: Auslegung eines Rechtsbehelfs und deren revisionsrechtliche Nachprüfbarkeit
Die Entscheidung ist nachträglich zur Veröffentlichung bestimmt worden
BFH, Urteil vom 8.5.2008 - VI R 12/05
Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz vom 4.5.2004 - 5 K 1348/03
LEITSATZ
Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des wirklich Gewollten in der Rechtsbehelfsschrift, hat das FG den wirklichen Willen des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärung zu ermitteln. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Verwaltungsakt anfechten will, der angefochten werden muss, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg zu kommen.
AO § 357 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 3 Satz 1; FGO § 118 Abs. 2
SACHVERHALT
I.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden als Ehegatten im Streitjahr (2001) mit Bescheid vom 19. August 2002 zur Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer zusammen veranlagt. Mit Schreiben vom 29. August 2002 erhob der damalige Bevollmächtigte der Kläger dagegen "Einspruch" und führte zur Begründung aus, "der Einspruch richtet sich gegen die Festsetzung eines Kirchgeldes für die Ehefrau". Hierauf erwiderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mit Schreiben vom 5. September 2002, da sich der Einspruch gegen die Festsetzung des Kirchgeldes richte und der richtige Rechtsbehelf hiergegen der Widerspruch wäre, werde der Einspruch als Widerspruch gegen den Kirchensteuerbescheid behandelt. Indessen habe auch dieser keine Aussicht auf Erfolg. Nach vergeblicher Bitte um Stellungnahme bis zum 4. Oktober 2002 und Erinnerung vom 14. Oktober 2002 meldete sich mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2002 der jetzige Bevollmächtigte der Kläger und führte aus: "Der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2001 wird weiter aufrecht erhalten." Neben der Herabsetzung des Kirchgeldes machte er weitere Werbungskosten geltend. Nach weiterem Schriftwechsel zur materiellen Berechtigung des Werbungskostenabzugs setzte das FA mit Bescheid vom 29. Januar 2003 das Kirchgeld antragsgemäß herab und wies mit Bescheid vom 3. Februar 2003 den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid, der ausdrücklich als zulässig bezeichnet wurde, als unbegründet zurück.
Die am 3. März 2003 gegen den Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung erhobene Klage, mit der die Kläger den Abzug weiterer Werbungskosten geltend machten, wies das Finanzgericht (FG) mit der Begründung ab, Einspruch sei erstmals mit Schreiben vom 17. Oktober 2002, also verspätet eingelegt worden, weil das Schreiben vom 29. August 2002 --nach seiner Begründung-- nur als Widerspruch gegen die Kirchensteuerfestsetzung habe angesehen werden können. Da der Einkommensteuerbescheid demnach bestandskräftig geworden sei, sei schon aus diesem Grund die Klage ohne weitere Sachprüfung abzuweisen.
Mit der Revision machen die Kläger Verletzung materiellen Rechts geltend.
Die Kläger beantragen, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache an das FG zurückzuverweisen, damit dieses über die geltend gemachten Werbungskosten entscheiden könne.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
AUS DEN GRÜNDEN
II.
Die Revision der Kläger ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Urteil des FG entspricht dem materiellen Recht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dem Gericht ist darin zu folgen, dass eine Überprüfung in der Sache nicht mehr möglich gewesen ist. Der Einkommensteuerbescheid vom 19. August 2002 ist bestandskräftig geworden.
Die Annahme des FG, der von dem ehemaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger als "Einspruch" bezeichnete Rechtsbehelf vom 29. August 2002 habe sich nicht gegen den Einkommensteuerbescheid vom 19. August 2002, sondern ausschließlich gegen den Kirchensteuerbescheid selben Datums gerichtet, hält einer revisionsrechtlichen Prüfung stand.
1. Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) "soll" bei der Einlegung des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den der Einspruch gerichtet ist. Danach ist die Rechtswirksamkeit des eingelegten Rechtsbehelfs nicht von einer genauen Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts abhängig. Es ist jedoch erforderlich, dass sich die Zielrichtung des Begehrens aus der Rechtsbehelfsschrift in der Weise ergibt, dass sich der angefochtene Verwaltungsakt entweder aus dem Inhalt der Rechtsbehelfsschrift selbst ermitteln lässt oder Zweifel oder Unklarheiten am Gewollten durch Rückfragen des FA beseitigt werden können (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18. Januar 2007 IV R 35/04, BFH/NV 2007, 1509). Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des tatsächlich Gewollten, ist der wirkliche Wille des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärungen zu ermitteln. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Verwaltungsakt anfechten will, der angefochten werden muss, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg zu kommen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 8. Mai 2007 X B 43/06, BFH/NV 2007, 1499; vom 24. Juli 2006 IX B 208/05, BFH/NV 2006, 2269; vom 19. Juli 2005 XI B 206/04, BFH/NV 2006, 68; vom 27. Mai 2004 IV R 48/02, BFHE 206, 211, BStBl II 2004, 964). Dies gilt grundsätzlich auch für Erklärungen rechtskundiger Personen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 24. August 2006 XI B 149/05, BFH/NV 2006, 2035; vom 6. Juli 2005 XI B 45/03, BFH/NV 2005, 2029).
Die Auslegung des Einspruchs ist Gegenstand der vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), soweit im Revisionsverfahren keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben werden. Das Revisionsgericht kann die Auslegung durch das FG nur daraufhin überprüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1509; vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 48). Revisionsrechtlich in vollem Umfang nachprüfbar ist indes, ob der Einspruch auslegungsbedürftig ist. Hieran fehlt es, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat (vgl. BFH-Urteile vom 28. November 2001 I R 93/00, BFH/NV 2002, 613; vom 19. Juni 1997 IV R 51/96, BFH/NV 1998, 6).
2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Rechtsgrundsätzen.
a) Der insoweit streitgegenständliche Bescheid über Einkommen- und Kirchensteuer vom 19. August 2002 ist ein sog. Sammelbescheid. Beide Steuerfestsetzungen stehen selbständig nebeneinander und sind lediglich in einem Bescheid verbunden. Die Steuerfestsetzungen können daher grundsätzlich unabhängig voneinander angefochten werden (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1509; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 347 AO Rz 79). Ausgehend von dieser Sachlage ist der Inhalt des mit Schreiben vom 29. August 2002 eingelegten Rechtsbehelfs auslegungsbedürftig. Zwar wird darin zunächst, gleichsam einleitend, ausgeführt, dass Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr eingelegt werde. Eine Beschwer durch die Einkommensteuerfestsetzung haben die Kläger allerdings nicht dargelegt, sondern ausgeführt, dass sich der Einspruch gegen die Festsetzung eines Kirchgeldes für die Ehefrau richte, und dies kurz begründet. Das FA hatte den Rechtsbehelf des damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger infolgedessen zunächst als "Widerspruch" gegen die Festsetzung der Kirchensteuer desselben Jahres angesehen. Angesichts dieser Widersprüchlichkeiten hat das FG die mit Schriftsatz vom 29. August 2002 abgegebenen Erklärungen der Kläger zu Recht als auslegungsbedürftig und auslegungsfähig angesehen.
b) Die vom FG vorgenommene Auslegung, dass der mit Schreiben vom 29. August 2002 eingelegte Rechtsbehelf als Widerspruch gegen den Kirchensteuerbescheid zu werten sei, lässt einen Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze nicht erkennen.
Die Auslegung orientiert sich ersichtlich an dem von den Klägern dargelegten Rechtsschutzziel, sich gegen die Festsetzung des Kirchgeldes für den kirchenangehörigen Ehegatten zu wenden. Daher steht auch der Umstand, dass die rechtskundig beratenen Kläger ihren Rechtsbehelf zunächst als Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid bezeichnet haben, anstatt den Kirchensteuerbescheid mit dem hierfür vorgesehenen Rechtsbehelf des Widerspruchs anzugreifen, dieser Auslegung nicht entgegen. Denn ebenso, wie nach § 357 Abs. 1 Satz 4 AO die unrichtige Bezeichnung des Einspruchs nicht schadet, also etwa auch ein als Widerspruch bezeichneter Rechtsbehelf als wirksamer Einspruch angesehen werden kann (Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 357 AO Rz 4), kann ein als Einspruch bezeichneter Rechtsbehelf als Widerspruch zu behandeln sein. Wenn daher das FG angesichts der Ausführungen der Kläger, sich gegen die Festsetzung eines Kirchgeldes für die Ehefrau wenden zu wollen, den als Einspruch bezeichneten Rechtsbehelf als Widerspruch gegen die Kirchgeldfestsetzung auslegte, ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.