EuGH: Ausschüttung von Dividenden aus einem Mitgliedstaat nach einem seiner überseeischen Gebiete – Freier Kapitalverkehr – Räumlicher Geltungsbereich des Unionsrechts – Sonderregelung EU‒ÜLG
EuGH, Urteil vom 5.6.2014 – C‑24/12 (X BV) und C‑27/12 (TBG Limited) gegen Staatssecretaris van Financiën
Tenor
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer steuerlichen Maßnahme eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die den Kapitalverkehr zwischen diesem Mitgliedstaat und seinem eigenen überseeischen Land oder Hoheitsgebiet im Rahmen einer wirksamen und verhältnismäßigen Verfolgung des Ziels der Bekämpfung der Steuerumgehung beschränkt.
Aus den Gründen
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Frage, ob die Bestimmungen des Unionsrechts im Bereich des freien Kapitalverkehrs wie Art. 56 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer Maßnahme eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die geeignet ist, den Kapitalverkehr zwischen diesem Mitgliedstaat und den zu ihm gehörenden überseeischen Ländern und Gebieten (ÜLG) (im Folgenden: eigene ÜLG) zu behindern.
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen der X BV bzw. der TBG Limited und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär der Finanzen) wegen einer Steuer, die in den Niederlanden auf Dividenden erhoben wird, die von Unternehmen mit Sitz in den Niederlanden an ihre Muttergesellschaften mit Sitz auf den Niederländischen Antillen ausgeschüttet werden, während eine solche Ausschüttung von Dividenden an eine Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden oder einem anderen Mitgliedstaat von der Steuer befreit ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Niederländischen Antillen sind in dem mit „Überseeische Länder und Hoheitsgebiete, auf welche der Vierte Teil des Vertrags Anwendung findet“ überschriebenen Verzeichnis in Anhang II des EG-Vertrags aufgeführt.
4 Der Vierte Teil („Überseeische Länder und Hoheitsgebiete, auf welche der Vierte Teil des Vertrags Anwendung findet“) des EG-Vertrags umfasst die Art. 182 EG bis 188 EG.
5 Art. 187 EG sieht vor:
„Der Rat legt aufgrund der im Rahmen der Assoziierung der [ÜLG] an die Gemeinschaft erzielten Ergebnisse und der Grundsätze dieses Vertrags die Bestimmungen über die Einzelheiten und das Verfahren für die Assoziierung der [ÜLG] an die Gemeinschaft einstimmig fest.“
6 Gemäß Art. 187 EG hat der Rat wiederholt genaue Vorschriften zur Konkretisierung des besonderen Systems der Assoziierung der ÜLG an die Gemeinschaft und zur Erreichung der Ziele der Assoziierung erlassen.
7 Zur für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit war die anwendbare Regelung der Beschluss 2001/822/EG des Rates vom 27. November 2001 über die Assoziation der überseeischen Länder und Gebiete mit der Europäischen Gemeinschaft (Übersee-Assoziationsbeschluss) (ABl. L 314, S. 1, im Folgenden: ÜLG-Beschluss).
8 Der sechste Erwägungsgrund des ÜLG-Beschlusses lautet:
„Die ÜLG sind zwar keine Drittländer, aber auch nicht Teil des Binnenmarktes und müssen auf der Ebene des Handels den für die Drittländer festgelegten Verpflichtungen nachkommen, vor allem hinsichtlich der Ursprungsregeln, der Einhaltung der gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Normen und der Schutzmaßnahmen.“
9 Der 16. Erwägungsgrund dieses Beschlusses lautet:
„Die allgemeinen Bestimmungen des Vertrags und die daraus abgeleiteten Rechtsvorschriften gelten nicht ohne weiteres für die ÜLG, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. In die Gemeinschaft eingeführte Erzeugnisse der ÜLG jedoch müssen den geltenden Gemeinschaftsvorschriften entsprechen.“
10 Art. 47 („Laufende Zahlungen und Kapitalverkehr“) des ÜLG-Beschlusses bestimmt:
„(1) Unbeschadet des Absatzes 2
a) beschränken die Mitgliedstaaten und die Behörden der ÜLG nicht die Leistungsbilanzzahlungen in frei konvertierbarer Währung zwischen Staatsangehörigen der Gemeinschaft und der ÜLG,
b) beschränken die Mitgliedstaaten und die Behörden der ÜLG hinsichtlich der Kapitalbilanztransaktionen nicht die freien Kapitalbewegungen im Zusammenhang mit Direktinvestitionen in Gesellschaften, die nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaates, Aufnahmelandes oder ‑gebietes gegründet wurden, und sie gewährleisten die Liquidation und die Repatriierung dieser Investitionen und der daraus resultierenden Gewinne.
(2) Die Gemeinschaft, die Mitgliedstaaten und die ÜLG sind befugt, die in den Artikeln 57, 58, 59, 60 und 301 des Vertrags genannten Maßnahmen im Einklang mit den in jenen Artikeln genannten Bedingungen entsprechend anzuwenden. …“
11 Art. 55 („Sonderregelung für Abgaben“) des ÜLG-Beschlusses sieht in Abs. 2 vor:
„Dieser Beschluss kann nicht so ausgelegt werden, als verhindere er die Annahme oder die Anwendung von Maßnahmen im Rahmen der Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, der sonstigen steuerrechtlichen Regelungen oder des geltenden inländischen Steuerrechts, mit denen der Steuerumgehung oder ‑hinterziehung vorgebeugt werden soll.“
Niederländisches Recht
12 Die im Königreich der Niederlande geltende Rechtsordnung ist im Statut für das Königreich der Niederlande (Statuut voor het Koninkrijk der Nederlanden) geregelt. Während der in den Ausgangsverfahren maßgeblichen Steuerjahre, nämlich der Jahre 2005 und 2006, bestand das Königreich der Niederlande (Koninkrijk der Nederlanden) aus drei Teilen: den Niederlanden (Nederland), den Niederländischen Antillen (Nederlandse Antillen) und Aruba.
13 Die steuerlichen Beziehungen zwischen den drei Teilen werden durch die Abgabenordnung für das Königreich (Belastingregeling voor het Koninkrijk, im Folgenden: Abgabenordnung) geregelt. Jeder der drei Teile des Königreichs der Niederlande verfügt innerhalb der von der Abgabenordnung festgesetzten Grenzen über eine eigene Steuerzuständigkeit.
14 Art. 11 Abs. 1 und 2 (Steuern auf Beteiligungsdividenden) der Abgabenordnung bestimmt:
„1. Die Dividenden, die ein Einwohner eines der Länder bezieht und die von einer juristischen Person mit Sitz in einem der anderen Länder geschuldet werden, unterliegen der Besteuerung im ersten Land.
2. Wenn das Land, in dem die juristische Person, welche die Dividenden schuldet, ihren Sitz hat, eine Steuer auf die Dividende im Wege des Abzugs erhebt, lässt Abs. 1 diese Art Steuer unberührt, sofern der Satz 15 % nicht übersteigt.“
15 Bis zum 1. Januar 2002 bestimmte Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung:
„Unter noch näher zu regelnden Voraussetzungen zur Gewährleistung einer richtigen Anwendung dieses Artikels, die sowohl seinem Ziel als auch seinem Zweck entspricht, beträgt der Steuersatz im Sinne von Abs. 2 höchstens 7,5 %, wenn die Dividenden von einer Gesellschaft bezogen werden, deren Kapital ganz oder teilweise in Aktien aufgeteilt ist, die ihren Sitz in dem anderen Land hat und die Anteile in Höhe von mindestens einem Viertel des eingezahlten Nennkapitals der Gesellschaft hält, die die Dividenden schuldet. Unter noch näher zu regelnden Voraussetzungen zur Gewährleistung einer richtigen Anwendung dieses Artikels, die sowohl seinem Ziel als auch seinem Zweck entspricht, beträgt der Steuersatz in dem im vorhergehenden Satz genannten Fall jedoch höchstens 5 %, wenn in dem Land, in dem die Gesellschaft, welche die Dividenden bezieht, ihren Sitz hat, Dividenden einer Ertragsteuer unterliegen, deren Satz mindestens 5,5 % beträgt.“
16 Bis zum 1. Januar 2002 unterlagen somit Beteiligungsdividenden, die in den Niederlanden an eine Gesellschaft mit Sitz auf den Niederländischen Antillen ausgeschüttet wurden, gemäß Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung einem Quellensteuersatz von 7,5 % bzw. 5 %.
17 Die Niederländischen Antillen erhoben ihrerseits nach den Art. 8A, 8B, 14 und 14A (alt) der Landesverordnung über die Ertragsteuer (Landsverordening op de winstbelasting) eine Ertragsteuer von mindestens 2,4 % bis 3 % oder höchstens 5,5 %.
18 Ferner bestand auf den Niederländischen Antillen die Möglichkeit, aufgrund einer Einzelfallentscheidung der Behörden der Niederländischen Antillen, d. h. einer von der Steuerverwaltung der Niederländischen Antillen gewährten individuellen Regelung, Kosten, ob real oder nicht, insbesondere Darlehenszinsen, im Rahmen der Veranlagung zur Ertragsteuer der Niederländischen Antillen von dieser Steuer abzuziehen.
19 Unbeschadet der Praxis der Einzelfallentscheidungen der Niederländischen Antillen betrug die sich hieraus ergebende Gesamtsteuerbelastung aus der niederländischen Dividendensteuer und der Ertragsteuer der Niederländischen Antillen etwa 10 %.
20 Ab dem 1. Januar 2002 wurde Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung (im Folgenden: neuer Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung) wie folgt geändert:
„… Abweichend von den beiden vorhergehenden Sätzen gilt für Dividenden, die von einer Gesellschaft mit Sitz auf den Niederländischen Antillen bezogen und von einer Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden geschuldet werden, folgende Regelung:
a) Der Steuersatz im Sinne von Abs. 2 beträgt höchstens 8,3 %, wenn die Dividenden von einer Gesellschaft bezogen werden, deren Kapital ganz oder teilweise in Aktien aufgeteilt ist und die Anteile in Höhe von mindestens einem Viertel des eingezahlten Nennkapitals der Gesellschaft hält, die die Dividenden schuldet, und sofern auf den Niederländischen Antillen die Steuer im Sinne von Abs. 2 förmlich oder tatsächlich nicht in der Weise berücksichtigt wird, dass die effektive steuerliche Gesamtbelastung der Dividenden gemäß Abs. 1 einerseits und Abs. 2 und 3 andererseits weniger als 8,3 % beträgt;
b) ein Betrag entsprechend der auf diese Weise entrichteten Steuer wird ohne weitere Bedingungen unmittelbar an die antillischen Behörden abgeführt;
…“
21 Seit dem 1. Januar 2002 unterliegen somit Ausschüttungen von Beteiligungsdividenden, die in den Niederlanden an eine Gesellschaft mit Sitz auf den Niederländischen Antillen ausgeschüttet werden, einem von den Niederlanden erhobenen Quellensteuersatz von 8,3 %. Allerdings wird die auf diese Weise erhobene Steuer vollständig an die Niederländischen Antillen abgeführt.
22 Die Art. 8A, 8B, 14 und 14A (alt) der Landesverordnung über die Ertragsteuer wurden am 1. Januar 2002 aufgehoben. Beteiligungsdividenden an Tochtergesellschaften mit Sitz in den Niederlanden wurden dadurch auf den Niederländischen Antillen von der Steuer befreit.
23 Dividenden, die von Gesellschaften mit Sitz in den Niederlanden an Gesellschaften mit Sitz in den Niederlanden oder einem anderen Mitgliedstaat ausgeschüttet werden, sind nach den Art. 4 und 4a des Gesetzes von 1965 über die Dividendensteuer (Wet op de dividendbelasting 1965) von der Quellensteuer befreit, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
24 Dagegen wird eine solche Befreiung nicht für Dividenden gewährt, die Gesellschaften mit Sitz in den Niederlanden an Gesellschaften mit Sitz auf den Niederländischen Antillen ausschütten.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
25 In der Rechtssache C‑24/12 ist die X BV eine Gesellschaft des niederländischen Rechts mit Sitz in den Niederlanden, deren sämtliche Anteile am Gesellschaftskapital von der Stichting A van aandelen X BV gehalten werden. Die ausgegebenen nicht stimmberechtigten Anteilsscheine werden von der B NV mit Sitz auf den Niederländischen Antillen gehalten.
26 Die X BV schüttete am 27. Juni 2005 eine Dividende in Höhe von 5 000 000 Euro an die B NV aus. Die Dividendensteuer für diese Ausschüttung betrug 8,3 %, also 415 000 Euro, und wurde gemäß dem neuen Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung einbehalten und abgeführt.
27 Die X BV legte hiergegen Einspruch ein, der vom Staatssecretaris van Financiën zurückgewiesen wurde. Gegen die Zurückweisung des Einspruchs erhob sie Klage bei der Rechtbank te Haarlem, die diese Klage als unbegründet abwies. Die X BV legte Rechtsmittel beim Gerechtshof te Amsterdam ein, der die Entscheidung der Rechtbank te Haarlem bestätigte. Die X BV legte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen die Entscheidung des Gerechtshof te Amsterdam ein.
28 In der Rechtssache C‑27/12 ist die Hollandsch-Amerikaansche Beleggingsmaatschappij Holland-American Investment Corporation NV (im Folgenden: HAIC) eine Gesellschaft des niederländischen Rechts mit Sitz in den Niederlanden und eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der TBG Holding NV (im Folgenden: TBG Holding), die ihren Sitz auf den Niederländischen Antillen hat.
29 Die HAIC schüttete am 1. September 2006 an die TBG Holding eine Dividende in Höhe von 376 369 430 Euro aus. Für diese Ausschüttung wurden gemäß dem neuen Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung 8,3 %, also 31 238 663 Euro, Dividendensteuer einbehalten und abgeführt.
30 Die HAIC und die TBG Holding legten beide hiergegen Einspruch ein, der vom Staatssecretaris van Financiën zurückgewiesen wurde. Sie erhoben gegen die Zurückweisung des Einspruchs Klage bei der Rechtbank te Haarlem, die diese Rechtssachen verband und die Klagen als unbegründet abwies. Die HAIC und die TBG Holding legten Rechtsmittel beim Gerechtshof te Amsterdam ein, der die Entscheidung der Rechtbank te Haarlem bestätigte.
31 Die TBG Limited, die in die Rechte und Pflichten der HAIC und der TBG Holding eingetreten ist, legte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen die Entscheidung des Gerechtshof te Amsterdam ein.
32 Das vorlegende Gericht führt aus, dass es in den Rechtsstreitigkeiten beim Gerechtshof te Amsterdam im Kern um die Frage gegangen sei, ob eine Dividendensteuer wie die im vorliegenden Fall fragliche gegen den freien Kapitalverkehr im Sinne von Art. 56 EG verstoße. Der Gerechtshof te Amsterdam sei der Ansicht gewesen, dass Art. 56 EG auf ÜLG nicht allgemein anwendbar sei. Er habe dem ÜLG-Beschluss entnommen, dass die Beziehungen zwischen den Niederlanden und den Niederländischen Antillen einem innerstaatlichen Sachverhalt im Sinne des Unionsrechts gleichzustellen seien und sich daher ausschließlich nach der Abgabenordnung und dem Gesetz von 1965 über die Dividendensteuer regelten.
33 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach Art. 56 EG alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten seien. Der Gerichtshof habe im Urteil Prunus und Polonium (C‑384/09, EU:C:2011:276) in Rn. 20 entschieden, dass diese Vorschrift angesichts ihres unbeschränkten räumlichen Anwendungsbereichs zwangsläufig für den Kapitalverkehr nach und aus den ÜLG gelte, und in den Rn. 30 sowie 31, dass die in Art. 56 EG vorgesehene Liberalisierung des Kapitalverkehrs den ÜLG in ihrer Eigenschaft als Drittstaaten zugutekomme, da der EU-Vertrag in seiner vor dem Vertrag von Lissabon geltenden Fassung und der EG‑Vertrag keine ausdrückliche Bezugnahme auf den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und den ÜLG enthielten.
34 Das vorlegende Gericht wirft jedoch die Frage nach der Anwendbarkeit des Urteils Prunus und Polonium (EU:C:2011:276) auf die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten auf, da es in diesem Urteil nicht um Kapitalverkehr zwischen einem Mitgliedstaat und dessen ÜLG gegangen sei.
35 In diesem Zusammenhang führt es aus, es lasse sich diesem Urteil zwar entnehmen, dass die ÜLG für die Zwecke der Kapitalverkehrsfreiheit als Drittländer anzusehen und diesen gleichzustellen seien. Es lasse sich jedoch auch die Ansicht vertreten, dass die im EG-Vertrag vorgesehenen Freiheiten grundsätzlich nicht für Kapitalbewegungen gälten, die sich vollständig innerhalb des Königreichs der Niederlande – zu dem die Niederlande und die Niederländischen Antillen gehörten – abspielten.
36 Für den Fall, dass für den in Rede stehenden Kapitalverkehr die Kapitalverkehrsfreiheit gilt, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Vorbehalt von Art. 57 Abs. 1 EG, der eine Stillhalteklausel darstelle, anwendbar sei.
37 Dazu führt das vorlegende Gericht aus, aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung ergebe sich, dass mit der Maßnahme beabsichtigt gewesen sei, dem Ruf der Niederländischen Antillen als Steueroase entgegenzuwirken und zugleich die bereits bestehende effektive Steuerbelastung auf Beteiligungsdividenden, die aus den Niederlanden nach den Niederländischen Antillen ausgeschüttet würden, aufrechtzuerhalten.
38 Die Änderung der Abgabenordnung zum 1. Januar 2002 stelle keine neue Beschränkung dar. Es sei nur der Satz der Dividendensteuer ab diesem Zeitpunkt erhöht worden. Unter diesen Voraussetzungen frage es sich, ob für die Entscheidung, ob eine Erschwernis im Sinne der Stillhalteklausel vorliege, ausschließlich auf die Erhöhung der von den Niederlanden erhobenen Quellensteuer gegenüber dem 31. Dezember 1993 abzustellen sei oder ob auch die Änderung der Ertragsteuer durch die Niederländischen Antillen, im vorliegenden Fall die von ihnen gewährte Steuerbefreiung, zu berücksichtigen sei. Für die zweite Lösung spreche, dass die von den Niederlanden erhobene Quellensteuer nach dem neuen Art. 11 Abs. 3 der Abgabenordnung an die Niederländischen Antillen abzuführen sei und dass die Niederlande faktisch die Besteuerung für die Niederländischen Antillen durchführten.
39 Falls es auf die Gesamtsteuerbelastung in den Niederlanden und auf den Niederländischen Antillen ankomme, stelle sich die Frage, ob dabei auch der Praxis der Einzelfallentscheidungen der Niederländischen Antillen Rechnung getragen werden müsse. Hiergegen spreche, dass sich diese je nach den Umständen des Einzelfalls unterschiedlich auf die Steuerbelastung des Steuerpflichtigen auswirken könne.
40 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die in den beiden Rechtssachen C‑24/12 und C‑27/12 gleich lauten:
1. Kann für die Zwecke von Art. 56 EG das eigene ÜLG eines Mitgliedstaats als Drittstaat angesehen werden, so dass im Rahmen des Kapitalverkehrs zwischen einem Mitgliedstaat und dem eigenen ÜLG eine Berufung auf Art. 56 EG möglich ist?
2. a) Kommt es, sofern Frage 1 zu bejahen ist, bei der Beantwortung der Frage, ob für die Zwecke von Art. 57 Abs. 1 EG eine Erhöhung vorliegt, im vorliegenden Fall, in dem die Quellensteuer auf Beteiligungsdividenden, die von einer in den Niederlanden ansässigen Tochtergesellschaft an ihre auf den Niederländischen Antillen ansässige Holdinggesellschaft ausgeschüttet werden, zum 1. Januar 2002 gegenüber 1993 von 7,5 % bzw. 5 % auf 8,3 % erhöht worden ist, ausschließlich auf die Erhöhung der niederländischen Quellensteuer an, oder ist auch zu berücksichtigen, dass die niederländisch-antillischen Behörden – im Zusammenhang mit der Erhöhung der niederländischen Quellensteuer – Beteiligungsdividenden, die von einer in den Niederlanden ansässigen Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, seit dem 1. Januar 2002 von der Steuer befreien, während diese Dividenden zuvor in den mit einem Steuersatz von 2,4 % bis 3 % bzw. von 5 % besteuerten Gewinn einbezogen waren?
b) Sind, sofern es auch auf die durch die Einführung der oben in Frage 2 a erwähnten Steuerbefreiung für Beteiligungen bewirkte Steuersenkung auf den Niederländischen Antillen ankommt, darüber hinaus niederländisch-antillische Durchführungsregelungen – im vorliegenden Fall die niederländisch-antillische Entscheidungspraxis – zu berücksichtigen, die möglicherweise dazu geführt haben, dass die tatsächlich geschuldete Steuer auf Dividenden, die von einer in den Niederlanden ansässigen Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, vor dem 1. Januar 2002 – und auch bereits 1993 – wesentlich niedriger lag als 8,3 %?
41 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. Februar 2012 sind die Rechtssachen C‑24/12 und C‑27/12 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
42 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen des Unionsrechts im Bereich des freien Kapitalverkehrs wie Art. 56 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer Maßnahme eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die geeignet ist, den Kapitalverkehr zwischen diesem Mitgliedstaat und seinem eigenen ÜLG zu behindern.
43 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 299 Abs. 3 EG für die in Anhang II des EG‑Vertrags aufgeführten ÜLG das besondere Assoziierungssystem gilt, das im Vierten Teil dieses Vertrags, nämlich in den Art. 182 EG bis 188 EG festgelegt ist und dessen Einzelheiten und Verfahren nach Art. 187 EG durch Beschlüsse des Rates geregelt werden.
44 Die Niederländischen Antillen, die nach der niederländischen Verfassung einer der drei Teile des Königreichs der Niederlande sind, sind in dieser Liste aufgeführt. Daher gilt für sie das besondere Assoziierungssystem, das im Vierten Teil des EG-Vertrags festgelegt ist.
45 Das Bestehen dieses besonderen Systems zwischen der Union und den ÜLG hat zur Folge, dass die allgemeinen Bestimmungen des EG˗Vertrags, also diejenigen, die nicht in dessen Viertem Teil aufgeführt sind, ohne ausdrückliche Verweisung nicht auf die ÜLG anwendbar sind (Urteile Leplat, C‑260/90, EU:C:1992:66, Rn. 10, Eman und Sevinger, C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 46, sowie Prunus und Polonium, EU:C:2011:276, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Der Vierte Teil des EG‑Vertrags enthält zwar einige Bestimmungen über den freien Warenverkehr (Art. 184 EG und 185 EG), die Arbeitnehmer (Art. 186 EG) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 183 Nr. 5 EG), jedoch keine Bestimmung zum freien Kapitalverkehr.
47 Der ÜLG-Beschluss, der vom Rat auf der Grundlage von Art. 187 EG zur Konkretisierung der Assoziierungsregelung erlassen worden ist, führt in Art. 47 Abs. 1 auf, welche Beschränkungen des Zahlungs- und Kapitalverkehrs zwischen der Union und den ÜLG verboten sind.
48 Durch die Verweisung auf die Zahlungsbilanz und das Verbot zum einen jeder Beschränkung der Leistungsbilanzzahlungen in frei konvertierbarer Währung und zum anderen der Beschränkungen der Kapitalbewegungen im Zusammenhang mit Direktinvestitionen in Gesellschaften, die Kapitalbilanztransaktionen betreffen, hat Art. 47 Abs. 1 des ÜLG-Beschlusses eine besonders große Tragweite, die der Bedeutung von Art. 56 EG in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Drittländern nahekommt (siehe hierzu und in Bezug auf Art. 63 AEUV Urteil Prunus und Polonium, EU:C:2011:276, Rn. 29 bis 31).
49 Infolgedessen untersagt Art. 47 Abs. 1 Buchst. b des ÜLG-Beschlusses durch das Verbot insbesondere der Beschränkungen des Erwerbs von Beteiligungen an Gesellschaften und der Repatriierung der daraus resultierenden Gewinne neben anderen Beschränkungen auch solche, die die Ausschüttung von Dividenden zwischen der Union und den ÜLG betreffen, so wie Art. 56 EG solche Maßnahmen insbesondere in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Drittländern verbietet.
50 In Anbetracht der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und des Umstands, dass weder der Vierte Teil des EG˗Vertrags noch der ÜLG‑Beschluss, der auf der Grundlage dieses Teils des Vertrags erlassen wurde, ausdrücklich auf Art. 56 EG verweisen, ist die Frage anhand von Art. 47 Abs. 1 zu prüfen und zu untersuchen, ob die Tragweite dieser Bestimmung durch andere Bestimmungen des für die Assoziation EU‒ÜLG geltenden besonderen Systems klargestellt oder beschrieben wird.
51 In diesem Zusammenhang wurde, wie u. a. die Regierung des Vereinigten Königreichs ausgeführt hat, bei der Liberalisierung des Kapitalverkehrs für die Assoziation EU‒ÜLG besondere Bedeutung dem Umstand beigemessen, dass zahlreiche ÜLG als Steuerparadiese gelten. Daher enthält der ÜLG-Beschluss in Art. 55 eine Sonderregelung, die ausdrücklich die Verhinderung von Steuerumgehungen betrifft.
52 Nach Art. 55 Abs. 2 „[kann d]ieser Beschluss nicht so ausgelegt werden, als verhindere er die Annahme oder die Anwendung von Maßnahmen … des geltenden inländischen Steuerrechts, mit denen der Steuerumgehung … vorgebeugt werden soll“.
53 Eine steuerliche Maßnahme der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art, die nach der vom vorlegenden Gericht gegebenen Beschreibung ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Zielsetzung dazu bestimmt ist, übermäßige Kapitalströme nach den Niederländischen Antillen zu verhindern und auf diese Weise der Anziehungskraft dieses ÜLG als Steuerparadies entgegenzuwirken, gehört zu der oben beschriebenen Sonderregelung für Abgaben und fällt daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 47 Abs. 1 des ÜLG-Beschlusses, sofern mit ihr dieses Ziel auf wirksame und verhältnismäßige Weise verfolgt wird, was das vorlegende Gericht zu beurteilen haben wird.
54 Nach alledem ist, ohne dass die Frage zu prüfen ist, inwieweit die Bestimmungen des Unionsrechts, die für die Beziehungen zwischen der Union und den ÜLG gelten, zwischen einem Mitgliedstaat und seinem eigenen ÜLG gelten, auf die erste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer steuerlichen Maßnahme eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die den Kapitalverkehr zwischen diesem Mitgliedstaat und seinem eigenen ÜLG im Rahmen einer wirksamen und verhältnismäßigen Verfolgung des Ziels der Bekämpfung der Steuerumgehung beschränkt.
Zur zweiten Frage
55 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
56 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
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