2013:778, Rn. 51).

 

94        Der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist hinreichend genau, um eine solche gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen, wie sich im Übrigen auch aus der Antwort auf die erste Frage ergibt.

 

95        Unter diesen Umständen kann Art. 190 der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbare Wirkung in dem Sinne entfalten, dass sich ein Steuerpflichtiger in dem in Rn. 88 des vorliegenden Urteils genannten Fall unmittelbar auf diese Vorschrift in ihrer Auslegung im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie berufen kann.

 

96        Stellt das vorlegende Gericht unter Berufung auf eine solche unmittelbare Wirkung fest, dass der Mitgliedstaat sein Ermessen überschritten hat, indem er bestimmte Bauleistungen, die als Dienstleistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, nicht wie Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, behandelt hat, kann sich der Steuerpflichtige somit vor diesem Gericht unmittelbar auf den im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegten Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie berufen, damit diese Bauleistungen wie Investitionsgüter behandelt werden und der im innerstaatlichen Recht in Anwendung von Art. 187 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegte längere Berichtigungszeitraum auf sie angewandt wird (vgl. entsprechend Urteile vom 28. November 2013, MDDP, C‑319/12, EU:C:2013:778, Rn. 52, und vom 15. April 2021, Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA, C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 81).

 

97        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ihm unmittelbare Wirkung in dem Sinne zukommt, dass sich ein Steuerpflichtiger vor einem nationalen Gericht gegenüber der zuständigen Steuerbehörde auf ihn berufen kann, damit auf die zu seinen Gunsten erbrachten Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, der für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, vorgesehene längere Berichtigungszeitraum angewandt wird, wenn die Behörde es unter Berufung auf eine nationale Regelung wie die in der ersten Frage genannte abgelehnt hat, diesen längeren Berichtigungszeitraum anzuwenden.

 

Kosten

98        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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