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Steuerrecht
27.07.2023
Steuerrecht
EuGH-Schlussanträge: Begriff der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit – typologische Betrachtungsweise – Tätigkeiten eines Mitglieds eines Verwaltungsrates einer juristischen Person – Grundsatz der Rechtsformneutralität

GAin Kokott: Schlussanträge vom 13.7.2023 (1) – C-288/22, TP gegen Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA

ECLI:EU:C:2023:590

Volltext: BB-ONLINE BBL2023-1749-1

Schlussanträge

1. Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass das Vorliegen einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit im Wege eines typologischen Vergleichs zu bestimmen ist. Entscheidend dafür ist, ob die betreffende Person im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung wie ein typischer Steuerpflichtiger selbst ein wirtschaftliches Risiko trägt und über eine eigene wirtschaftliche Initiative verfügt, was das vorlegende Gericht zu beurteilen hat.

2. Dabei folgt aus dem Grundsatz der Rechtsformneutralität, dass eine natürliche Person, die Mitglied eines gesetzlich zwingend vorgesehenen Organs einer Gesellschaft ist und für diese Tätigkeit als Mitglied des Organs eine Vergütung erhält, insoweit nicht als selbständig wirtschaftlich tätig angesehen werden kann.

Aus den Gründen

I. Einführung

1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen wirft die in den Mitgliedstaaten der Union ganz unterschiedlich beantwortete(2) Frage auf, ob die Vergütung eines Verwaltungsrates einer Gesellschaft für seine Tätigkeit als Teil eines Organs einer juristischen Person das Entgelt für eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Mehrwertsteuerrechts darstellt. Während die Mehrheit der Mitgliedstaaten diese Vergütung nicht als Entgelt für eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ansieht, ist dies in sechs Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen und in einem Mitgliedstaat (Luxemburg), allerdings auch erst seit 2016,(3) im Allgemeinen der Fall. Somit muss in Luxemburg das Mitglied des Organs Mehrwertsteuer abführen und diese der juristischen Person, zu deren Organ er gehört, in Rechnung stellen.

2. Insofern stellt sich zum einen erneut(4) die Frage, ob eine Tätigkeit eines Organs gegen Entgelt als selbständige wirtschaftliche Tätigkeit zu betrachten ist. Diese Frage war in den bisherigen Rechtssachen nur für ein Mitglied eines Aufsichtsrates und einen Geschäftsführer (insofern negativ), nicht aber für ein Mitglied eines Verwaltungsrates beantwortet worden.

3. Zum anderen stellt sich die Frage nach der Reichweite des Grundsatzes der Rechtsformneutralität im Mehrwertsteuerrecht. Die Vergütung erhält die betreffende Person nur deshalb, weil sie als Teil eines Organs der juristischen Person (eines anderen Steuerpflichtigen) gehandelt hat. Für viele Rechtsformen sind solche Organe gesetzlich vorgeschrieben. Steuerpflichtige, die dieses Organ entbehren können, müssen eine solche Mehrwertsteuerbelastung nicht tragen.

4. Insofern kommt es zu einer unterschiedlichen Mehrwertsteuerbelastung eines Unternehmens je nach gewählter Rechtsform. Grundsätzlich kann sich der Steuerpflichtige (hier die juristische Person) von der getragenen Mehrwertsteuer über den Vorsteuerabzug entlasten. Aber nicht jedem Steuerpflichtigen steht der Vorsteuerabzug in voller Höhe zu. Besondere Relevanz hat diese Frage daher vor allem für Steuerpflichtige, die (auch) steuerfreie Ausgangsumsätze erbringen. Hier führt die Steuerpflicht der Tätigkeit eines Mitgliedes ihres Organs zu einer zusätzlichen und definitiven Kostenbelastung.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Den unionsrechtlichen Rahmen bestimmt die Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).(5)

6. Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt den „Steuerpflichtigen“ wie folgt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

7. Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft „Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen“ und lautet:

„Die selbständige Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 schließt Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.“

B. Luxemburgisches Recht

8. Luxemburg hat die Mehrwertsteuerrichtlinie durch das Gesetz vom 12. Februar 1979 über die Mehrwertsteuer umgesetzt. Art. 4 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor, dass als Steuerpflichtiger gilt, wer im Rahmen einer allgemein wirtschaftlichen Tätigkeit unabhängig von Zweck, Ergebnis und Ort der Tätigkeit selbständig und regelmäßig Umsätze bewirkt.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren

9. Rechtsanwalt TP (im Folgenden: TP) ist Mitglied des Verwaltungsrates mehrerer Aktiengesellschaften nach luxemburgischem Recht.(6) Als Mitglied dieser Gremien nimmt er an Entscheidungen über die Rechnungslegung, die Risikopolitik und die von der jeweiligen Gruppe zu verfolgende Strategie sowie an der Ausarbeitung von Vorschlägen für die Aktionärsversammlungen teil.

10. Die tägliche Geschäftsführung von zwei der Gesellschaften wird von einem Geschäftsführungsausschuss übernommen, der die beauftragten Geschäftsführer oder geschäftsführenden Direktoren umfasst. Die beiden anderen Unternehmen haben keine Tätigkeit, die eines Geschäftsführungsausschusses bedürfte.

11. Nach den Ausführungen von TP lautet der in Art. 441-8 der Loi concernant les sociétés commerciales (Gesetz über Handelsgesellschaften) verankerte Grundsatz, dass „die Verwaltungsratsmitglieder keine persönlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Verbindlichkeiten der Gesellschaft eingehen“. Die persönliche Haftung des Mitglieds des Verwaltungsrates könne nur geltend gemacht werden, wenn dieses Mitglied offensichtlich die Grenzen des zulässigen Verhaltens überschreite, so dass die Pflichtverletzung von seiner damit verbundenen Funktion abtrennbar sei.

12. Darüber hinaus werde die Umsetzung der von der Gesellschaft getroffenen Entscheidungen meist Angestellten der Gesellschaft und nicht einzelnen Verwaltungsratsmitgliedern übertragen. Wenn die Mitglieder des Verwaltungsrates außerhalb der Tätigkeit des Kollegialorgans individuelle Aufgaben erfüllten und für diese spezifischen Tätigkeiten entlohnt würden, würden sie in einer anderen Eigenschaft als der eines Mitglieds dieses Organs handeln. Der Verwaltungsrat diskutiere hingegen kollektiv über mögliche Optionen und treffe Entscheidungen, wobei die Position des einzelnen Mitglieds der des Kollegialorgans diametral entgegengesetzt sein könne.

13. TP vertritt die Auffassung, dass seine Vergütungen als Mitglied des Verwaltungsrates nicht der Mehrwertsteuer unterlägen. Er führt aus, dass seine Tätigkeit nicht selbständig ausgeübt werde, sondern als Mitglied eines Kollegialorgans. Dieses vertrete die juristische Person, so dass die kollektiv erbrachte Dienstleistung als von der Gesellschaft selbst erbracht gelte.

14. Am 28. Juli 2020 unterwarf die Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA (Einregistrierungs‑, Domänen- und Mehrwertsteuerverwaltung, Luxemburg) (im Folgenden: Finanzverwaltung) die von TP im Jahr 2019 erhaltenen Verwaltungsratsvergütungen der Mehrwertsteuer. Mit Bescheid vom 23. Dezember 2020 wurde die Besteuerung mit der Begründung bestätigt, dass ein Verwaltungsratsmitglied einer Gesellschaft eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübe, da sie dauerhaft sei und zu einer Vergütung als Gegenleistung für die ausgeübte Tätigkeit führe.

15. Nach der Auffassung der Finanzverwaltung folgt die Dauerhaftigkeit daraus, dass Mitglieder des Verwaltungsrates für eine Mandatszeit von bis zu sechs Jahren ernannt werden. TP erhalte Vergütungen, die von der Hauptversammlung der Aktionäre auf Vorschlag des Verwaltungsrates beschlossen würden. Die zum Teil wohl auch in Form von Tantiemen gezahlte Vergütung führe dazu, dass die Mitglieder des Verwaltungsrates, auch wenn sie keine Aktionäre seien, ein Interesse am guten Verlauf der Geschäfte der Gesellschaft hätten. Das Urteil vom 13. Juni 2019, IO (Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats), C‑420/18, EU:C:2019:490, auf das sich TP beruft, beschränke sich auf die Tätigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds einer Stiftung niederländischen Rechts in dem vom vorlegenden Gericht präzisierten Kontext und sei hier nicht übertragbar.

16. Am 26. Januar 2021 klagte TP gegen den Steuerbescheid und beantragte dessen Aufhebung. Das zuständige Gericht (Bezirksgericht, Luxemburg) betont, dass es mangels näherer Angaben zu den Gesellschaften und den von ihnen gezahlten Vergütungen davon ausgehe, dass die Tantiemen von TP aus dem Gewinn der Aktiengesellschaften nach luxemburgischem Recht stammen, deren Verwaltungsrat er angehört, und dass ihm diese Tantiemen durch Beschluss der Hauptversammlung der Aktionäre zugeteilt wurden. Es hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende zwei Fragen vorgelegt:

1. Übt eine natürliche Person, die Mitglied des Verwaltungsrats einer Aktiengesellschaft nach luxemburgischem Recht ist, eine „wirtschaftliche“ Tätigkeit im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie aus, und sind insbesondere die von dieser Person erhaltenen Vergütungen als Entgelt für die für diese Gesellschaft erbrachten Dienstleistungen anzusehen?

2. Übt eine natürliche Person, die Mitglied des Verwaltungsrats einer Aktiengesellschaft nach luxemburgischem Recht ist, ihre Tätigkeit „selbstständig“ im Sinne der Art. 9 und 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie aus?

17. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben TP, das Großherzogtum Luxemburg, die Tschechische Republik und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen und sich mit Ausnahme der Tschechischen Republik auch an der mündlichen Verhandlung am 17. Mai 2023 beteiligt.

IV. Rechtliche Würdigung

A. Zu den Vorlagefragen und dem Gang der Untersuchung

18. Die beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, werfen die Frage auf, ob die Vergütung eines Verwaltungsrates für seine Tätigkeit als Teil eines Organs einer juristischen Person das Entgelt für eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt.

19. Damit stellt sich erneut(7) die Frage, wann eine entgeltliche Tätigkeit eines Organs einer juristischen Person als wirtschaftliche Tätigkeit zu betrachten ist und wann diese selbständig ausgeübt wird. Beides zusammen führt dazu, dass die handelnde Person als Steuerpflichtiger zu betrachten ist, der die Mehrwertsteuer einzusammeln und abzuführen hat (dazu unter B.).

20. Bei der Prüfung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass juristische Personen nur über ihre Organe handeln können. Sollte das Handeln als Organ für eine juristische Person ausreichend sein, um eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit anzunehmen, dann werden nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte juristische Personen mit zusätzlicher Mehrwertsteuer belastet, die sie nur wegen dieser Rechtsform tragen müssen. Dies betrifft insbesondere Unternehmen, die steuerfreie Ausgangsumsätze (wie z. B. Krankenhäuser, Wohnungsvermietungsgesellschaften, Banken und Versicherungen) ausführen.

21. Ein Unternehmen mit einer Rechtsform, die ein solches Organ entbehren kann, müsste diese Mehrwertsteuer weder tragen noch auf die Endkunden abwälzen. Damit betrifft die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage auch den Grundsatz der Rechtsformneutralität im Mehrwertsteuerrecht (dazu unter C.).

B. Das Mitglied eines Verwaltungsrates als Steuerpflichtiger

1. Typologischer Ansatz zur Bestimmung des Steuerpflichtigen

22. Ein Mitglied eines Verwaltungsrates kann nur dann als Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden, wenn er mit dieser Tätigkeit im Rahmen seiner Mitgliedschaft nach Abs. 1 Unterabs. 1 eine „wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt“. Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erläutert, wann eine Tätigkeit als „wirtschaftliche Tätigkeit“ gilt. Sind die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt, ist die betreffende Person ein Steuerpflichtiger.

23. Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie stellt insofern lediglich klar, dass Lohn- und Gehaltsempfänger nicht zugleich als Steuerpflichtige zu betrachten sind. Diese deklaratorische Wirkung – die Kommission spricht in ihrer schriftlichen Stellungnahme von Präzisierung – ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, wonach die selbständige Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie solche Personen von der Besteuerung ausschließt. Folglich beschränkt sich die zu entscheidende Rechtsfrage darauf, ob die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 vorliegen. Das in Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie erwähnte Verhältnis der Unterordnung ist mithin lediglich ein Kriterium, das bei der Prüfung, ob eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegt, mit zu prüfen ist.

24. Nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie umfasst der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeiten“, die selbständig ausgeübt werden müssen, alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt diese Formulierung, dass sich der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeiten“ auf einen weiten Bereich erstreckt und dass es sich dabei um einen objektiv festgelegten Begriff handelt, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird.(8)

25. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich auch, dass für die Feststellung, ob eine Dienstleistung so erbracht worden ist, dass diese Tätigkeit gegen ein Entgelt erfolgt und somit als eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen ist, alle Umstände zu prüfen sind, unter denen die Tätigkeit erfolgt ist.(9) Dies bestätigt der Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Er umschreibt die wirtschaftliche Tätigkeit, die dazu führt, eine Person als Steuerpflichtigen zu betrachten, mit verschiedenen konkreten Berufen und diesen „gleichgestellten Berufen“, deren Aktivitäten als wirtschaftliche Tätigkeit gelten.

26. Angesichts der Schwierigkeit einer genauen Definition einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit eines Steuerpflichtigen konturiert die Umschreibung der notwendigen wirtschaftlichen Tätigkeit mit typischen Berufsbildern („Erzeuger, Händler, Dienstleister“ bzw. „Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe“) den Begriff des Steuerpflichtigen und die dafür nötige selbständige wirtschaftliche Tätigkeit. Eine solche typologische Umschreibung ist im Gegensatz zu einem abstrakten Begriff offener.(10) Die Zugehörigkeit zum Typus muss nicht durch logisch-abstrakte Subsumtion, sondern kann nach dem Grad der Ähnlichkeit mit dem Urbild (Muster) bestimmt werden. Diese Zuordnung verlangt eine Gesamtbetrachtung im Einzelfall, die die Verkehrsanschauung berücksichtigt.

27. Diesen typologischen Ansatz hat der Gerichtshof mittlerweile ausdrücklich in seiner jüngsten Rechtsprechung bestätigt. Dort führt er im Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie aus, dass alle Umstände zu prüfen sind, unter denen die Tätigkeit erfolgt. Es ist insofern eine Beurteilung von Fall zu Fall vorzunehmen, bei der darauf abgestellt wird, worin die typische Tätigkeit eines in dem betreffenden Bereich tätigen Unternehmers bestehen würde.(11)

28. Einen vergleichbaren typologischen Ansatz hatte der Gerichtshof auch schon in seinem Urteil Gemeente Borsele(12) praktiziert und davor in Ansätzen im Urteil Enkler.(13) So sollte schon laut der früheren Rechtsprechung für die Eigenschaft als Steuerpflichtiger entscheidend sein, ob die Vergütung nach Kriterien bestimmt wird, die sicherstellen, dass sie zur Deckung der Betriebskosten des Dienstleistungserbringers ausreicht.(14) Gleiches gilt für die Höhe der Einnahmen und weiterer Gesichtspunkte wie die Zahl der Kunden.(15) Bedeutsam war auch, wenn die von den Empfängern der betreffenden Leistungen gezahlten Beiträge nur zur Deckung eines kleinen Teils der den Leistenden insgesamt entstandenen Betriebskosten dienten.(16)

29. Auch wenn sich der Gerichtshof bislang insoweit hauptsächlich auf das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit konzentriert hat, besteht kein Grund, diesen Ansatz nicht auch auf das Merkmal der Selbständigkeit zu erstrecken. Schließlich spricht Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie von einer wirtschaftlichen Tätigkeit, die selbständig ausgeübt wird, und verweist dann (Unterabs. 2) auf Berufsbilder, die typischerweise selbständig agieren (z.B. die freien Berufe). Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie nennt schließlich Beispiele (Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen, die sich in einem Verhältnis der Unterordnung befinden), in denen dies nicht der Fall ist.

30. Bei genauer Betrachtung lag ein solch typologischer Ansatz wohl auch der bereits erwähnten Entscheidung des Gerichtshofs zur selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit eines Mitglieds eines Aufsichtsrates einer Kapitalgesellschaft zugrunde, das dafür eine Vergütung erhielt. Im Ergebnis hat der Gerichtshof diese Tätigkeit mit der eines typischen Steuerpflichtigen verglichen und aufgrund der Besonderheiten (von der Sitzungsteilnahme oder dem Arbeitsaufwand unabhängige Vergütung, kein wirtschaftliches Risiko, geringer und pauschalierter fester Betrag) das Vorliegen einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit verneint.(17)

31. Wird dieser Ansatz angewendet, dann zeichnet sich eine typische Tätigkeit eines selbständigen Steuerpflichtigen dadurch aus, dass er – wie der Gerichtshof bereits klargestellt hat(18) – ein eigenes wirtschaftliches Risiko eingeht. Ein typischer Steuerpflichtiger – von dem Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausgeht – trägt insofern ein Verlust- und Gewinnrisiko in seiner eigenen Person. Typischerweise entscheidet er selbst – und nicht eine andere Person – über den Umfang seiner Tätigkeit. Sein Erfolg oder Misserfolg geht auf seine eigene Rechnung, und er verfügt insoweit über eine eigene wirtschaftliche Initiative. Er entscheidet, welche Risiken er eingeht und wie viel seiner Zeit er in das ein oder andere Projekt investieren will. Dieser Zeitaufwand und die Qualität der Tätigkeit spiegeln sich in der Regel auch in der Höhe seiner Vergütung wider. Dies ist z. B. bei einem Gehaltsempfänger nicht der Fall, da allein der Arbeitgeber das wirtschaftliche Risiko trägt und die wirtschaftliche Initiative übernimmt.

32. Im vorliegenden Fall erscheint es daher – wie auch die Tschechische Republik in ihrer schriftlichen Stellungnahme ausführt – zweifelhaft, von einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit von TP als eines Mitglieds eines Organs einer juristischen Person auszugehen. Letztlich muss dies aber das vorlegende Gericht im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung entscheiden.

33. Zum einen erhält TP seine Vergütung nicht für seine eigene Tätigkeit (z. B. als mandatierter Rechtsanwalt, der dann auch eine entsprechende Haftung übernimmt, falls sein Rat nicht richtig war), sondern als Teil eines Kollektivorgans. Folglich haftet nicht er persönlich, sondern zunächst nur das Organ, dem er angehört.(19) In diese Richtung scheint auch der in Art. 441-8 des Gesetzes über Handelsgesellschaften verankerte Grundsatz zu verstehen zu sein. Danach gehen die Mitglieder des Verwaltungsrates keine persönlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Verbindlichkeiten der Gesellschaft ein. Eine eigenständige Risikotragung scheint damit ausgeschlossen zu sein.

34. Die deliktische Haftung, die auch ein Mitglied eines Organs erfasst, kann insoweit nicht entscheidend sein. Denn diese Haftung kann grundsätzlich jede Person treffen. Dass auch ein Gehaltsempfänger einer deliktischen Haftung gegenüber seinem Arbeitgeber unterliegt, sagt daher nichts über das Vorliegen einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit aus. Ebenso wenig ändert daran eine eventuelle Haftung eines Organs für die Steuerschulden der Gesellschaft, anders als Luxemburg das in seiner Stellungnahme und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat. Eine solche Haftung ist – wie auch TP in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – auf das Organ bezogen und erfasst Verwaltungsräte und angestellte Geschäftsführer(20) gleichermaßen. Diese Haftung eines Organs sagt folglich nichts darüber aus, ob es oder ob seine Mitglieder eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausüben.

35. Zum anderen können die Tätigkeiten als Teil eines Organs nicht auf dem freien Markt je nach Entscheidung von TP anderen Dritten gegenüber erbracht werden. Vielmehr können sie allein der Gesellschaft zugutekommen, für die er als Teil des Organs bestellt wurde. Eine eigene wirtschaftliche Initiative von TP vermag ich insoweit nicht zu erkennen. Seine Tätigkeit ist begrenzt durch das Gesellschaftsrecht, welches dem Kollegialorgan bzw. seinen Mitgliedern gewisse Rechte und Pflichten im Verhältnis zur Gesellschaft zuweist. Offenbar war die Höhe der Vergütung ebenfalls unabhängig vom jeweiligen Arbeitsaufwand.

36. Auch wurde die Vergütung nicht wie von einem typischen Unternehmen im Wege der Verhandlung mit dem Leistungsempfänger festgelegt. Vielmehr wurde sie – darauf basiert zumindest das Vorabentscheidungsersuchen – einseitig durch die Hauptversammlung, d. h. ein anderes Organ der Gesellschaft, festgesetzt. Wie der Gerichtshof aber bereits ausgeführt hat, ist die Tatsache, dass eine natürliche Person bei der Bestimmung ihrer Vergütung von der Gesellschaft abhängig ist, ein Anhaltspunkt dafür, dass sie nicht selbständig wirtschaftlich tätig ist.(21) Selbst wenn TP keine feste, sondern eine variable Vergütung erhält bzw. die Vergütung sich an dem Erfolg der Gesellschaft orientiert, ändert dies nichts an dem obigen Befund. Damit partizipiert er im Ergebnis auch nur wie ein Aktionär am Erfolg der Gesellschaft, d. h. an ihrem wirtschaftlichen Risiko.

37. Die Partizipation an einem fremden (Gewinn‑) Risiko kann aber nicht mit der Tragung eines eigenen (Gewinn- und Verlust‑) Risikos gleichgesetzt werden. Auch ein Arbeitnehmer, der neben seinem fixen Gehalt noch eine variable Vergütung nach Maßgabe des Erfolgs des Arbeitgebers erhält, übt nicht allein deswegen eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit aus. Sein Arbeitgeber trägt weiterhin das wirtschaftliche Risiko, an welchem der Arbeitnehmer im Erfolgsfall partizipiert, es aber nicht selbst trägt.

38. Ähnlich scheint es auch bei TP zu sein, sofern dieser eine erfolgsabhängige Vergütung erhalten sollte. In der mündlichen Verhandlung wurde lediglich eine pauschale Vergütung bestätigt. Zum einen hängt der Erfolg der Gesellschaft noch von vielen weiteren Komponenten ab. TP ist nur Teil eines Kollegialorgans, welches in der Regel auch nicht das einzige Organ einer Gesellschaft ist, sondern neben weiteren Organen des Steuerpflichtigen existiert. Zum anderen reduziert sich im schlimmsten Fall seine Vergütung als Mitglied des Verwaltungsrates auf null (bzw. auf einen eventuell zugesagten Fixbetrag). Verluste oder anderweitige Risiken muss er – anders als ein typisches Unternehmen/Steuerpflichtiger – hingegen nicht befürchten. Von größerer Bedeutung wäre, ob TP seine Vergütung auch erhält, wenn er z.B. krankheitsbedingt temporär nicht tätig werden kann, denn dann trägt er auch kein wirtschaftliches Risiko seiner Tätigkeit.(22) Letztendlich muss dies das vorlegende Gericht verifizieren.

39. Zwar liegt im Fall von TP sicherlich nicht das klassische Unterordnungsverhältnis eines Gehaltsempfängers im Sinne von Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor, wie das Großherzogtum Luxemburg zutreffend betont. Dies ist aber auch nicht nötig. Es kommt nicht darauf an, ob Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie greift, sondern ob die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegen.

40. Bei der gebotenen typologischen Betrachtung ist TP als ein Mitglied eines Kollegialorgans eines anderen Steuerpflichtigen – selbst wenn eine variable Vergütung vorläge – wohl nicht mit einem typisch selbständig wirtschaftlich agierenden Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vergleichbar. Letztendlich obliegt es aber dem vorlegenden Gericht, dies zu entscheiden.

2. Einfluss der bestehenden Eigenschaft eines Steuerpflichtigen wegen der Tätigkeit als Rechtsanwalt auf die Beurteilung der Verwaltungsratstätigkeit?

41. Fraglich ist aber, ob sich an diesem Ergebnis etwas ändert, weil im konkreten Fall TP bereits als Rechtsanwalt eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Insofern ist TP bereits als Steuerpflichtiger tätig. Dies betrifft die Frage, wie weitere entgeltliche Tätigkeiten einzuordnen sind, die nicht zur eigentlichen Haupttätigkeit eines Steuerpflichtigen gehören.

42. Der Gerichtshof hat bereits zur mehrwertsteuerrechtlichen Einordnung von solchen „Nebentätigkeiten“ Stellung genommen. Bezüglich eines selbständigen Gerichtsvollziehers sei Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass eine natürliche Person, die bereits für ihre Tätigkeit als selbständiger Gerichtsvollzieher mehrwertsteuerpflichtig ist, für jede weitere, gelegentlich ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit als „Steuerpflichtiger“ anzusehen ist, sofern diese Tätigkeit selbst eine Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 darstellt.(23)

43. In jenem Fall hatte der Gerichtsvollzieher seine unternehmerischen Möglichkeiten im Rahmen eines entgeltlichen Geschäftsbesorgungsvertrages genutzt und für einen Dritten bestimmte Grundstücke ersteigert. Solche wirtschaftlichen Nebentätigkeiten, die noch dazu einen bestimmten Zusammenhang mit der eigentlichen (wirtschaftlichen) Haupttätigkeit aufweisen, teilen folglich deren Schicksal.

44. Auch in seiner jüngeren Entscheidung in der Rechtssache Fluvius Antwerpen betonte der Gerichtshof diesen Ansatz. Eine Lieferung von Strom durch einen Elektrizitätsverteilernetzbetreiber aufgrund eines Stromdiebstahls stellt, wenn sie ein typisches Geschäftsrisiko für dessen andere wirtschaftliche Tätigkeit ist, ebenfalls eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit dar.(24) Insofern verwirklicht sich bei dieser Lieferung ein typisches unternehmerisches Risiko. Sie teilt damit das mehrwertsteuerrechtliche Schicksal der eigentlichen wirtschaftlichen Tätigkeit.

45. Im vorliegenden Fall liegen hingegen zwei voneinander unabhängige Tätigkeiten vor, da die eine Tätigkeit eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit und die andere gerade keine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Die eine Tätigkeit fällt in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, die andere nicht. Wenn der Unionsgesetzgeber tatsächlich eine „Infektion“ der einen Tätigkeit durch die andere gewollt hätte, dann hätte er dies im Wortlaut der Mehrwertsteuerrichtlinie zum Ausdruck gebracht. Da dies nicht geschehen ist, werden von der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit unabhängige Nebentätigkeiten nicht allein deshalb zu einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit, weil die notwendigen – hier juristischen – Kenntnisse für die selbständige Tätigkeit auch für die nicht selbständige Tätigkeit hilfreich sind.

46. Dies schließt es jedoch nicht aus, dass die Gesellschaft oder möglicherweise das Organ der Gesellschaft TP auch als Rechtsanwalt mandatiert. Die Vergütung für die Ausübung dieses Mandats wäre dann eine Vergütung für eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit als Rechtsanwalt. Dafür müssten aber nähere Anhaltspunkte bestehen, die das vorlegende Gericht festzustellen hat. Allein die Tatsache, dass ein Rechtsanwalt als Mitglied in mehreren Organen von Gesellschaften bestellt wurde, genügt dafür nicht.

C. Besteuerung der Tätigkeiten eines Organs eines Steuerpflichtigen (Grundsatz der Rechtsformneutralität)

47. Auch der Grundsatz der Rechtsformneutralität im Mehrwertsteuerrecht – den der Gerichtshof regelmäßig betont(25) – spricht gegen eine Besteuerung der Tätigkeit eines Organs eines Steuerpflichtigen, wenn dieses Organ für den Steuerpflichtigen gesetzlich vorgeschrieben ist. Dies könnte hier der Fall sein, was aber letztlich das vorlegende Gericht zu beurteilen hat.

48. Nach diesem Grundsatz – der sich auch auf Art. 20 der Charta stützen lässt – ist für die Frage, ob Gegenstände oder Dienstleistungen gleichartig sind, die Rechtsform, in der der Hersteller oder der Dienstleistungserbringer seine Tätigkeit ausübt, unerheblich.(26) Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verbietet es nämlich, dass Wirtschaftsteilnehmer, die die gleichen Umsätze bewirken, bei deren Besteuerung unterschiedlich behandelt werden.

49. Die Annahme, die Tätigkeit eines Mitglieds eines Organs eines anderen Steuerpflichtigen sei selbst eine Tätigkeit eines Steuerpflichtigen, hätte zur Folge, dass dieses Mitglied des Organs Mehrwertsteuer aus der erhaltenen Vergütung abführen muss. Da in materieller Hinsicht die Mehrwertsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer nicht den leistenden Steuerpflichtigen, sondern den Leistungsempfänger besteuern soll, wenn und weil dieser Geld zur Verschaffung eines verbrauchbaren Nutzens einsetzt,(27) wird nach der Gesetzessystematik die jeweilige Gesellschaft als der Leistungsempfänger mit Mehrwertsteuer belastet.

50. Ist die Gesellschaft ein zum vollen Vorsteuerabzug berechtigter Steuerpflichtiger, stellt dies kein Problem dar. Diesem Steuerpflichtigen hilft der Grundsatz der Neutralität. Dieser stellt ein grundlegendes Prinzip(28) der Mehrwertsteuer dar und beinhaltet u. a., dass das Unternehmen als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates von der endgültigen Belastung mit Mehrwertsteuer zu befreien ist,(29) sofern die unternehmerische Tätigkeit selbst der Erzielung steuerpflichtiger Umsätze dient.(30) Dies geschieht über den Vorsteuerabzug nach Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

51. Ist die Gesellschaft hingegen ein nicht oder nur teilweise zum Vorsteuerabzug berechtigter Steuerpflichtiger, dann führt die Steuerpflicht der Tätigkeiten der gesetzlich notwendigen Organe zu einer endgültigen Kostenbelastung. Diese Kostenbelastung erfasst alle Rechtsformen, die kraft Gesetzes auf das Handeln von Organen angewiesen sind. Letzteres ist in der Regel bei künstlichen Rechtsformen (z. B. juristischen Personen) der Fall, da diese zwingend durch gesetzlich vorgesehene Organe agieren müssen. Ob dies im vorliegenden Fall auch so ist, hat das vorlegende Gericht zu entscheiden. Ist dem so, dann käme es, da es auch Steuerpflichtige gibt, bei denen kein solches Organ nötig ist (z. B. der klassische Einzelunternehmer), in dieser Konstellation zu einer Benachteiligung einzelner Rechtsformen, die miteinander in Wettbewerb stehen, wenn und weil sie identische Leistungen erbringen.

52. Die Mehrwertsteuer soll aber für die miteinander konkurrierenden Wettbewerber neutral sein. Daher verbietet der Neutralitätsgrundsatz es auch, dass Wirtschaftsteilnehmer, die die gleichen Umsätze bewirken, im Rahmen der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden.(31) Folglich – so der Gerichtshof ausdrücklich – wäre dieser Grundsatz verletzt, wenn die Besteuerung von der Rechtsform abhinge, in der der Steuerpflichtige seine Tätigkeit ausübt.(32)

53. Hier würde dann jedoch ein Steuerpflichtiger mit den gleichen (steuerfreien) Ausgangsumsätzen nachteilig behandelt werden, wenn er den Mitgliedern seiner für ihn handelnden Organe eine Vergütung zahlt. Denn der Steuerpflichtige, der z. B. als Einzelunternehmer sich diese „Vergütung“ selbst als „Gehalt“ zahlt (beziehungsweise im Wege der Entnahme aus dem unternehmerischen Vermögen entnimmt), müsste diese Mehrwertsteuerbelastung nicht tragen.

54. Interessanterweise existiert eine Protokollerklärung einer Ratstagung zu Art. 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG (der Vorgängervorschrift der Mehrwertsteuerrichtlinie), wonach es den Mitgliedstaaten freisteht, „Geschäftsführer, Verwalter, Aufsichtsratsmitglieder … von Gesellschaften in ihrer Beziehung zu den Gesellschaften und in ihrer Eigenschaft als Organe derselben nicht der Mehrwertsteuer zu unterwerfen“.(33) Die rechtliche Qualität dieser Protokollerklärung(34) ist zwar zweifelhaft, denn ein solches Wahlrecht scheint sich nicht aus der Mehrwertsteuerrichtlinie zu ergeben. Sie zeigt jedoch die Bedenken, die bezüglich einer Besteuerung der Tätigkeit der Organe von Gesellschaften schon damals in der Union bestanden. Richtigerweise verlangt der Grundsatz der Rechtsformneutralität jedenfalls dann eine Nichtbesteuerung, wenn es um die Tätigkeit der zwingend vorgeschriebenen Organe einer Gesellschaft geht. Nur so kann die Wettbewerbsneutralität der Mehrwertsteuer für miteinander konkurrierende Unternehmen in unterschiedlichen Rechtsformen gewahrt werden.

55. Der Grundsatz der Rechtsformneutralität spricht mithin ebenfalls dafür, dass die Vergütung, die für die Tätigkeit der gesetzlich vorgeschriebenen Organe von einem Steuerpflichtigen gezahlt wird, nicht ihrerseits der Mehrwertsteuer unterliegt und damit den Wettbewerb der Steuerpflichtigen untereinander verzerrt.

1 Originalsprache: Deutsch


2 So unterwerfen viele Staaten die Einkünfte (Vergütungen) eines Organs einer Gesellschaft nur der Einkommensteuer und nehmen damit keine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit an. Von den 13 Mitgliedstaaten, die auch über Regelungen oder Rechtsprechung zur mehrwertsteuerrechtlichen Beurteilung dieser Vergütungen eines Organs eines anderen Steuerpflichtigen verfügen, gehen sechs Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht von einer unter die Mehrwertsteuer fallenden wirtschaftlichen Tätigkeit, sechs hingegen unter Umständen von einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit aus. Lediglich Luxemburg geht im Allgemeinen immer von einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit dieser Organe oder Organmitglieder aus.


3 Vgl. Valérie Bidoul, Réflexions sur le traitement TVA des dirigeants d’entreprise, ACE Comptabilité, fiscalité, audit, droit des affaires au Luxembourg 2016/5, S. 3 ff.


4 Der Gerichtshof war bereits in dem Urteil vom 13. Juni 2019, IO (Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats) (C‑420/18, EU:C:2019:490), mit der Frage der Steuerpflichtigeneigenschaft eines Aufsichtsrates beschäftigt. In dem Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen (C‑355/06, EU:C:2007:615), ging es um einen angestellten Geschäftsführer, der zugleich der alleinige Gesellschafter war.


5 Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für das Streitjahr (2019) geltenden Fassung; insoweit zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2018/2057 des Rates vom 20. Dezember 2018 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die befristete generelle Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf Lieferungen bestimmter Gegenstände und Dienstleistungen oberhalb eines bestimmten Schwellenwertes (ABl. 2018, L 329, S. 3).


6 Im Einzelnen sind dies eine Bank mit Sitz in Luxemburg, eine Holdinggesellschaft eines an der Frankfurter Börse notierten Logistikkonzerns und zwei Holdinggesellschaften eines an der Pariser Börse notierten Pharmakonzerns.


7 Der Gerichtshof war bereits in dem Urteil vom 13. Juni 2019, IO (Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats) (C‑420/18, EU:C:2019:490), mit der Frage der Steuerpflichtigeneigenschaft eines Aufsichtsrates beschäftigt. In dem Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen (C‑355/06, EU:C:2007:615), ging es um einen angestellten Geschäftsführer, der zugleich der alleinige Gesellschafter war.


8 Urteil vom 15. April 2021, Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA (C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 47), ähnlich Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław (Umwandlung des Nießbrauchrechts) (C‑604/19, EU:C:2021:132, Rn. 69), in diese Richtung auch Urteil vom 16. September 2020, Valstybinė mokesčių inspekcija (Vereinbarung über eine gemeinsame Tätigkeit) (C‑312/19, EU:C:2020:711, Rn. 39).


9 Urteile vom 15. April 2021, Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA (C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 48), und vom 12. Mai 2016, Gemeente Borsele und Staatssecretaris van Financiën (C‑520/14, EU:C:2016:334, Rn. 29), vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juli 2012, Rēdlihs (C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 34), und vom 26. September 1996, Enkler (C‑230/94, EU:C:1996:352, Rn. 27).


10 Vgl. dazu näher meine Schlussanträge in der Rechtssache Posnania Investment (C‑36/16, EU:C:2017:134, Nr. 25).


11 Urteile vom 30. März 2023, Gmina L. (C‑616/21, EU:C:2023:280, Rn. 43) und Gmina O. (C‑612/21, EU:C:2023:279, Rn. 35).


12 Urteil vom 12. Mai 2016, Gemeente Borsele und Staatssecretaris van Financiën (C‑520/14, EU:C:2016:334, Rn. 29 ff.). Hintergrund war die fehlende typische Marktteilnahme der Gemeinde – siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache (C‑520/14, EU:C:2015:855, Nrn. 62 ff.).


13 Urteil vom 26. September 1996, Enkler (C‑230/94, EU:C:1996:352, Rn. 28 – „der Vergleich zwischen den Umständen“); darauf aufbauend auch Urteil vom 19. Juli 2012, Rēdlihs (C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 35 und 36).


14 Urteil vom 15. April 2021, Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA (C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 49), vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2018, Nagyszénás Településszolgáltatási Nonprofit Kft. (C‑182/17, EU:C:2018:91, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15 Urteil vom 15. April 2021, Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA (C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 49), vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 2016, Gemeente Borsele und Staatssecretaris van Financiën (C‑520/14, EU:C:2016:334, Rn. 31), vom 19. Juli 2012, Rēdlihs (C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 38), und vom 26. September 1996, Enkler (C‑230/94, EU:C:1996:352, Rn. 29).


16 Urteile vom 12. Mai 2016, Gemeente Borsele und Staatssecretaris van Financiën (C‑520/14, EU:C:2016:334, Rn. 33), und vom 29. Oktober 2009, Kommission/Finnland (C‑246/08, EU:C:2009:671, Rn. 50). Dies betont auch das Urteil vom 15. April 2021, Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA (C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 52).


17 Urteil vom 13. Juni 2019, IO (Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats) (C‑420/18, EU:C:2019:490, Rn. 44).


18 Urteil vom 13. Juni 2019, IO (Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats) (C‑420/18, EU:C:2019:490, Rn. 41 [eigene Rechnung] und Rn. 42 [wirtschaftliches Risiko]).


19 Siehe insoweit auch Urteil vom 29. September 2015, Gmina Wrocław (C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 34 und 37).


20 Für diesen hat der Gerichtshof eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit bereits verneint: Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen (C‑355/06, EU:C:2007:615, Tenor).


21 Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen (C‑355/06, EU:C:2007:615, Rn. 22) – dies hat der Gerichtshof sogar bezüglich eines Geschäftsführers angenommen, der zugleich der alleinige Gesellschafter der Gesellschaft war. Letzteres kann hier ausgeschlossen werden.


22 Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen (C‑355/06, EU:C:2007:615, Rn. 24). Auch das Urteil vom 25. Juli 1991, Ayuntamiento de Sevilla (C‑202/90, EU:C:1991:332, Rn. 13), betont den Zusammenhang zwischen dem Gewinn und dem eigenen Einsatz.


23 Urteil vom 13. Juni 2013, Kostov (C‑62/12, EU:C:2013:391, Rn. 31 und Tenor).


24 Urteil vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 47).


25 Siehe nur im Bereich der Steuerbefreiungen: Urteile vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies (C‑363/05, EU:C:2007:391, Rn. 26), vom 4. Mai 2006, Abbey National (C‑169/04, EU:C:2006:289, Rn. 53), vom 3. April 2003, Hoffmann (C‑144/00, EU:C:2003:192, Rn. 24), vom 10. September 2002, Kügler (C‑141/00, EU:C:2002:473, Rn. 30), und vom 7. September 1999, Gregg (C‑216/97, EU:C:1999:390, Rn. 20).


26 Urteil vom 15. April 2021, Finanzamt für Körperschaften Berlin (C‑868/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:285, Rn. 65). Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Februar 2005, Linneweber und Akritidis (C‑453/02 und C‑462/02, EU:C:2005:92, Rn. 25, und vom 16. Oktober 2008, Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club (C‑253/07, EU:C:2008:571, Rn. 31).


27 Vgl. in diesem Sinne: Urteile vom 3. März 2020, Vodafone Magyarország (C‑75/18, EU:C:2020:139, Rn. 62), vom 3. Mai 2012, Lebara (C‑520/10, EU:C:2012:264, Rn. 23 und 24), vom 11. Oktober 2007, KÖGÁZ u. a. (C‑283/06 und C‑312/06, EU:C:2007:598, Rn. 37), und vom 18. Dezember 1997, Landboden-Agrardienste (C‑384/95, EU:C:1997:627, Rn. 20 und 23).


28 Der Gerichtshof spricht im Urteil vom 13. März 2014, Malburg (C‑204/13, EU:C:2014:147, Rn. 43), von einem Auslegungsgrundsatz.


29 Urteile vom 13. März 2008, Securenta (C‑437/06, EU:C:2008:166, Rn. 25), und vom 1. April 2004, Bockemühl (C‑90/02, EU:C:2004:206, Rn. 39).


30 Urteile vom 13. März 2014, Malburg (C‑204/13, EU:C:2014:147, Rn. 41), vom 15. Dezember 2005, Centralan Property (C‑63/04, EU:C:2005:773, Rn. 51), vom 21. April 2005, HE (C‑25/03, EU:C:2005:241, Rn. 57), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Centralan Property (C‑63/04, EU:C:2005:185, Nr. 25).


31 Urteile vom 16. Oktober 2008, Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club (C‑253/07, EU:C:2008:571, Rn. 30), und vom 11. Juni 1998, Fischer (C‑283/95, EU:C:1998:276, Rn. 22).


32 In diesem Sinne schon Urteil vom 7. September 1999, Gregg (C‑216/97, EU:C:1999:390, Rn. 20).


33 Laut dem Schriftsatz der Kommission stammt das Dokument des Rates vom 23. März 1997 und hat das Aktenzeichen R/716/77 (FIN 151). Die deutsche Übersetzung dieser Protokollerklärung in der Ratstagung am 17. Mai 1977 zur 6. MwSt-RL ist abgedruckt in dem Umsatzsteuerkommentar „Rau/Dürrwächter, UStG“ im Bd. VIII, Texte, „EG-Richtlinien“ – zu Art. 4 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie (Lfg. 112 – November 2002).


34 Zur eingeschränkten rechtlichen Bedeutung vgl. Urteile vom 17. Dezember 2020, WEG Tevesstrasse (C‑449/19, EU:C:2020:1038, Rn. 44), vom 22. Oktober 2009, Swiss Re Germany Holding (C‑242/08, EU:C:2009:647, Rn. 62), und vom 8. Juni 2000, Epson Europe (C‑375/98, EU:C:2000:302, Rn. 26).

 

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