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Steuerrecht
10.04.2025
Steuerrecht
EuGH: Art. 1 Abs. 2 und 3 – Missbrauchsbekämpfungsvorschrift – Einstufung der Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung (Litauisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 3.4.2025 – C‑228/24; „Nordcurrent group“ UAB gegen Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos

ECLI:EU:C:2025:239

Volltext BB-Online BB-ONLINE BBL2025-917-1

Tenor

1. Die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie (EU) 2015/121 des Rates vom 27. Januar 2015 geänderten Fassung enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift

ist dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Praxis, wonach einer Muttergesellschaft in ihrem Ansässigkeitsmitgliedstaat eine Körperschaftsteuerbefreiung für von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft erhaltene Dividenden deshalb nicht gewährt wird, weil eine solche Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung eingestuft wird, wenn sie keine Zwischengesellschaft darstellt und die in Form von Dividenden ausgeschütteten Gewinne aus unter dem Namen dieser Tochtergesellschaft ausgeübten Tätigkeiten erwirtschaftet wurden, nicht entgegensteht, sofern die Tatbestandsmerkmale eines Missbrauchs vorliegen.

2. Die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 in der durch die Richtlinie 2015/121 geänderten Fassung enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift

ist dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach für die Zwecke der Einstufung einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung ausnahmslos nur auf die Umstände zu den Zeitpunkten der Dividendenausschüttungen abgestellt wird, wenn die Gründung dieser Tochtergesellschaft durch wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt ist und das tatsächliche Vorliegen einer Tätigkeit derselben vor diesen Zeitpunkten nicht in Frage gestellt wird.

3. Die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 in der durch die Richtlinie 2015/121 geänderten Fassung enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift

ist dahin auszulegen, dass,

wenn eine Muttergesellschaft Dividenden von einer als unangemessene Gestaltung eingestuften Tochtergesellschaft erhalten hat, allein diese Einstufung nicht ausreicht, um festzustellen, dass die Muttergesellschaft durch die Anwendung der Körperschaftsteuerbefreiung für diese Dividenden einen steuerlichen Vorteil erlangt hat, der dem Ziel oder Zweck der Richtlinie 2011/96 in geänderter Fassung zuwiderläuft.

 

Aus den Gründen

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8) in der durch die Richtlinie (EU) 2015/121 des Rates vom 27. Januar 2015 (ABl. 2015, L 21, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2011/96).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Nordcurrent group“ UAB, einer Gesellschaft litauischen Rechts (im Folgenden: Nordcurrent), und der Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen, im Folgenden: Steuerinspektion) über die Körperschaftsteuer-Befreiung für die Dividenden, die Nordcurrent von ihrer im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland ansässigen Tochtergesellschaft Nordcurrent Ltd (im Folgenden: Tochtergesellschaft) erhalten hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In den Erwägungsgründen 3 bis 6 der Richtlinie 2011/96 heißt es:

„(3) Diese Richtlinie zielt darauf ab, Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern zu befreien und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.

(4) Zusammenschlüsse von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten können notwendig sein, um binnenmarktähnliche Verhältnisse in der [Europäischen] Union zu schaffen und damit das Funktionieren eines solchen Binnenmarktes zu gewährleisten. Sie sollten nicht durch Beschränkungen, Benachteiligungen oder Verfälschungen, insbesondere aufgrund von steuerlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, behindert werden. Demzufolge müssen wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen für diese Zusammenschlüsse geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Binnenmarktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen.

(5) Derartige Zusammenschlüsse können zur Schaffung von aus Mutter- und Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppen führen.

(6) Die die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten regelnden Steuerbestimmungen wiesen vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 90/435/EWG [des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6)] erhebliche Unterschiede von einem Staat zum anderen auf und waren im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wurde auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung war durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, um Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern.“

4 In den Erwägungsgründen 1 bis 8 der Richtlinie 2015/121 heißt es:

„(1) Durch die Richtlinie [2011/96] werden Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern befreit und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft beseitigt.

(2) Es muss sichergestellt werden, dass die Richtlinie [2011/96] nicht von Steuerpflichtigen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, missbraucht wird.

(3) Einige Mitgliedstaaten wenden einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmungen an, mit denen Steuerhinterziehung, Steuerbetrug oder missbräuchliche Praktiken generell oder konkreter verhindert werden sollen.

(4) Allerdings können diese Bestimmungen unterschiedlich streng sein, und sie sind in jedem Fall darauf zugeschnitten, die Besonderheiten des jeweiligen Steuersystems des einzelnen Mitgliedstaats widerzuspiegeln. Darüber hinaus sind in einigen Mitgliedstaaten keine einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen zur Verhinderung von Missbrauch vorhanden.

(5) Daher wäre die Aufnahme einer gemeinsamen De-minimis-Missbrauchsbekämpfungsvorschrift in die Richtlinie [2011/96] sehr hilfreich, um Missbräuche jener Richtlinie zu verhindern und mehr Kohärenz bei ihrer Anwendung in verschiedenen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

(6) Die Anwendung von Missbrauchsbekämpfungsvorschriften sollte verhältnismäßig sein und dem besonderen Zweck dienen, Gestaltungen oder eine Abfolge von Gestaltungen, die unangemessen sind, d. h. nicht der wirtschaftlichen Realität entsprechen, zu verhindern.

(7) Zu diesem Zweck sollten die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten bei der Bewertung der Frage, ob eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen missbräuchlich ist, eine objektive Analyse aller relevanten Fakten und Umstände vornehmen.

(8) Wenngleich die Mitgliedstaaten die Missbrauchsbekämpfungsklausel anwenden sollten, um gegen Gestaltungen vorzugehen, die in ihrer Gesamtheit unangemessen sind, kann es doch auch Fälle geben, in denen einzelne Schritte oder Teile einer Gestaltung – für sich betrachtet – unangemessen sind. Die Mitgliedstaaten sollten die Missbrauchsbekämpfungsklausel auch anwenden können, um gegen diese spezifischen Schritte oder Teile vorzugehen, ohne dass die verbleibenden angemessenen Schritte oder Teile der Gestaltung davon berührt werden. Dies würde zur größtmöglichen Wirksamkeit der Missbrauchsbekämpfungsklausel führen und gleichzeitig ihre Verhältnismäßigkeit garantieren. …“

5 Art. 1 der Richtlinie 2011/96 bestimmt:

„(1) Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an

a) auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Mitgliedstaats von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen; …

(2) Liegt – unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände – eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft, so gewähren die Mitgliedstaaten Vorteile dieser Richtlinie nicht.

Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.

(3) Für die Zwecke von Absatz 2 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, wie sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.

(4) Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerbetrug oder Missbrauch nicht entgegen.“

6 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/96 lautet:

„(1) Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund der Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so

a) besteuern der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebsstätte diese Gewinne insoweit nicht, als sie von der Tochtergesellschaft nicht abgezogen werden können, und besteuern sie diese Gewinne insoweit, als sie von der Tochtergesellschaft abgezogen werden können, oder

b) lassen der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte im Falle einer Besteuerung zu, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichten, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft im Sinne von Artikel 2 auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß Artikel 3 erfüllen.“

7 Art. 6 der Richtlinie 2011/96 sieht vor:

„Der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft kann keinen Steuerabzug an der Quelle auf Gewinne vornehmen, die diese Gesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft bezieht.“

Litauisches Recht

8 In Art. 35 Abs. 1 des Lietuvos Respublikos pelno mokesčio įstatymas (Körperschaftsteuergesetz der Republik Litauen, im Folgenden: Körperschaftsteuergesetz) heißt es:

„Mit Ausnahme der in den Abs. 2 und 3 dieses Artikels genannten Fälle unterliegen Dividenden, die eine litauische Körperschaft für das Halten von Aktien, Kapitalanteilen oder sonstigen Rechten an ausländischen Körperschaften oder über eine Betriebstätte für das Halten von Aktien, Kapitalanteilen oder sonstigen Rechten an ihr zuzurechnenden ausländischen Körperschaften erhält, einem Körperschaftsteuersatz von 15 %. …“

9 Art. 35 Abs. 2 dieses Gesetzes bestimmt:

„Dividenden, die eine litauische Körperschaft für das Halten von Aktien, Kapitalanteilen oder anderen Rechten an ausländischen Körperschaften oder über eine Betriebstätte für das Halten von Aktien, Kapitalanteilen oder sonstigen Rechten an ihr zuzurechnenden ausländischen Körperschaften erhält, sind von der Steuer befreit, wenn die betreffenden Körperschaften in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums gegründet wurden oder anderweitig in einem solchen Staat eingerichtet sind und ihre Gewinne der Körperschaftsteuer oder einer der Körperschaftsteuer entsprechenden Steuer unterliegen.“

10 Art. 32 Abs. 6 des Körperschaftsteuergesetzes sieht vor:

„Die Bestimmungen [von] … Art. 35 Abs. 2 und 3 dieses Kapitels über die Nichtbesteuerung von Dividenden gelten nicht, wenn – unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände – eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vorliegt, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck der Richtlinie 2011/96 … zuwiderläuft. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen. Eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen gilt in dem Umfang als unangemessen, wie sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11 Die Geschäftstätigkeit von Nordcurrent besteht in der Entwicklung und im Vertrieb elektronischer Spiele. Im Rahmen einer Steuerprüfung bei dieser Gesellschaft im Jahr 2023 stellte die Steuerinspektion fest, dass Nordcurrent für in den Jahren 2018 und 2019 von der Tochtergesellschaft erhaltene Dividenden Körperschaftsteuer in Höhe von 3 205 211,53 Euro hätte entrichten müssen. Zu diesem Ergebnis gelangte die Steuerinspektion, nachdem sie festgestellt hatte, dass die Tochtergesellschaft in diesen Jahren unter den Begriff „unangemessene Gestaltung“ gefallen sei, da sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen gegründet worden sei.

12 Außerdem stellte die Steuerinspektion fest, dass Nordcurrent ihre steuerpflichtigen Gewinne für diese Jahre ungerechtfertigt verringert habe, indem sie an die Tochtergesellschaft im Vereinigten Königreich gezahlte Provisionen für den Vertrieb von Spielen in Höhe von insgesamt 728 762,81 Euro in Abzug gebracht habe. Folglich wurde gegenüber Nordcurrent eine Körperschaftsteuernachforderung in Höhe von 586 722 Euro zuzüglich Verzugszinsen in Höhe von 222 028,08 Euro und einer Geldbuße in Höhe von 176 017 Euro festgesetzt.

13 Nach Ansicht der Steuerinspektion werde das Vorliegen einer unangemessenen Gestaltung dadurch belegt, dass die Tochtergesellschaft in den Jahren 2018 und 2019 insofern nicht über die der großen Zahl von vertriebenen Spielen, Kunden und Vertriebskanälen entsprechenden personellen Ressourcen verfügt habe, als ihre einzige Angestellte ihre Geschäftsführerin gewesen sei, die gleichzeitig sieben weitere Gesellschaften geleitet habe. Ferner habe die Tochtergesellschaft weder über ihre eigene Betriebstätte noch über materielle Güter im Vereinigten Königreich verfügt. Tatsächlich sei eine große Zahl von Gesellschaften, nämlich 97 110, unter derselben Anschrift eingetragen gewesen wie die Tochtergesellschaft, wobei diese Anschrift von einem Dienst zur Eintragung von Unternehmenssitzen in diesem Land vermittelt worden sei.

14 Daher stellte die Steuerinspektion fest, dass die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Vertrieb von Spielen durch die Tochtergesellschaft in den Jahren 2018 und 2019 in Wirklichkeit von den Mitarbeitern von Nordcurrent selbst ausgeführt worden seien, die Zugang zu den von der Tochtergesellschaft verwendeten Plattformen für Werbetreibende und für den Vertrieb von Spielen gehabt hätten.

15 Nordcurrent focht die Entscheidung der Steuerinspektion vor der Mokestinių ginčų komisija prie Lietuvos Respublikos Vyriausybės (Kommission für Steuerstreitigkeiten bei der Regierung der Republik Litauen), dem vorlegenden Gericht, an. Die Tochtergesellschaft sei keine unangemessene Gestaltung gewesen, sondern habe ihr einen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil verschafft. Die im Jahr 2009 gegründete und im Jahr 2021 liquidierte Tochtergesellschaft sei als Vermittlerin zwischen Nordcurrent und den Plattformen für Werbetreibende und für den Vertrieb von Spielen notwendig gewesen, bis es Nordcurrent gelungen sei, direkte Verträge mit solchen Plattformen abzuschließen. In den Jahren 2018 und 2019 habe für Nordcurrent keine Möglichkeit bestanden, Spiele direkt von Litauen aus zu verkaufen. Angesichts der Art und Weise, in der elektronische Spiele vertrieben würden, habe die Tochtergesellschaft keine physischen Geschäftsräume benötigt. Ebenso sei für den Abschluss von Standardverträgen über den Vertrieb von Spielen oder die Beauftragung von Werbedienstleistungen durch die Tochtergesellschaft abgesehen von der Geschäftsführerin kein weiteres Personal notwendig gewesen.

16 Nordcurrent führt aus, ihr sei im Jahr 2017, nach Abschluss einer Vereinbarung mit der Plattform Google, ein Teil der Vertriebsaufgaben der Tochtergesellschaft übertragen worden. Im Jahr 2018 seien die Organisation der Tätigkeiten geändert und alle mit der Spieleentwicklung, mit der Finanzierung der Spieleentwicklung und mit Werbeausgaben im Zusammenhang stehenden Risiken von der Tochtergesellschaft auf Nordcurrent übertragen worden. Nordcurrent seien daher sämtliche Rechte an den Spielen zugekommen, während die Tochtergesellschaft ausschließlich für deren Vertrieb zuständig geblieben sei. Ab dem Ende des Jahres 2019 seien keine der Aufgaben des Spielevertriebs und der Beauftragung von Werbedienstleistungen mehr von der Tochtergesellschaft wahrgenommen worden, weshalb beschlossen worden sei, diese zu liquidieren.

17 Im Zuge eines Vergleichs der Situation, mit der das vorlegende Gericht befasst ist, mit dem Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark (C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135), führt dieses aus, dass die Tochtergesellschaft das Einkommen aus einer von ihr im eigenen Namen ausgeübten Tätigkeit bezogen habe und somit nicht als in die Konzernstruktur, der sie zugehöre, zwischengeschaltete Einheit, sondern als Einheit gehandelt habe, die dieses Einkommen selbst erwirtschaftet habe. Das vorlegende Gericht hat daher Zweifel hinsichtlich der Anwendung der in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltenen Missbrauchsbekämpfungsvorschrift auf die Tochtergesellschaft.

18 Es weist auch darauf hin, dass die Steuerinspektion weder die Gründe, aus denen die Tochtergesellschaft gegründet worden sei, noch deren Tätigkeit in anderen Zeiträumen als den Jahren 2018 und 2019 in Frage stelle. Außerdem führt das vorlegende Gericht aus, dass es Nordcurrent zufolge keinen tatsächlichen Steuervorteil gegeben habe, da die im Vereinigten Königreich ansässige Tochtergesellschaft Gewinne erwirtschaftet habe und der Körperschaftsteuersatz auf steuerbare Gewinne in Litauen mit 15 % niedriger sei als der im Vereinigten Königreich erhobene Steuersatz von 24 %.

19 Vor diesem Hintergrund hat die Mokestinių ginčų komisija prie Lietuvos Respublikos Vyriausybės (Kommission für Steuerstreitigkeiten bei der Regierung der Republik Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist unter Umständen wie den in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden mit den Zielen der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift der Richtlinie 2011/96 eine nationale Praxis vereinbar, wonach eine Steuerbefreiung für Dividenden einer Muttergesellschaft in einem Mitgliedstaat in Bezug auf die von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft erhaltenen Dividenden deshalb nicht gewährt wird, weil eine solche Tochtergesellschaft als Gestaltung eingestuft wird, wenn sie keine Zwischengesellschaft darstellt und die in Form von Dividenden ausgeschütteten Gewinne aus unter dem Namen der Tochtergesellschaft ausgeübten Tätigkeiten erwirtschaftet wurden, so dass sich eine Situation ergeben würde, in der überhaupt keine Gewinne vorlägen bzw. keine Dividenden ausgezahlt würden, würde man sich die Tochtergesellschaft wegdenken?

2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Ist eine nationale Praxis, wonach für die Zwecke der Einstufung einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft als derartige Gestaltung auf die Umstände zum Zeitpunkt der Ausschüttung der Dividenden abgestellt wird, mit den Zielen der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift der Richtlinie 2011/96 vereinbar, wenn die Gründung der Tochtergesellschaft durch wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt ist?

3. Kann die Missbrauchsbekämpfungsvorschrift der Richtlinie 2011/96 dahin ausgelegt werden, dass, wenn eine Muttergesellschaft von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft, die als Gestaltung eingestuft wird, Dividenden erhalten hat, allein diese Einstufung ausreicht, um festzustellen, dass die Muttergesellschaft durch die Anwendung der Steuerbefreiung für Dividenden einen steuerlichen Vorteil erlangt hat, der dem Ziel oder Zweck der Richtlinie 2011/96 zuwiderläuft? Kommt ferner den Umständen betreffend die Tatsache, dass die von einer als Gestaltung eingestuften Tochtergesellschaft erwirtschafteten Gewinne im Ansässigkeitsmitgliedstaat gemäß den geltenden nationalen Rechtsvorschriften in diesem Mitgliedstaat der Körperschaftsteuer unterlagen, Bedeutung zu, um die Feststellung anzufechten, dass ein steuerlicher Vorteil erlangt worden sei oder eine Gestaltung vorgelegen habe?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach einer Muttergesellschaft in ihrem Ansässigkeitsmitgliedstaat eine Körperschaftsteuerbefreiung für von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft erhaltene Dividenden deshalb nicht gewährt wird, weil eine solche Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung eingestuft wird, wenn sie keine Zwischengesellschaft darstellt und die in Form von Dividenden ausgeschütteten Gewinne aus unter dem Namen dieser Tochtergesellschaft ausgeübten Tätigkeiten erwirtschaftet wurden.

21 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/96 hervorgeht, dass dann, wenn eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft ausgeschüttete Gewinne bezieht, der Mitgliedstaat, in dem die Muttergesellschaft ihren Sitz hat, diese Gewinne entweder nicht besteuert oder es zulässt, dass diese Gesellschaft auf ihre Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für diese Gewinne entrichtet, anrechnen kann. Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass sich die Republik Litauen für das in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie vorgesehene Befreiungssystem entschieden hat.

22 Weiter ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten die Vorteile der Richtlinie 2011/96 gemäß deren Art. 1 Abs. 2 und 3, der eine Missbrauchsbekämpfungsvorschrift enthält, nicht gewähren, wenn unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vorliegt, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft. Eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen gilt in dem Umfang als unangemessen, wie sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.

23 Bei der Auslegung dieser Vorschrift sind nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch das System und die Ziele der Richtlinie 2011/96 zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Mai 2022, Schneider Electric u. a., C-556/20, EU:C:2022:378, Rn. 40).

24 Für die Auslegung der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift sind auch die Klarstellungen relevant, die der Gerichtshof – gestützt auf den allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots – im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Richtlinie 90/435 vorgenommen hat, die vor ihrer Aufhebung durch die Richtlinie 2011/96 anwendbar war.

25 Was zunächst den Wortlaut der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift betrifft, geht daraus nicht hervor, dass diese nur in bestimmten Situationen oder nur auf bestimmte Arten von Gestaltungen anwendbar wäre. Darin wird vielmehr von einer umfassenden Perspektive ausgegangen, die es insofern einschließt, dass die allfällige Unangemessenheit einer Gestaltung im Hinblick auf alle relevanten Fakten und Umstände ermittelt wird, als eine solche Gestaltung durch das Fehlen triftiger wirtschaftlicher Gründe gekennzeichnet ist, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.

26 Was sodann das System und die Ziele der Richtlinie 2011/96 betrifft, geht aus den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2015/121, mit der die Missbrauchsbekämpfungsvorschrift in die Richtlinie 2011/96 eingefügt wurde, die seither in deren Art. 1 Abs. 2 und 3 enthalten ist, hervor, dass diese Vorschrift, u. a. angesichts der Vielfalt der nationalen Steuersysteme, sehr hilfreich ist, um Missbräuche jener Richtlinie zu verhindern. Sowohl im Hinblick auf die Verortung dieser Vorschrift, nämlich im ersten Artikel der Richtlinie 2011/96, als auch im Hinblick auf das solcherart ausgedrückte Ziel, ist davon auszugehen, dass ihr Querschnittscharakter zukommt, was für eine Auslegung spricht, die ihre Anwendung unabhängig von den Umständen zulässt, unter denen Missbräuche stattfinden. Eine engere Auslegung stünde nicht im Einklang mit dem Ziel, Missbräuche zu verhindern.

27 Schließlich hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Richtlinie 90/435 einen Konzern, der nicht aus Gründen geschaffen wird, die durch die wirtschaftliche Realität bedingt sind, der eine Pro-forma-Struktur hat und dessen Hauptzweck oder einer seiner Hauptzwecke die Erlangung eines Steuervorteils ist, der dem Ziel oder Zweck der anwendbaren Steuervorschriften zuwiderläuft, als künstliches Gebilde angesehen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn bei Dividenden die Zahlung von Steuern dadurch vermieden wird, dass im Konzern zwischen die Gesellschaft, die die Dividenden zahlt, und die Einheit, die Nutzungsberechtigte der Dividenden ist, eine Durchleitungseinheit geschaltet wird (Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark, C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135, Rn. 100).

28 Aus diesen Erwägungen kann jedoch weder abgeleitet werden, dass die Missbrauchsbekämpfungsvorschrift ausschließlich auf Gestaltungen anwendbar wäre, die Zwischengesellschaften beinhalten, noch, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht darunterfiele. Vielmehr geht aus derselben Randnummer des Urteils vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark (C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135), hervor, dass der Fall einer Zwischengesellschaft nur eines von mehreren Beispielen für die Anwendung des Grundsatzes des Missbrauchsverbots ist, was durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ deutlich gemacht wird.

29 Dieses Vorgehen anhand eines Beispiels bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Praxis fügt sich in die Rechtsprechung des Gerichtshofs ein, in deren Rahmen dieser im Licht des Grundsatzes des Verbots des Rechtsmissbrauchs des Weiteren festgestellt hat, dass eine Tochtergesellschaft, die eine „Briefkastenfirma“ oder eine „Strohfirma“ ist, als rein künstliche Gestaltung anzusehen ist (Urteil vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C-196/04, EU:C:2006:544, Rn. 68).

30 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, anhand des gesamten Sachverhalts des Ausgangsverfahrens zu prüfen, ob die Tatbestandsmerkmale eines Missbrauchs vorliegen (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark, C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135, Rn. 98 und 99).

31 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis, wonach einer Muttergesellschaft in ihrem Ansässigkeitsmitgliedstaat eine Körperschaftsteuerbefreiung für von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft erhaltene Dividenden deshalb nicht gewährt wird, weil eine solche Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung eingestuft wird, wenn sie keine Zwischengesellschaft darstellt und die in Form von Dividenden ausgeschütteten Gewinne aus unter dem Namen dieser Tochtergesellschaft ausgeübten Tätigkeiten erwirtschaftet wurden, nicht entgegensteht, sofern die Tatbestandsmerkmale eines Missbrauchs vorliegen.

Zur zweiten Frage

32 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach für die Zwecke der Einstufung einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung nur auf die Umstände zu den Zeitpunkten der Dividendenausschüttungen abgestellt wird, wenn die Gründung dieser Tochtergesellschaft durch wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt ist und das tatsächliche Vorliegen einer Tätigkeit derselben vor diesen Zeitpunkten nicht in Frage gestellt wird.

33 Dieses Gericht weist nämlich darauf hin, dass die Schlussfolgerungen der Steuerinspektion, in denen eine unangemessene Gestaltung festgestellt worden sei, sich ausschließlich auf die Umstände zu den Zeitpunkten bezogen hätten, zu denen die von der Körperschaftsteuer befreiten Dividenden ausgezahlt worden seien. Dagegen stelle die Steuerinspektion weder die Gründung der Tochtergesellschaft, noch die von dieser ausgeübte Tätigkeit vor diesen Zeitpunkten, d. h. vor den Jahren 2018 und 2019, in Frage.

34 Obwohl die Anwendung der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift in Anbetracht ihres Wortlauts augenscheinlich auf die Vornahme einer Gestaltung beschränkt ist, da in den beiden Absätzen von Art. 1 der Richtlinie 2011/96, in denen sie enthalten ist, konkret darauf Bezug genommen wird, ist auch die Klarstellung in Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie zu berücksichtigen, wonach eine Gestaltung mehr als einen Schritt oder Teil umfassen kann.

35 Insoweit geht aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/121 hervor, dass nur einzelne Schritte oder Teile einer Gestaltung unangemessen sein und folglich unter die Missbrauchsvorschrift fallen können, was zur vollen praktischen Wirksamkeit dieser Vorschrift führt und gleichzeitig ihre Verhältnismäßigkeit garantiert.

36 In diesem Zusammenhang kann, wie die französische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, nicht ausgeschlossen werden, dass eine ursprünglich aus triftigen wirtschaftlichen Gründen, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln, vorgenommene Gestaltung ab einem gewissen Zeitpunkt als unangemessen anzusehen ist, weil sie trotz einer Änderung der Umstände beibehalten wurde.

37 Folglich ist die Möglichkeit der Anwendung der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift auf unangemessene Schritte einer Gestaltung dahin zu verstehen, dass nach der Errichtung einer Gestaltung eingetretene Umstände bei der Beurteilung der Angemessenheit oder Unangemessenheit des in Rede stehenden Schrittes der Gestaltung berücksichtigt werden können.

38 Auch wenn es daher nicht angezeigt ist, die Beurteilung, ob ein Rechtsmissbrauch vorliegt, allein auf die Errichtung der in Rede stehenden Gestaltung zu beschränken, können für die Zwecke der Feststellung eines solchen Missbrauchs die Umstände nicht außer Acht gelassen werden, die zum Zeitpunkt dieser Errichtung bzw. jedenfalls vor der Vornahme des fraglichen Schrittes der Gestaltung vorlagen, der im vorliegenden Fall in der Ausschüttung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dividenden besteht.

39 Nach dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/121 sollten die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten bei der Bewertung der Frage, ob eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen missbräuchlich ist, nämlich eine objektive Analyse aller relevanten Fakten und Umstände vornehmen. Diese Formulierung wird in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 im Wesentlichen übernommen, wonach die Vorteile dieser Richtlinie nicht gewährt werden dürfen, wenn Gestaltungen vorliegen, die unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände unangemessen sind.

40 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 90/435 geht auch hervor, dass im Wege einer Analyse des gesamten Sachverhalts zu ermitteln ist, ob die Tatbestandsmerkmale eines Missbrauchs vorliegen (Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark, C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135, Rn. 98).

41 Folglich sind in einer Situation, in der eine Gestaltung mehrere Schritte umfasst, alle relevanten Fakten und Umstände zu berücksichtigen, um festzustellen, ob einer oder mehrere dieser Schritte unangemessen sind. Nichts in der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift deutet darauf hin, dass die zu diesem Zweck zu analysierenden relevanten Fakten und Umstände auf die Umstände zum Zeitpunkt der Vornahme des fraglichen Schrittes der Gestaltung – das ist im vorliegenden Fall die Ausschüttung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dividenden – beschränkt wären.

42 Auch wenn es den nationalen Behörden also freisteht, die letztgenannten Umstände zu berücksichtigen, um eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung einzustufen, geht es nicht an, dass allein diese Umstände für die Zwecke einer solchen Einstufung relevant wären.

43 Nach alledem ist die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach für die Zwecke der Einstufung einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung ausnahmslos nur auf die Umstände zu den Zeitpunkten der Dividendenausschüttungen abgestellt wird, wenn die Gründung dieser Tochtergesellschaft durch wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt ist und das tatsächliche Vorliegen einer Tätigkeit derselben vor diesen Zeitpunkten nicht in Frage gestellt wird.

Zur dritten Frage

44 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift dahin auszulegen ist, dass, wenn eine Muttergesellschaft Dividenden von einer als unangemessene Gestaltung eingestuften Tochtergesellschaft erhalten hat, allein diese Einstufung ausreicht, um festzustellen, dass die Muttergesellschaft durch die Anwendung der Körperschaftsteuerbefreiung für diese Dividenden einen steuerlichen Vorteil erlangt hat, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft.

45 In Anbetracht des Wortlauts der in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltenen Missbrauchsbekämpfungsvorschrift müssen für die Versagung der Vorteile dieser Richtlinie zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen muss eine unangemessene Gestaltung im Sinne dieses Abs. 3 vorliegen. Zum anderen muss der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke für die Vornahme der Gestaltung darin bestehen, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft.

46 Es genügt daher nicht – entsprechend der in Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltenen Definition einer unangemessenen Gestaltung – nachzuweisen, dass die Gestaltung nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln. Nach Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie ist es außerdem erforderlich, dass die Gestaltung zu dem wesentlichen Zweck vorgenommen wird, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft.

47 Diese Lesart entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, aus der hervorgeht, dass der Nachweis eines Missbrauchs zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraussetzt, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark, C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135, Rn. 97 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

48 Wenn es für eine Feststellung, wonach die Muttergesellschaft im vorliegenden Fall durch die Anwendung einer Körperschaftsteuerbefreiung für Dividenden, die sie von einer Tochtergesellschaft erhalten hat, einen steuerlichen Vorteil erlangt, der dem Ziel oder Zweck der Richtlinie 2011/96 zuwiderläuft, ausreichte, die in Rede stehende Tochtergesellschaft auf der Grundlage der von der Steuerinspektion vorgebrachten Gesichtspunkte – d. h., weil personelle und materielle Ressourcen sowie eine tatsächliche Wirtschaftstätigkeit fehlten – als unangemessen einzustufen, würde das mit dem steuerlichen Vorteil verbundene subjektive Element entgegen der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung nicht als gesondertes Element berücksichtigt, um die Einstufung als Rechtsmissbrauch zu belegen.

49 Es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass die Einstufung der Tochtergesellschaft als unangemessene Gestaltung dafür ausreicht, der Muttergesellschaft nach der in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 vorgesehenen Missbrauchsbekämpfungsvorschrift die Körperschaftsteuerbefreiung für von der Tochtergesellschaft erhaltene Dividenden zu versagen.

50 Was schließlich den Begriff des steuerlichen Vorteils betrifft, ist festzustellen, dass dieser in den Richtlinien 2011/96 und 2015/121 nicht definiert wird.

51 Daher stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Fall der steuerliche Vorteil, auf den diese Richtlinien abstellen, dahin auszulegen ist, dass es sich dabei um die in der Richtlinie 2011/96 genannte Steuerbefreiung handelt, wofür sich die litauische, die belgische und die französische Regierung in ihren jeweiligen Erklärungen im Wesentlichen aussprechen, oder, wie von Nordcurrent und der Europäischen Kommission vorgeschlagen, in einem weiteren Sinne, nämlich unter Berücksichtigung der Frage, ob der Gesellschaft in Anbetracht dessen, dass im Vereinigten Königreich ein anderer Körperschaftsteuersatz gilt als in Litauen, eine „Steuerersparnis“ zuteil wurde.

52 Der Wortlaut der in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltenen Missbrauchsbekämpfungsvorschrift allein zwingt nicht zu der Annahme, dass der steuerliche Vorteil isoliert zu beurteilen wäre. Wie die Kommission geltend macht, spricht das in dieser Vorschrift vorgesehene Erfordernis der Berücksichtigung aller Fakten und Umstände vielmehr dafür, dass die steuerliche Gesamtwirkung zu berücksichtigen ist, die sich aus der Errichtung der Gestaltung im fraglichen Mitgliedstaat ergibt.

53 Ohne eine solche Gesamtbetrachtung wäre auch die Bewertung des subjektiven Elements schwierig, das für die Feststellung des Vorliegens eines Rechtsmissbrauchs erforderlich ist. Insoweit ist durchaus denkbar, dass es eine andere Rechtfertigung für die Vornahme einer Gestaltung in einem anderen Mitgliedstaat geben könnte, wenn damit nicht darauf abgezielt wird, einen in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorteil zu erlangen, sondern eine Verringerung der Steuerlast (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark, C-116/16 und C-117/16, EU:C:2019:135, Rn. 110).

54 Folglich ist der von Nordcurrent geltend gemachte Umstand, dass die von der Tochtergesellschaft erwirtschafteten Gewinne im Vereinigten Königreich einem höheren Körperschaftsteuersatz als demjenigen unterlegen hätten, der in Litauen erhoben worden wäre, nimmt man dies als erwiesen an, ein relevanter Gesichtspunkt unter mehreren für die Beurteilung, ob der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke für das Bestehen der Tochtergesellschaft zu den Zeitpunkten der in Rede stehenden Dividendenausschüttungen darin bestand, in den Genuss eines steuerlichen Vorteils im Sinne der in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltenen Missbrauchsbekämpfungsvorschrift zu kommen.

55 Nach alledem ist die in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96 enthaltene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift dahin auszulegen, dass, wenn eine Muttergesellschaft Dividenden von einer als unangemessene Gestaltung eingestuften Tochtergesellschaft erhalten hat, allein diese Einstufung nicht ausreicht, um festzustellen, dass die Muttergesellschaft durch die Anwendung der Körperschaftsteuerbefreiung für diese Dividenden einen steuerlichen Vorteil erlangt hat, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft.

Kosten

56 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

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