FG Baden-Württemberg: Beginn der Festsetzungsfrist bei Antragsveranlagung
FG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.2.2011 - 10 K 3092/08
Sachverhalt
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Streitig ist, ob eine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen ist.
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Die Klägerin bezog im Streitjahr ausschließlich Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit. Am 8. Januar 2008 reichte sie die Einkommensteuererklärung für das Jahr 2003 ein. Mit Schreiben vom 1. Februar 2008 teilte das beklagte Finanzamt der Klägerin mit, dass die zweijährige Antragsfrist für die Veranlagung abgelaufen sei und forderte die Klägerin auf, gegebenenfalls Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorzutragen und glaubhaft zu machen. Der daraufhin gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung wurde damit begründet, dass die Klägerin die Ausschlussfrist für Antragsveranlagungen nicht gekannt habe. Sie sei in den Vorjahren immer zur Abgabe einer Steuererklärung aufgefordert worden und habe daher keinen Anlass gesehen, sich über den Lauf von Fristen, die das Finanzamt nicht erwähnt habe, zu informieren.
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Das Finanzamt lehnte die Veranlagung für das Jahr 2003 mit Bescheid vom 18. März 2008 ab. Der dagegen form- und fristgerecht eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 10. Juni 2008 zurückgewiesen. Hiergegen erhob die Klägerin am 9. Juli 2008 Klage.
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Zur Begründung trägt sie vor, die beantragte Einkommensteuerveranlagung sei durchzuführen, nachdem die zweijährige Ausschlussfrist für Antragsveranlagungen im Gesetz nunmehr entfallen sei. Die Gesetzesänderung wäre auch für den Veranlagungszeitraum 2003 anzuwenden, wenn über einen Antrag auf Veranlagung bis zum 28. Dezember 2007 nicht entschieden worden sei. Der Antrag der Klägerin auf Veranlagung sei innerhalb der Festsetzungsfrist gestellt worden. Die dreijährige Anlaufhemmung greife auch im Falle der Antragsveranlagung, da andernfalls gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen würde.
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Die Klägerin beantragt,
1. den Beklagten zu verpflichten, die Einkommensteuerveranlagung 2003 durchzuführen,
2. hilfsweise die Revision zuzulassen,
3. die Zuziehung des Prozessbevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären.
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Der Beklagte beantragt,
1. die Klage abzuweisen,
2. hilfsweise die Revision zuzulassen.
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Er trägt vor, der Wegfall der Antragsfrist käme erst ab dem Veranlagungszeitraum 2005, mithin nicht im Streitfall zur Anwendung. Der Wegfall dieser Frist bedeute im Übrigen nicht, dass Antrags- und Pflichtveranlagungen auch hinsichtlich der Festsetzungsverjährung gleich zu behandeln seien. Für Antragsveranlagungen beginne die Festsetzungsfrist ohne Anlaufhemmung mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden sei. Die vierjährige Festsetzungsfrist für das Streitjahr sei daher im Jahr 2008, als der Antrag auf Veranlagung gestellt wurde, bereits abgelaufen gewesen.
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Dem ursprünglich ebenfalls verfahrensgegenständlichen Antrag auf Veranlagung für das Jahr 2004 hat der Beklagte im Laufe des gerichtlichen Verfahrens stattgegeben und einen Einkommensteuerbescheid erlassen. Dem Vorschlag, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesfinanzhofes -BFH- in den Revisionsverfahren VI R 53/10 und VI R 77/10 ruhen zu lassen, hat die Klägerin nicht zugestimmt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vom Beklagten vorgelegten Akten (Einkommensteuerakte, Rechtsbehelfsakte), den Ablehnungsbescheid, die Einspruchsentscheidung sowie auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird verwiesen.
Aus den Gründen
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1. Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid des Beklagten vom 18. März 2008, mit dem er eine Veranlagung der Klägerin zur Einkommensteuer 2003 abgelehnt hat, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -.
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a) Besteht das Einkommen - wie im Streitfall - nach § 46 Abs. 2 Einkommensteuergesetz -EStG- ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird eine Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 8 EStG durchgeführt, wenn der Steuerpflichtige diese beantragt. Der Antrag ist durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu stellen. Durch Einreichung der Einkommensteuererklärung für 2003 am 8. Januar 2008 hat die Klägerin den entsprechenden Antrag gestellt.
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b) Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht in Betracht kommt. Insbesondere ist hinsichtlich des Jahres 2003 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.
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aa) Die zusätzliche Voraussetzung, dass der Antrag bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres zu stellen war, ist mit der Änderung der Vorschrift durch das Jahressteuergesetz 2008 (Bundesgesetzblatt -BGBl. I 2007, 3150) nunmehr entfallen. § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. ist gemäß § 52 Abs. 55 j EStG 2008 erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und in Fällen, in denen am 28. Dezember 2007 über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist. So liegt der Fall hier. Eine bestandskräftige Ablehnung eines Antrags der Klägerin auf Durchführung der Einkommensteuer-Veranlagung für 2003 lag nicht vor.
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Der Anspruch des Klägers auf Durchführung der streitbefangenen Veranlagungen ist von weiteren Voraussetzungen nicht abhängig (BFH-Urteil vom 15. Januar 2009 VI R 23/08, Sammlung der amtlich nicht veröffentlichten Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2009, 755). Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Antrag auf Veranlagung für Veranlagungszeiträume vor 2005 bereits vor dem 28. Dezember 2007 bei den Finanzbehörden eingegangen ist (BFH-Urteil vom 12. November 2009 VI R 1/09, BFH/NV 2010, 514).
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bb) Die Festsetzungsfrist für das Streitjahr 2003 endete unter Berücksichtigung der Anlaufhemmung und ohne Berücksichtigung einer Ablaufhemmung erst am 31. Dezember 2010. Die Festsetzungsfrist beginnt gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung -AO- mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Für die Einkommensteuer 2003 begann die Festsetzungsfrist also mit Ablauf des 31. Dezember 2006.
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Auch für die Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu berücksichtigen. Dies ergibt sich auf Grund einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift. Eine Anwendung des § 170 Abs. 1 AO würde zu einer gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz -GG- verstoßenden Ungleichbehandlung derjenigen, die nur auf Antrag zu veranlagen sind, gegenüber denjenigen, für die eine Veranlagungspflicht besteht, führen (Urteil des Finanzgerichts Köln vom 3. Dezember 2008 11 K 4917/07, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2009, 480).
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(1) Art. 3 Abs. 1 GG verlangt die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz. Dies bedeutet für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden müssen (Urteil des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, Sammlung der amtlich veröffentlichten Entscheidungen des BVerfG -BVerfGE- 84, 239; BVerfG-Beschluss vom 16. März 2005 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268). Der Steuergesetzgeber hat im Einkommensteuerrecht die Steuerschuldner der verschiedenen Einkunftsarten gleich zu behandeln. Diese Verpflichtung zur Belastungsgleichheit schließt aber nicht aus, dass das Erhebungsverfahren um der Allgemeinheit und Verlässlichkeit der Besteuerung willen je nach Einkunftsart entsprechend den typischen Lebensvorgängen - auch mit messbaren Unterschieden für Gruppen von Steuerpflichtigen - verschieden geregelt wird (BVerfG-Beschluss vom 10. April 1997 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1). Unterschiedliche Rechtsfolgen, die an die Unterscheidung mehrerer Einkunftsarten im Einkommensteuerrecht anknüpfen, müssen - wenn auch in typisierender und generalisierender Weise - durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein. Allein die systematische Unterscheidung von Einkunftsarten im Gesetz rechtfertigt für sich allein eine Ungleichbehandlung nicht (BVerfG-Beschluss vom 8. Oktober 1991 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348). Der Gesetzgeber hat demgemäß die Besteuerungstatbestände und die ihnen entsprechenden Erhebungsregelungen aufeinander abzustimmen. Die verschiedene Behandlung von Steuerpflichtigen, die Einkommensteuer zahlen, und solchen, die Lohnsteuer zahlen, muss sich auf die Punkte beschränken, in denen sie durch die Besonderheiten des Veranlagungsverfahrens oder des Lohnsteuerabzugsverfahrens hinreichend sachlich gerechtfertigt ist, um die Gleichheit beider Gruppen vor dem Steuergesetz zu wahren (BVerfG-Beschlüsse vom 26. Januar 1977 1 BvL 7/76, BVerfGE 43, 231; vom 25. April 1972 1 BvL 38/69, 25/70 und 20/71, BVerfGE 33, 90; vom 13. Dezember 1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1).
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Zwar hat der Gesetzgeber vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen im Steuerrecht und in der Steuerverwaltung einen - freilich nicht unbegrenzten - Spielraum für generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen. Eine solche Typisierung setzt jedoch voraus, dass durch sie hervorgerufene Härten und Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen dürfen und der dadurch eintretende Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist. Zudem ist zu prüfen, ob die auftretenden Härten einfach zu vermeiden wären; hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht (BVerfG-Beschluss vom 8. Februar 1983 1 BvL 28/79, BVerfGE 63, 119, m.w.N.; ständige Rechtsprechung). Der Gesetzgeber hat folglich die für den Steuerpflichtigen sich ergebenden Vor- und Nachteile aus einer unterschiedlichen Erhebung von Lohnsteuer und sonstiger Einkommensteuer insgesamt gegeneinander abzuwägen.
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Sowohl pflicht- als auch antragsveranlagte Steuerpflichtige befinden sich im Hinblick auf die Frage, innerhalb welcher Frist eine Veranlagung durch die Finanzverwaltung durchzuführen ist, in einer vergleichbaren Lage. Zwar bestehen bei einer Veranlagung von Amts wegen einerseits und einer Antragsveranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG andererseits Unterschiede, insbesondere hinsichtlich der sanktionierten Verpflichtung aus § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Einkommensteuerdurchführungsverordnung -EStDV-, eine Steuererklärung abzugeben.
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Den Tatbeständen des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG, nach dem Bezieher von Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit von Amts wegen zur Einkommensteuer veranlagt werden, liegt die Vorstellung des Gesetzgebers zu Grunde, die bei diesen Steuerpflichtigen einbehaltenen Steuerabzugsbeträge könnten möglicherweise nicht ausreichen, um die tatsächlich entstandene Steuerschuld zu decken. Eine verlängerte Festsetzungsfrist liegt dann im Interesse des Fiskus, um durch die länger mögliche Veranlagung das Steueraufkommen zu sichern. Andererseits sind die nur auf Antrag zu veranlagenden Steuerpflichtigen selbst daran interessiert, eine Einkommensteuererklärung abzugeben, um eine Steuererstattung zu erhalten. Trotz dieser Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen liegen aber hinsichtlich der zeitlichen Grenze für die Durchführung einer Veranlagung vergleichbare Sachverhalte vor, denn für beide geht es jeweils darum, innerhalb welcher Frist sie die Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer durch eine Veranlagung erreichen können, damit die Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen hergestellt werden kann. Der Steuerpflichtige, der Einkommensteuer-Vorauszahlungen geleistet hat, befindet sich in diesem Bezug in keiner anderen Lage als der Arbeitnehmer, der dem Steuerabzug unterliegt. Eine unterschiedliche Behandlung beider Gruppen ist insoweit nicht gerechtfertigt. Insbesondere lässt sich eine solche Rechtfertigung nicht aus dem Interesse der Allgemeinheit an einer funktionsfähigen und möglichst sparsam arbeitenden Finanzverwaltung, wichtigen fiskalischen Erwägungen oder dem Gesichtspunkt einer verhältnismäßig kleinen Zahl betroffener Personen und eines nicht sehr intensiven Verstoßes gegen den Gleichheitssatz herleiten (vgl. BFH-Vorlagebeschluss vom 22. Mai 2006 VI R 46/05, BStBl. II 2006, 820).
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Die vorstehenden Grundsätze, die der BFH zunächst nur für die frühere zweijährige Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. aufgestellt hat, lassen sich auf die Frage übertragen, ob auch für die Antragsveranlagung die Anlaufhemmung § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gelten muss. Auch hier rechtfertigen die genannten Unterschiede zwischen Pflicht- und Antragsveranlagten aus den gleichen Gründen keine unterschiedlichen Festsetzungsfristen. Der Sicherungszweck hinsichtlich des Steueraufkommens, den der Gesetzgeber mit der Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist verfolgte, reicht dafür nicht aus. Zum einen werden finanzielle Nachteile des Fiskus, die durch die spätere Erklärungsabgabe und damit Steuer(nach)zahlung entstehen könnten, durch die Vollverzinsung der Steuerbeträge nach § 233 a AO ausgeglichen. Zum anderen hat die Finanzbehörde die Möglichkeit, die Abgabe einer Steuererklärung durch Zwangsmittel zu beschleunigen und die verspätete Abgabe durch Zuschläge zu sanktionieren. Schließlich erlaubt § 162 AO, die Besteuerungsgrundlagen vollständig zu schätzen und auf diese Art eine Steuer festzusetzen und beizutreiben, so dass dem Sicherungsgedanken zumindest auf diesem Wege Genüge getan werden kann.
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Der BFH selbst ist im zitierten Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht vom 22. Mai 2006 von einer Anwendung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO erkennbar, wenn auch nicht ausdrücklich, ausgegangen. Er ermittelte den Ablauf der regelmäßigen Festsetzungsfrist derart, dass er auf das Ergebnis nur unter Einbeziehung der Anlaufhemmung kommen konnte (vgl. auch BFH-Urteil vom 15. Januar 2009 VI R 23/08, BFH/NV 2009, 755). Andernfalls wäre ein Vorlagebeschluss nicht möglich gewesen. Dabei maß der BFH der Frage, ob der Kläger vom Beklagten nach § 149 Abs. 1 Satz 2 AO zur Abgabe einer Steuererklärung aufgefordert worden war oder aber die Erklärung freiwillig abgegeben hat, keine Bedeutung bei.
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(2) Der ohne Anwendung der Anlaufhemmung auf Antragsveranlagungen eintretende Gleichheitsverstoß ist zu vermeiden, indem § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO dahingehend verfassungskonform ausgelegt wird, dass eine Anlaufhemmung auch für Antragsveranlagungen greift.
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Aus der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ergibt sich nach der Rechtsprechung des BVerfG das Gebot, ein Gesetz im Zweifel verfassungskonform auszulegen, soweit unter Berücksichtigung und innerhalb der Grenzen von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen der betreffenden Bestimmung möglich sind, von denen zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt. Ein Normenverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers steht, kann allerdings auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden. Anderenfalls würde man der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen (BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164). Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO stehen einer verfassungskonformen Auslegung bereits deshalb nicht entgegen, weil es sich um eine Vorschrift des Verfahrensrechts handelt, die erst unter Hinzuziehung des jeweiligen materiellen Steuergesetzes eine Aussage hinsichtlich des Eintritts einer Anlaufhemmung treffen kann (vgl. § 149 Abs. 1 Satz 1 AO).
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Die verfassungskonforme Auslegung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO im oben dargestellten Sinne steht auch nicht im Widerspruch zum Gesetzeszweck. Die Vorschrift sollte verhindern, dass durch unterlassene oder späte Abgabe der Steuererklärung die Zeit verkürzt wird, die der Finanzbehörde für die Bearbeitung zur Verfügung steht. Dabei hatte der Gesetzgeber zwar vor allem die Fälle im Auge, in denen die Steuererklärung - im Gegensatz zum Regelfall bei der Antragsveranlagung - zu einer Nachzahlung führt und der Regelbeginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO den Steuerpflichtigen eher in die Möglichkeit versetzte, durch späte Abgabe der Erklärung auf einen Eintritt der Festsetzungsverjährung zu hoffen und damit eine Steuer(nach)zahlung zu verhindern. Auch bei der Pflichtveranlagung kommen jedoch Erstattungsfälle und sonstige Fälle ohne Nachzahlung vor. Auch diese, durchaus häufig vorkommenden Fälle, hatte der Gesetzgeber vor Augen und bezog sie in den Regelungsbereich der Vorschrift mit ein. Damit steht eine Anwendung der Vorschrift auf die Antragsveranlagung im Wege der verfassungskonformen Auslegung nicht in einem klaren Widerspruch zum Gesetzeszweck (Urteil des FG Köln vom 3. Dezember 2008 11 K 4917/07, EFG 2009, 480).
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(3) Auch der Wortlaut der Vorschrift des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO steht einer verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Nach dem Wortlaut greift die Ablaufhemmung u.a. ein, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist. Wann dies der Fall ist, regelt § 149 Abs. 1 AO i.V.m. dem materiellen Steuergesetz. Für die Einkommensteuer geht § 25 Abs. 3 EStG von dem Grundsatz aus, dass jeder Steuerpflichtige eine Einkommensteuererklärung abzugeben hat. Das Einkommensteuerrecht folgt dem Erklärungs- und Veranlagungsprinzip. Die in § 56 EStDV i.V.m. § 46 Abs. 2 EStG geregelten Ausnahmen davon ändern nichts an der grundsätzlich bestehenden Erklärungspflicht gemäß § 25 Abs. 3 EStG. § 51 Abs. 1 Nr. 1 EStG enthält eine Ermächtigungsgrundlage für eine Rechtsverordnung nur insoweit, als „die Beschränkung der Steuererklärungspflicht auf Fälle, in denen eine Veranlagung in Betracht kommt" geregelt werden soll und dies zur Wahrung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, zur Vermeidung von unbilligen Härtefällen oder zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens erforderlich ist. Es ist schon zweifelhaft, ob die gesetzliche Verordnungsermächtigung für § 56 EStDV in ihrer Wirkung überhaupt § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO betreffen sollte, denn im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens konnten etwaige Konsequenzen wegen der im Gegensatz zur Festsetzungsfrist damals noch geltenden viel kürzeren Antragsfrist nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. für die Veranlagung nicht auftreten (Urteil des FG Düsseldorf vom 24. April 2008 12 K 4730/04 E, EFG 2008, 1088). Jedenfalls bedeutet diese durch den Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, per Verordnung Ausnahmen von der grundsätzlich vorgesehenen Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung zuzulassen, nicht, dass die übrigen Steuerpflichtigen keine Steuererklärung abgeben dürfen und nicht veranlagt werden können. Die Einschränkung der umfassenden Erklärungspflicht dient - neben der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens - vielmehr der Entlastung der Steuerpflichtigen. Diese Begünstigung darf aber nicht ins Gegenteil verkehrt werden, indem die Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist nur noch für die Ausnahmefälle des § 56 EStDV zum Tragen kommt. Dies würde eine Verletzung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung bedeuten und überdies unbillige Härtefälle nach sich ziehen. Eine Rechtsverordnung darf nach § 51 EStG aber gerade nur zur Wahrung der Gleichmäßigkeit und Vermeidung von Härtefällen erlassen werden. Verordnungen, die dem Zweck der Verfahrensvereinfachung dienen, dürfen dieses Ziel nicht über die Wahrung der materiell-rechtlich gleichmäßigen Besteuerung stellen. Die grundsätzliche Erklärungspflicht des § 25 Abs. 3 EStG besteht daher ungeachtet des § 56 EStDV weiterhin. Diese Vorschrift bleibt eine latente Ermächtigungsgrundlage für die Aufforderung zur Abgabe von Steuererklärungen durch die Finanzbehörden auch in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 56 EStDV nicht gegeben sind (vgl. Urteil des FG Düsseldorf vom 24. April 2008 12 K 4730/04 E, EFG 2008, 1088). Die vom Senat vorgenommene verfassungskonformen Auslegung steht deshalb nicht in Widerspruch zum Wortlaut des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO, der eine Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für den Fall vorsieht, dass eine Steuererklärung einzureichen ist. Die Aufhebung der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. kam einer vom Gesetzgeber erwarteten Entscheidung des BVerfG zuvor. Konsequenz dieser Entscheidung ist nach Auffassung des Senates, dass keine gesetzliche Grundlage besteht, die Geltung der Anlaufhemmung zu versagen. Dadurch ist nach Ansicht des Senates die Entscheidung des BFH vom 9. März 1990 VI R 87/89 (BStBl. II 1990, 608) überholt.
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Die damit im Streitfall nach §§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO zu berechnende Festsetzungsfrist war für das Jahr 2003 im Zeitpunkt der am 8. Januar 2008 durch Abgabe der Einkommensteuererklärung für 2003 beim Beklagten erfolgten Antragstellung auf Steuerfestsetzung noch nicht abgelaufen. Seit diesem Zeitpunkt greift die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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3. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zuzulassen. Der Senat weicht in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung des BFH vom 9. März 1990 VI R 87/89 (BStBl. II 1990, 608) und einer Entscheidung des FG Baden-Württemberg vom 4. Mai 2010 4 K 478/10 (EFG 2010, 1611) ab. Zu dieser Frage sind beim BFH Revisionsverfahren anhängig (VI R 53/10 und VI R 77/10).