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Steuerrecht
04.12.2008
Steuerrecht
: Arbeitnehmer mit mehrtägiger Arbeitszeit als Grenzgänger zur Schweiz - Berechnung der "Nichtrückkehrtage" i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992

BFH, Urteil vom 27.8.2008 - I R 10/07

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 28.9.2006 - 14 K 202/01 (EFG 2007, 1055)

LEITSATZ

Muss ein in Deutschland ansässiger Arbeitnehmer über mehrere Tage hinweg ohne Unterbrechung in der Schweiz tätig werden, so ist bei der Anwendung der Grenzgängerregelung in Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 nicht jeder dieser Tage als ein Tag zu zählen, an dem der Arbeitnehmer aus beruflichen Gründen nicht an seinen Wohnsitz zurückkehrt (Bestätigung des Senatsurteils vom 16.5.2001 - I R 100/00, BFHE 195, 341, BStBl. II 2001, 633, BB 2001, 1835 Ls; Abgrenzung zum Senatsurteil vom 15.9.2004 - I R 67/03, BFHE 207, 452, BB 2005, 34 Ls).

DBA-Schweiz 1971/1992 Art. 15a Abs. 1 und 2

SACHVERHALT

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) in den Streitjahren (1994 bis 1996) Grenzgängerin i.S. des Art. 15a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) i.d.F. des Protokolls vom 21. Dezember 1992 (BGBl II 1993, 1888, BStBl I 1993, 928) --DBA-Schweiz 1971/1992-- war.

Die Klägerin ist Sozialarbeiterin und wohnte in den Streitjahren im Inland. Sie war bis zum 31. März 1996 bei einem in der Schweiz ansässigen Verein (V-Verein) angestellt. In der Zeit vom 1. April 1996 bis zum 30. Juni 1996 war sie arbeitslos; anschließend war sie bei einem deutschen Arbeitgeber beschäftigt.

Der V-Verein führte auf einem ehemaligen Bauernhof in der Schweiz Therapiemaßnahmen zum Drogenentzug durch. Die einzelnen Maßnahmen dauerten in der Regel 15 Tage. Dabei wurde jeweils eine Gruppe von Drogenabhängigen von vier Mitarbeitern des V-Vereins rund um die Uhr betreut. Die Mitarbeiter, zu denen u.a. die Klägerin zählte, wohnten während dieser Zeiten auf dem Therapiegelände und führten täglich Gruppentherapiesitzungen und Einzelgespräche mit den Drogenabhängigen durch. Aus Sicherheitsgründen mussten stets mindestens zwei Therapiemitarbeiter anwesend sein. Während einer 15-tägigen Maßnahme hatte jeder Mitarbeiter Anspruch auf zwei Pausen von 24 bis 48 Stunden; die Klägerin hat dazu vorgetragen, sie selbst habe die erste Pause jeweils am sechsten und die zweite am elften oder zwölften Tag genommen und sei jeweils am Folgetag auf das Gelände zurückgekehrt. Nach Abschluss einer Therapiemaßnahme habe sie vom V-Verein in Verwahrung genommene Habe der Drogenabhängigen abgeholt und die Teilnehmer der Maßnahme in stationäre Therapieeinrichtungen gebracht; wenn diese Einrichtungen sich im Tessin befunden hätten, habe sie auch dort im Hotel übernachtet.

Der V-Verein hat der Klägerin schriftlich bestätigt, in den Streitjahren sechs (1994) bzw. sieben (1995) Mal für jeweils elf Tage und außerdem im Jahr 1996 zwei Mal für sieben, einmal für acht und einmal für vier Tage an Therapiemaßnahmen mitgewirkt zu haben. Die Zahl der bestätigten Arbeitstage in der Therapieeinrichtung beläuft sich mithin auf 66 (1994), 77 (1995) und 26 (1996). Ferner heißt es in der Bescheinigung, auf Grund der Besonderheit ihrer Arbeitseinsätze sei der Klägerin jeweils an mehr als sechzig Tagen im Jahr eine Rückkehr an ihren Wohnort in Deutschland nicht möglich gewesen. Wegen der organisatorischen Notwendigkeit, jeweils mehrere Tage und Nächte in Folge in der Entzugsstation zu verbringen, habe für sie keine "normale" Grenzgängerbewilligung eingeholt werden können; da Grenzgänger nach Schweizer Recht die Nacht nicht in der Schweiz verbringen dürften, habe die Klägerin nur eine befristete Aufenthaltsbewilligung für jeweils maximal 120 Tage im Kalenderjahr erhalten.

Die Klägerin war nach ihrem Arbeitsvertrag zudem berechtigt und verpflichtet, vom V-Verein durchgeführte Fortbildungsmaßnahmen zu besuchen. Auf Grund dessen nahm sie in 1994 an 22, in 1995 an 17 und in 1996 an zwei Tagen an entsprechenden Veranstaltungen teil, die jeweils in der Schweiz stattfanden. Der V-Verein behielt von den der Klägerin geschuldeten Brutto-Arbeitslöhnen (1994: 60 963,60 sFr.; 1995: 63 965,30 sFr.; 1996: 19 818 sFr.) jeweils Quellensteuern ein; außerdem forderten die Schweizer Steuerbehörden von der Klägerin weitere Quellensteuer nach.

Das seinerzeit für die Besteuerung der Klägerin zuständige Finanzamt (FA F) erließ gegenüber der Klägerin Einkommensteuerbescheide, in denen es die Steuer auf 10 794 DM (1994), 12 859 DM (1995) und 6 402 DM (1996) festsetzte; auf diese Beträge rechnete es Schweizer Quellensteuer in Höhe von 3 210 DM (1994), 3 455 DM (1995) und 1 071 DM (1996) an. Der gegen die Bescheide gerichtete Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg. Nachdem die Klägerin daraufhin eine gegen das FA F gerichtete Klage erhoben hatte, ist durch eine Neuordnung der örtlichen Zuständigkeiten der Finanzämter an Stelle des FA F der Beklagte und Revisionskläger (das FA) für die Besteuerung der Klägerin zuständig geworden.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben; es hob die Steuerbescheide für 1994 und 1995 auf und änderte den Bescheid für 1996 dahin ab, dass die in der Schweiz erzielten Einkünfte der Klägerin nur bei der Bemessung des Steuersatzes berücksichtigt werden (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 28. September 2006 14 K 202/01). Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 1055 abgedruckt.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA eine Verletzung materiellen Rechts. Es beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das Finanzministerium Baden-Württemberg sind gemäß § 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dem Revisionsverfahren beigetreten. Sie unterstützen die Rechtsansicht des FA, haben aber keine Anträge gestellt.

AUS DEN GRÜNDEN

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FA hat die Einkünfte der Klägerin aus deren Tätigkeit für den V-Verein zu Recht in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer einbezogen. Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 steht dieser Sachbehandlung nicht entgegen.

1. Die Klägerin hatte in den Streitjahren in Deutschland einen Wohnsitz. Sie war daher gemäß § 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unbeschränkt steuerpflichtig. Ferner kann nach den Feststellungen des FG davon ausgegangen werden, dass sie aus abkommensrechtlicher Sicht in Deutschland ansässig war (Art. 4 DBA-Schweiz 1971/1992).

2. Nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/1992 werden bei einer in Deutschland ansässigen Person Vergütungen für eine in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit i.S. des Art. 15 DBA-Schweiz 1971/1992 von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen, soweit sie nach dem DBA-Schweiz 1971/1992 in der Schweiz besteuert werden können. Diese Vorschrift hat das FG für im Streitfall einschlägig erachtet. Es ist davon ausgegangen, dass es um Vergütungen für eine in der Schweiz ausgeübte unselbständige Tätigkeit der Klägerin gehe, die nach Art. 15 Abs. 1 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992 in der Schweiz besteuert werden könnten und deshalb nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/1992 in Deutschland steuerfrei seien. Dem stehe Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 nicht entgegen, da die Klägerin nicht Grenzgängerin im Sinne dieser Vorschrift gewesen sei. Diese Beurteilung greift die Revision zu Recht an.

a) Nach Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 können ungeachtet des Art. 15 DBA-Schweiz 1971/1992 Einkünfte eines Grenzgängers aus unselbständiger Arbeit in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem der Grenzgänger ansässig ist. Grenzgänger ist nach Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die im anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt. Kehrt diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, so entfällt ihre Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn sie bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahrs an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992). Ergänzend dazu heißt es in Nr. II.1. des Verhandlungsprotokolls zum Änderungsprotokoll vom 18. Dezember 1991 (BStBl I 1993, 929), die Annahme einer regelmäßigen Rückkehr an den Wohnsitz i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die Arbeitsausübung bedingt durch betriebliche Umstände --wie z.B. bei Schichtarbeitern oder Krankenhauspersonal mit Bereitschaftsdienst-- über mehrere Tage erstreckt. Diese Bestimmung enthält eine verbindliche Vorgabe für die Auslegung des Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/1992 (Senatsurteile vom 16. Mai 2001 I R 100/00, BFHE 195, 341, BStBl II 2001, 633; vom 15. September 2004 I R 67/03, BFHE 207, 452; vom 20. Oktober 2004 I R 31/04, BFH/NV 2005, 840, m.w.N.).

b) Der Streitfall ist in tatsächlicher Hinsicht dadurch gekennzeichnet, dass die Klägerin ihrem Arbeitgeber gegenüber u.a. verpflichtet war, in der Schweiz stattfindende Therapiemaßnahmen zu betreuen und zu diesem Zweck jeweils über mehrere Tage hinweg ununterbrochen auf dem Therapiegelände anwesend zu sein. Dementsprechend hat sie sich nach ihrer Darstellung, der das FA nicht widersprochen hat, während der jeweils 15 Tage lang dauernden Maßnahmen zunächst vom ersten bis zum sechsten Tag auf dem Gelände aufgehalten und insbesondere dort übernachtet; im Anschluss an eine eintägige Pause hat sie sich sodann vom siebten bis zum elften oder zwölften Tag erneut ohne Unterbrechung auf dem Gelände aufgehalten, was sich --nach einer weiteren eintägigen Pause-- in der Zeit vom zwölften oder dreizehnten bis zum fünfzehnten Tag wiederholt hat. Im Ergebnis war daher jede Maßnahme aus der Sicht der Klägerin in drei mehrtägige Arbeitseinheiten unterteilt, während derer die Klägerin jeweils nicht an ihren Wohnsitz in Deutschland zurückgekehrt ist. Das FA hat unter Berufung auf das zitierte Verhandlungsprotokoll angenommen, dass bei einem solchen Sachverhalt für Zwecke der Anwendung des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992 jede mehrtägige Arbeitseinheit als nur ein Tag zu zählen sei, an dem der Arbeitnehmer "nicht an seinen Wohnsitz zurückkehrt". Dem ist im Ergebnis beizupflichten.

aa) Der Senat hat dem Verhandlungsprotokoll ursprünglich entnommen, dass bei einer sich über mehrere Tage erstreckenden Arbeitsausübung eine "regelmäßige" Rückkehr i.S. von Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 unterstellt und damit eine zwischenzeitliche Rückkehr an den Wohnsitz fingiert werde (Senatsurteil in BFHE 195, 341, 342, BStBl II 2001, 633, 634). Das entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen den Fällen der hiernach "fingierten" Rückkehr und der beruflich bedingten Nichtrückkehr hat er darin gesehen, ob der Arbeitnehmer über die Tagesgrenze hinaus seiner Arbeit nachgeht oder ob er --aus beruflichen Gründen-- nach getaner Arbeit außerhalb des Ansässigkeitsstaates verbleibt. Diese Unterscheidung hat er in der Folge dahin modifiziert, dass es für die Anwendung des Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 nicht darauf ankomme, ob das Ende der Arbeitszeit oder der Zeitpunkt der Ankunft am Wohnort auf den Tag des Arbeitsantritts oder auf einen nachfolgenden Tag fällt; deshalb könne ein "Nichtrückkehrtag" i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 auch dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer über die Tagesgrenze hinaus seiner Tätigkeit nachgeht und erst nach Mitternacht seine Arbeitsstätte verlässt (Senatsurteile in BFHE 207, 452, und in BFH/NV 2005, 840). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.

bb) Im Streitfall geht es nicht um einen Sachverhalt, in dem der Arbeitnehmer nur geringfügig über die Tagesgrenze hinaus tätig war, sein Arbeitstag also gleichermaßen nach Mitternacht geendet hat. Vielmehr hat sich die Arbeitszeit der Klägerin ununterbrochen über mehr als zwei Tage erstreckt. Für diese Situation ist aus Nr. II.1. des Verhandlungsprotokolls abzuleiten, dass der Arbeitnehmer so zu behandeln ist, als habe er an jedem Tag der mehrtägigen Arbeitseinheit nach Hause zurückkehren können. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

aaa) Nr. II.1. des Verhandlungsprotokolls betrifft die Frage der "regelmäßigen Rückkehr" i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992. Er regelt insoweit, dass die regelmäßige Rückkehr bei einer mehrtägigen Arbeitsausübung "nicht ausgeschlossen" ist. Das soll erkennbar bedeuten, dass der Fall der mehrtägigen Arbeitsausübung eine Sonderbehandlung erfahren soll, bei der die Regelmäßigkeit der Rückkehr abweichend von den tatsächlichen Gegebenheiten bestimmt wird. Dabei nimmt das Verhandlungsprotokoll namentlich auf die Situation des Krankenhauspersonals mit Bereitschaftsdienst Bezug, das erfahrungsgemäß nicht selten über mehr als zwei Tagesgrenzen hinaus im Einsatz ist. Angesichts dessen muss die Protokollregelung bei verständiger Würdigung dahin gedeutet werden, dass in jenen Fällen das Fehlen einer arbeitstäglichen Rückkehr die Grenzgängereigenschaft nicht berühren soll. Vielmehr sollen hier als "Nichtrückkehrtage" nur diejenigen Tage gezählt werden, an denen der Arbeitnehmer im Anschluss an die mehrtägige Tätigkeit nicht an seinen Wohnort zurückkehrt; das entspricht insoweit dem Wortlaut des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992, als dieser auf die Regelmäßigkeit der Rückkehr "nach Arbeitsende" abstellt. Im Ergebnis läuft die Protokollbestimmung mithin darauf hinaus, dass ein mehrtägiger ununterbrochener Arbeitseinsatz nicht zu mehreren, sondern allenfalls zu einem einzigen "Nichtrückkehrtag" i.S. des Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/1992 führen kann (ebenso FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Beschluss vom 27. Februar 1997 2 V 3/97, EFG 1997, 625, und Urteil vom 3. Dezember 1997 2 K 89/96, EFG 1998, 483).

bbb) Diese Deutung entspricht zudem dem historischen Hintergrund der Protokollregelung. Dazu haben das FA und das Finanzministerium Baden-Württemberg vorgetragen, dass Ausgangspunkt jener Regelung ein Streit über die Besteuerung von in Deutschland ansässigen Assistenzärzten gewesen sei, bei denen Bereitschaftsdienste zur Nichtrückkehr geführt hätten. Nach dem insoweit maßgeblichen Schweizer Arbeitsrecht sei für Bereitschaftsdienste grundsätzlich Zeitausgleich zu gewähren, der nur nachrangig durch eine Bezahlung abgegolten werden dürfe. Die Vertragsstaaten seien davon ausgegangen, dass der Zeitausgleich sich regelmäßig im Ansässigkeitsstaat vollziehe und der Bereitschaftsdienst daher keinen gesteigerten Bezug des Arbeitnehmers zum Tätigkeitsstaat ("Verwurzelung") nach sich ziehe; deshalb sei man zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ableistung von Bereitschaftsdienst die Grenzgängereigenschaft nicht entfallen lassen solle. Auf dieser Überlegung beruhe die in Nr. II.1. des Verhandlungsprotokolls getroffene Regelung. Die Klägerin hat die genannte Darstellung zwar bestritten; die Erläuterung seitens der Finanzbehörden ist aber plausibel und daher jedenfalls geeignet, ein aus Wortlaut und Systematik der einschlägigen Vorschriften abzuleitendes Verständnis der Protokollregelung zusätzlich zu stützen. In diesem Sinne kann es daher bei der revisionsgerichtlichen Entscheidung verwertet werden.

ccc) Schließlich kann nicht unbeachtet bleiben, dass nach dem übereinstimmenden Vortrag des BMF und des Finanzministeriums Baden-Württemberg die Finanzbehörden der Vertragsstaaten die Protokollregelung bisher in dem vorstehend beschriebenen Sinne verstanden haben. Die einschlägige Vertragspraxis spiegelt sich u.a. in einem BMF-Schreiben vom 19. September 1994 (BStBl I 1994, 683) wider, das ausweislich seines Einleitungssatzes auf einer Verständigungsvereinbarung gemäß Art. 15a Abs. 4 DBA-Schweiz 1971/1992 beruht. Danach ist ein "Nichtrückkehrtag" nicht schon deshalb anzunehmen, weil sich die Arbeitszeit am Arbeitsort entweder bedingt durch die Anfangszeiten oder durch die Dauer der Arbeitszeit über mehr als einen Kalendertag erstreckt (Tz. 12 des Schreibens); ergänzend wird dort erneut auf den Fall des Krankenhauspersonals mit Bereitschaftsdiensten verwiesen. Diese Regelung soll ersichtlich zwei unterschiedliche Grundsachverhalte betreffen: Der klassische Fall der Schichtarbeit --Arbeitsbeginn gegen Ende eines Tages und Arbeitsende am Folgetag-- wird durch die Formulierung "bedingt durch die Anfangszeiten" abgedeckt, während die in der Vereinbarung enthaltene Anknüpfung an die "Dauer der Arbeitszeit" den Fall des mehrtägigen Arbeitseinsatzes im Blick hat, der mithin ebenfalls die Zahl der "Nichtrückkehrtage" nicht erhöhen soll. In diesem Sinne sind nach dem Vortrag der beteiligten Finanzbehörden denn auch einzelfallbezogene Verständigungsverfahren in der Vergangenheit stets abgeschlossen worden.

Der Streitfall bietet keine Veranlassung, die in der mündlichen Verhandlung vom BMF aufgeworfene Frage zu erörtern, ob die genannte Vereinbarung und die ihr folgende Verwaltungspraxis die Auslegung des Abkommens und des Verhandlungsprotokolls durch die Gerichte binden können (vgl. dazu auch Senatsurteil vom 17. Oktober 2007 I R 5/06, BFHE 219, 518, m.w.N.). Denn unabhängig davon kann ein übereinstimmendes Verständnis seitens der Vertragsstaaten für die gerichtliche Entscheidung zumindest insoweit bedeutsam sein, als sie ein aus anderen Umständen abgeleitetes Auslegungsergebnis bestätigen kann (vgl. dazu schon Senatsurteil in BFHE 207, 452, 455). Diese Wirkung kommt der zitierten Vereinbarung und der ihr folgenden tatsächlichen Übung im Streitfall zu.

cc) Im Ergebnis sind daher diejenigen Tage, an denen die Klägerin auf dem Therapiegelände übernachten musste, für Zwecke des Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 nicht als Tage der berufsbedingten Nichtrückkehr der Klägerin an ihren Wohnsitz anzusehen. Unter Berücksichtigung dieses Umstands überstieg die Zahl der "Nichtrückkehrtage" in keinem der Streitjahre die in Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992 bestimmte Grenze; das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf keiner näheren Erläuterung. Daher hat die Klägerin die in Rede stehenden Einkünfte als Grenzgängerin erzielt, weshalb jene Einkünfte nach Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 in Deutschland besteuert werden dürfen. Dem entsprechen die angefochtenen Bescheide, die deshalb rechtmäßig sind.

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