FG Hamburg: Aufrechnungsverbot gem. § 96 Abs. 1 Nr 1 InsO
FG Hamburg, Urteil vom 25.11.2015 – 6 K 167/15
Leitsatz:
1. Für die Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist es entscheidend, ob zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bereits alle materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen.
2. Für eine Berichtigung gem. § 14c Abs. 2 in Verbindung mit § 17 Abs. 1 UStG ist eine erforderliche materiell-rechtliche Voraussetzung, dass die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt ist.
Überschrift: Insolvenzrecht und Umsatzsteuer: Aufrechnungsverbot gem. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO
Normen: UStG § 14c, UStG § 17, InsO § 38, InsO § 96
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheides, durch den der Beklagte Insolvenzforderungen aus Umsatzsteuer 2002 gegen Umsatzsteuerguthaben der Schuldnerin aus 2008 aufgerechnet hat.
Über das Vermögen der A ... GmbH (Schuldnerin) wurde aufgrund des Antrags vom 28.11.2002 am ... 2003 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt.
Der Beklagte hat unstreitige Ansprüche aus Umsatzsteuervorauszahlungsbescheiden für Oktober bis Dezember 2002 gegen die Schuldnerin von insgesamt 125.997,20 €.
Die Schuldnerin schrieb im Jahr 2002 Rechnungen, in denen sie Umsatzsteuer auswies. Das Finanzamt ging davon aus, dass die Schuldnerin keine Lieferungen erbracht und daher zu Unrecht die Umsatzsteuer ausgewiesen habe und lehnte einen Vorsteuererstattungsanspruch des Rechnungsempfängers ab. Wegen des konkreten Sachverhalts wird auf das im nachfolgenden Klageverfahren ergangene und rechtskräftige Urteil des Finanzgerichts Hamburgs 5 K 74/06 vom 29.04.2008 verwiesen.
Der Kläger berichtigte daraufhin Anfang 2009 die von der Schuldnerin erstellten Rechnungen und beantragte bei dem Beklagten die Berichtigung der Umsatzsteuer gem. § 14c Abs. 2 in Verbindung mit § 17 Abs. 1 Umsatzsteuergesetz (UStG). Dabei ging er zunächst davon aus, dass die Korrektur für 2002 erfolgen müsse. Der Beklagte vertrat die Ansicht, dass die Korrektur erst für den Besteuerungszeitraum 2008 möglich sei. Der Kläger erhob Klage zum Aktenzeichen 6 K 123/10 und nahm nach Durchführung eines Erörterungstermins am 12.12.2011 die Klage zurück.
Im Dezember 2012 reichte der Kläger eine Umsatzsteuererklärung für 2008 ein, in der er die Minderung der Umsatzsteuer wegen der nicht durchgeführten Lieferungen 2002 erklärte. Am 20.06.2014 erging der Umsatzsteuerbescheid 2008, durch den sich ein Restguthaben i. H. v. 646.164,48 € zuzüglich Erstattungszinsen in Höhe von 161.538 € (insgesamt 807.702,48 €) ergab.
Der Beklagte erklärte mit Schreiben vom 03.07.2014 die Aufrechnung seiner Forderungen aus Umsatzsteuer 2002 gegen das Umsatzsteuerguthaben der Schuldnerin aus 2008. Dieser Erklärung widersprach der Kläger am 14.07.2014. Am 25.07.2014 erließ der Beklagte den hier angefochtenen Abrechnungsbescheid.
Am 01.08.2014 legte der Kläger Einspruch ein, welcher durch die Einspruchsentscheidung vom 20.05.2014 unter Hinweis auf ein Schreiben des Beklagten vom 18.02.2015 als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Der Kläger hat am 22.06.2015 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, der Abrechnungsbescheid sei rechtswidrig, weil er gegen § 96 Abs. 1 Nr. 1 Insolvenzordnung (InsO) verstoße. Die Forderung der Schuldnerin sei erst in 2008 und damit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. Zwar habe von Anfang an wegen der Nichtdurchführung von Lieferungen keine Umsatzsteuerpflicht bestanden. Die Schuldnerin habe jedoch wegen des unberechtigten Umsatzsteuerausweises die Umsatzsteuer geschuldet. Nach materiellem Steuerrecht habe diese Umsatzsteuer gem. § 14c Abs. 2 Sätze 3 bis 5 UStG berichtigt werden müssen. Dies sei auch geschehen und habe zu dem entsprechenden Vergütungsanspruch geführt. Damit habe der Vergütungsanspruch zwar seine Grundlage in 2002, er sei aber nicht in 2002, sondern erst in 2008 und damit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden.
Entscheidend für die Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO sei nach der Rechtsprechung des BFH bei Umsatzsteuererstattungsansprüchen wegen Berichtigung des unrichtigen Steuerausweises, wann der materiell-rechtliche Berichtigungstatbestand verwirklicht ist (BFH-Urteil vom 25.07.2012 VII R 29/11, BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36 unter Aufgabe seiner früheren Ansicht). Damit knüpfe der VII. Senat des BFH an die Rechtsprechung des V. Senats an, nach dessen Rechtsprechung es für die Entstehung des Steueranspruchs auf die vollständige Tatbestandsverwirklichung nach den steuerrechtlichen Vorschriften ankomme. Der Beklagte berufe sich für seine Rechtsansicht auf alte Rechtsprechung des VII. Senats des BFH, die nach der Rechtsprechungsänderung vom 25.07.2012 nicht mehr gelte.
Entscheidend sei daher, ob der Erstattungsanspruch der Schuldnerin bereits in 2002 oder erst in 2008 entstanden sei. Materielle Voraussetzungen für die Entstehung des Erstattungsanspruchs seien insbesondere, dass eine Steuerberichtigung durchgeführt und die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden sei. Die zweite Voraussetzung sei erst durch die Rechtskraft des Urteils vom 29.04.2008 und damit nach Insolvenzeröffnung verwirklicht worden. Dieses Urteil sei das Ereignis, das die Umsatzsteuerberichtigung erst zulässig gemacht und damit den Erstattungsanspruch begründet habe. Bei dieser Voraussetzung handele es sich um eine materielle Voraussetzung für die Entstehung des Umsatzsteuererstattungsanspruch und nicht lediglich um eine verfahrensrechtliche Voraussetzung.
Die Schuldnerin sei bei der Rechnungserstellung in 2002 von umsatzsteuerpflichtigen Leistungen ausgegangen. Dass umsatzsteuerlich keine Leistungsbeziehung bestanden habe, sei erst durch das Urteil des FG Hamburg vom 29.04.2008 festgestellt worden.
Die Klägerin beantragt,
den Abrechnungsbescheid vom 25.07.2014 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.05.2015 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung seines Antrags verweist der Beklagte auf seine Einspruchsentscheidung vom 20.05.2014 und führt ergänzend aus: Die Aufrechnung sei rechtmäßig. Insbesondere verhindere § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht die Aufrechnung. Entscheidend sei, wann der Erstattungsanspruch der Schuldnerin im Sinne des § 38 InsO entstanden sei. Der Kläger berufe sich zu Unrecht auf das BFH-Urteil vom 25.07.2012 VII R 29/11, denn dieses sei im Streitfall nicht anwendbar, da hier die Änderung des Bescheides nicht nach § 17 Abs. 2 UStG, sondern nach §§ 14c in Verbindung mit 17 Abs. 1 UStG erfolgt sei und somit nicht auf einer nachträglichen Änderung des zugrundeliegenden steuerlichen bzw. zivilrechtlichen Sachverhalt beruhe. Im Streitfall sei gerade keine nachträgliche Änderung der Bemessungsgrundlage aufgrund von Rechtshandlungen des Klägers entstanden. Auch sei es den handelnden Personen von Anfang an bewusst gewesen, dass keine Leistungen im Sinne des UStG erbracht worden seien. Ein unrichtiger oder unberechtigter Steuerausweis des Schuldners stelle gerade keine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO dar. Führe die spätere Rechnungsberichtigung durch den Insolvenzverwalter zu einem Erstattungsbetrag, sei dieser uneingeschränkt mit Insolvenzforderungen aufrechenbar.
Entscheidend sei nach der Rechtsprechung des BFH nicht, ob der Anspruch zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im steuerrechtlichen Sinne entstanden sei, sondern ob in diesem Zeitpunkt nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Anspruch bereits gelegt gewesen sei. Dies richte sich ausschließlich nach § 38 InsO und damit nach der insolvenzrechtlichen Vermögenszuordnung und nicht nach der abgabenrechtlichen Abgrenzung bezüglich "Entstehung" oder "Fälligkeit". Dies habe der VII. Senat des BFH in seinem Urteil vom 04.02.2005 (VII R 20/04, BFHE 209, 13, BStBl II 2010, 55) bestätigt. Im Streitfall basierten sowohl die Forderung des Finanzamts als auch der Erstattungsanspruch des Klägers auf in 2002 erfolgten Rechnungsstellungen.
Die Beteiligten haben auf die mündliche Verhandlung verzichtet. Auf das Sitzungsprotokoll des Erörterungstermins vom 22.09.2015 wird verwiesen. Dem Gericht haben die Rechtsbehelfsakten und die Vollstreckungsakten zu der Steuernummer .../.../... vorgelegen.
Aus den Gründen
Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung - FGO -).
I.
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Abrechnungsbescheid vom 25.07.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.05.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 FGO). Die bereits gezahlte und aufgrund des geänderten Bescheids für 2008 zu erstattende Umsatzsteuer durfte nicht mit Insolvenzforderungen aufgerechnet werden.
1. Gem. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist.
Der Beklagte ist erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (am ... 2003) etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden, denn der Umsatzsteuererstattungsanspruch des Klägers ist 2008 und damit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am ... 2003 entstanden.
a) Wann ein Anspruch im Sinne des § 96 InsO entsteht, richtet sich nach § 38 InsO. Die Abgrenzung zwischen Masseverbindlichkeiten und Insolvenzforderungen bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung der beiden Umsatzsteuersenate des BFH (V. und XI. Senat) danach, ob der den Umsatzsteueranspruch begründende Tatbestand nach den steuerrechtlichen Vorschriften bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist; nicht maßgeblich ist der Zeitpunkt der Steuerentstehung nach § 13 UStG (BFH-Urteil vom 09.02.2011 XI R 35/09, BFHE 233, 86, BStBl II 2011, 1000; siehe auch Urteil des FG München vom 10.10.2012 3 K 733/10, zitiert nach juris mit Hinweis auf BFH-Urteil vom 08.03.2012 V R 24/11, BStBl II 2012, 466). Welche Anforderungen im Einzelnen an die vollständige Tatbestandsverwirklichung zu stellen sind, richtet sich nach den jeweiligen Vorschriften des Steuerrechts, nicht aber nach Insolvenzrecht. Kommt es zur vollständigen Tatbestandsverwirklichung bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, handelt es sich um eine Insolvenzforderung; erfolgt die vollständige Tatbestandsverwirklichung erst nach Verfahrenseröffnung, liegt unter den Voraussetzungen des § 55 InsO eine Masseverbindlichkeit vor (BFH-Urteil vom 29.01.2009 V R 64/07, BFHE 224, 24, BStBl II 2009, 682, unter II.1., m. w. N. zur BFH-Rechtsprechung).
b) Der für die Aufrechnung zuständige VII. Senat hatte zunächst eine andere Abgrenzung vorgenommen. Entscheidend war nach seiner Rechtsprechung nicht, ob der Anspruch zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im steuerrechtlichen Sinne entstanden sei, sondern ob in diesem Zeitpunkt nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Anspruch bereits gelegt gewesen sei. Dies richte sich ausschließlich nach § 38 InsO und damit nach der insolvenzrechtlichen Vermögenszuordnung und nicht nach der abgabenrechtlichen Abgrenzung bezüglich "Entstehung" oder "Fälligkeit" (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 04.02.2005 VII R 20/04). Der VII. Senat des BFH begründete seine für erforderlich gehaltene Aufrechnung damit, dass es "schwerlich gerechtfertigt sein [würde] anzunehmen, die Finanzbehörde müsse eine (Umsatz-) Steuererstattung an die Insolvenzmasse leisten, könne aber ihre korrespondierende, unbefriedigte Steuerforderung lediglich als Insolvenzforderung geltend machen und müsse hinnehmen, mit ihr möglicherweise ganz oder teilweise auszufallen" (BFH-Urteil vom 17.04.2007 VII R 27/06, BFHE 217, 8, BStBl II 2009, 589).
aa) In der Literatur wurde die unterschiedliche Auslegung durch die verschiedenen Senate des BFH insbesondere mit der Begründung kritisiert, dass die Urteile des BFH "eher ergebnisorientiert und fiskalfreundlich wirkten". So habe vor allem der V. und der XI. BFH-Senat den Begründungszeitpunkt staatlicher Ansprüche zur Umsatzsteuer (USt) möglichst spät gelegt, um daraus gem. § 55 Abs. 1 InsO Masseverbindlichkeiten herzuleiten, während der VII. BFH-Senat (u. a. zuständig für die Erhebung) bei nahezu vergleichbaren Sachverhalten den Zeitpunkt früh angesetzt habe, um hierdurch insolvenzrechtlichen Aufrechnungsverboten nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 und 3 InsO auszuweichen (siehe hierzu Kahlert, Insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote im Umsatzsteuerrecht - Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Insolvenzpraxis, ZIP 2013, 500; Heinze, DZWIR 2011, 276 Umsatzsteuern aus dem Forderungseinzug des Insolvenzverwalters).
bb) Der VII. Senat hat mit Urteil vom 25.07.2012 (VII R 29/11) seine Rechtsprechung, die der Rechtsprechung des V. Senats zum Teil widersprach, aufgegeben und einen Einklang zwischen der Auslegung des § 38 InsO und der Auslegung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO hergestellt (so Kahlert, a. a. O). Diese Rechtsprechungsänderung war von dem Bestreben getragen, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren bzw. wiederherzustellen, womit es nur schwer vereinbar wäre, wenn § 38 InsO im umsatzsteuerlichen Festsetzungsverfahren anders ausgelegt und angewendet würde als § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO bei der Erhebung der Umsatzsteuer. Denn beide Vorschriften beruhen auf demselben Rechtsgedanken: unter einem Vermögensanspruch, der gegen das Finanzamt zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet war (§ 38 InsO), kann unbeschadet der unterschiedlichen Wortwahl des Gesetzes nichts anderes verstanden werden als etwas, was das Finanzamt nicht erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schuldig geworden ist (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Dass letztere Vorschrift vor allem im Erhebungsverfahren zum Zuge kommt, nämlich bei einer Aufrechnung, während erstere die Zuordnung von Ansprüchen zu den Insolvenzforderungen --im Unterschied zu den Masseverbindlichkeiten (§§ 53 bis 55 InsO)-- betrifft, die zumindest in erster Linie für das Steuerfestsetzungsverfahren bedeutsam ist, ist insofern belanglos und ändert an der rechtslogischen Notwendigkeit nichts, die beiden vorgenannten Vorschriften gleich auszulegen (BFH-Beschluss vom 11.07.2013 XI B 41/13, HFR 2013, 917).
Mit Urteil vom 18.08.2015 (VII R 29/14, ZIP 2015, 2237) hat der VII. Senat des BFH ausgeführt, dass das Aufrechnungsverbot nicht gelte, wenn die Forderung "ihrem Kern nach" bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet sei, d. h. sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung des Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt gewesen seien.
Bereits in seinem Beschluss vom 21.03.2014 (VII B 214/12, BFH/NV 2014, 1088) hatte der VII. Senat des BFH entschieden, dass es für die Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO auf die Aufrechnung gegen einen Anspruch auf Investitionszulage darauf ankomme, ob sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen des Investitionszulageanspruchs vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt seien. Nicht entscheidend sei, wann der Antrag auf Gewährung der Investitionszulage gestellt werde. Denn der Antrag auf Gewährung von Investitionszulage sei keine materiell-rechtliche, sondern eine eigenständige formelle Voraussetzung des Investitionszulageanspruchs. Der materiell-rechtliche Anspruch entstehe dagegen bereits mit Ablauf desjenigen Kalenderjahres, in dem die förderfähigen Investitionen abgeschlossen worden sind. Für die insolvenzrechtliche Begründung einer Forderung komme es nicht auf die Abgabe bzw. die Berichtigung einer Steueranmeldung an.
Damit ist nunmehr nach der Rechtsprechung aller drei für die Schnittstelle Umsatzsteuer und Insolvenzrecht zuständigen BFH-Senate maßgeblich, ob sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung des Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt waren.
c) Im Streitfall entstand der Umsatzsteuervergütungs- bzw. erstattungsanspruch des Klägers erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Anders als in den den Urteilen des BFH vom 21.03.2014 (VII B 214/12) und vom 18.08.2015 (VII R 29/14) zugrunde liegenden Sachverhalten fehlte es im Streitfall im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung an einer materiell-rechtlichen Voraussetzung für die Entstehung des Umsatzsteuervergütungs- bzw. erstattungsanspruchs. Denn materiell-rechtliche und nicht verfahrensrechtliche Voraussetzung für eine Berichtigung gem. § 14c Abs. 2 UStG in Verbindung mit § 17 Abs. 1 UStG ist, dass die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden ist (siehe z. B. auch OFD Frankfurt am Main S 7340 A-85.St 112 vom 16.07.2015).
aa) Gem. § 14c Abs. 2 Sätze 1 und 2 UStG schuldet der Unternehmer, der in einer Rechnung wie ein leistender Unternehmer abrechnet und einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt, den ausgewiesenen Betrag. Der hiernach geschuldete Steuerbetrag kann berichtigt werden, soweit die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden ist (Satz 3 der Vorschrift). Die Gefährdung des Steueraufkommens ist beseitigt, wenn ein Vorsteuerabzug beim Empfänger der Rechnung nicht durchgeführt oder die geltend gemachte Vorsteuer an die Finanzbehörde zurückgezahlt worden ist (Satz 4 der Vorschrift). Die Berichtigung des geschuldeten Steuerbetrags ist beim Finanzamt gesondert schriftlich zu beantragen und nach dessen Zustimmung in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem die Voraussetzungen des Satzes 4 eingetreten sind (Satz 5 der Vorschrift).
bb) Angewandt auf den Streitfall folgt hieraus, dass der Beklagte erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist. Erst mit Rechtskraft des Urteils des Finanzgerichts Hamburgs vom 29.04.2008 (5 K 74/06) war die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt und konnte eine Steuerberichtigung - nach Zustimmung durch den Beklagten - erfolgen. Bis zur Rechtskraft des Urteils war nicht ausgeschlossen gewesen, dass der Rechnungsempfänger die Vorsteuer aus den Rechnungen hätte ziehen können. Erst mit der Rechtskraft des Urteils trat die Änderung der Bemessungsgrundlage ein und erfolgte die vollständige Verwirklichung bzw. der Abschluss des den Umsatzsteueranspruch begründenden Tatbestands des § 14c Abs. 2 S. 5 UStG in Verbindung mit § 17 Abs. 1 UStG.
cc) Dieses Ergebnis ist auch interessengerecht, denn es würde der Systematik des Gesetzes widersprechen, dem Insolvenzverwalter die Berichtigung in 2002 zu versagen, weil noch nicht alle Voraussetzungen für die Berichtigung erfüllt sind, trotzdem aber die Aufrechnung zuzulassen, weil der Anspruch bereits 2002 entstanden sein soll (so im Ergebnis wohl aber Gosch in Beermann/Gosch Kommentar zur Abgabenordnung, § 251 AO Rn. 130 und 178; Sinz in Uhlenbruck, Kommentar zur Insolvenzordnung, 14. Aufl. 2015, Rn. 18, 19, 27: dieser ist der Ansicht, dass nach der neuen Rechtsprechung des BFH maßgeblich sei, wann der Rechtsgrund für die Erstattung gelegt worden sei, so dass der Zeitpunkt der Leistungserbringung entscheidend sei). Die hier vorgenommene Qualifizierung führt im Streitfall auch nicht zu einem systematisch nicht nachvollziehbaren Ergebnis, weil etwa zwei Seiten eines Sachverhalts unterschiedlich behandelt würden (so z. B. im Fall des FG Düsseldorf im Urteil 12 K 4478/11 vom 15.05.2014). Denn im Streitfall resultieren die Insolvenzforderungen des Beklagten nicht aus den Rechnungen, die später in 2008 berichtigt wurden, sondern es handelt sich hierbei um Umsatzsteuern aus späterer Zeit.
dd) Der Abrechnungsbescheid ist auch nicht aus einem anderen Grund rechtmäßig. Zwar wäre eine Aufrechnung dann nicht erforderlich, wenn die Berichtigung sich in 2002 selbst im Bescheid ausgewirkt hätte, denn dann hätte im Bescheid selbst saldiert werden können (§ 16 Abs. 1 Satz 2 UStG). Im Streitfall war dem Kläger indes nicht die Möglichkeit eröffnet gewesen, die Umsatzsteuer 2002 zu ändern, denn die Voraussetzungen für eine Berichtigung in 2002 lagen gerade nicht vor, da erst nach der Rechtskraft des Urteils die Gefährdung des Steueraufkommens durch einen möglichen Vorsteuerabzug der Rechnungsempfängerin ausgeschlossen war (siehe z. B. BFH-Urteil vom 10.12.2009 XI R 7/08, BFH/NV 2010, 1497).2. Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus § 95 InsO, denn die Forderung des Insolvenzverwalters war nicht bedingt. Dieses ist nur dann der Fall, wenn "der anspruchsbegründende Tatbestand abgeschlossen ist und damit ein gesicherter Rechtsgrund für das Entstehen der Gegenforderung festgestellt werden kann", so dass "ohne weitere Rechtshandlung eines Beteiligten der entsprechende Anspruch kraft Gesetzes entsteht" (BFH-Urteil vom 23.02.2011 I R 20/10, BStBl II 2011, 822).
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.