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Steuerrecht
09.06.2022
Steuerrecht
EuGH-Schlussanträge: Anwendungsbereich des Unionsrechts – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

GAin Kokott, Schlussanträge vom 2.6.2022(1) – C-1/21, MC gegen Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite

ECLI:EU:C:2022:435

Volltext: BB-ONLINE BBL2022-1365-1

Schlussanträge

Die allgemeine gesamtschuldnerische Haftung eines Organs einer Gesellschaft (Nichtsteuerpflichtiger im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie) wegen gesellschaftsschädlichen Verhaltens (hier: Gewährung eines Gehaltes in unangemessener Höhe), welches kausal für die Nichtbezahlung fälliger Steuerschulden der Gesellschaft ist, ist nicht Gegenstand der Mehrwertsteuerrichtlinie und fällt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Daher ist der Gerichtshof nicht zuständig für die Beantwortung der gestellten Fragen.

Aus den Gründen

I. Einführung

1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen wirft eine bekannte Kompetenzfrage in einem neuen Gewand wieder auf. Stellt eine im allgemeinen Steuerrecht vorgesehene gesamtschuldnerische Haftung einer natürlichen Person (die selbst kein Mehrwertsteuerpflichtiger ist) für Steuerschulden und Zinsen einer anderen Person eine Durchführung von Unionsrecht dar, wofür die Mehrwertsteuerrichtlinie oder sonstiges Unionsrecht Vorgaben enthalten könnten? Oder ist die gesamtschuldnerische Haftung einer Person, die kausal dazu beigetragen hat, dass eine andere Person ihrer Steuerzahlungsverpflichtung nicht rechtzeitig nachkommen konnte, eine rein nationale, verfahrensrechtliche Regelung zur Sicherung des Steueraufkommens, die vom Unionsrecht nicht tangiert wird?

2. Dies erinnert etwas an die Konstellation in der viel diskutierten(2) Entscheidung Åkerberg Fransson,(3) bei der die strafrechtliche Verurteilung eines Mehrwertsteuerpflichtigen wegen Hinterziehung von Mehrwertsteuer als eine Durchführung von Unionsrecht beurteilt wurde. Allerdings geht die hier zu entscheidende Frage darüber hinaus.

3. Es handelt sich hier nämlich nicht um die Haftung eines Mehrwertsteuerpflichtigen, sondern um die Haftung einer nicht mehrwertsteuerpflichtigen Person. Diese hat auch keine Mehrwertsteuer hinterzogen, sondern sich als Vorstand ihr Gehalt bei der Gesellschaft offenbar unangemessen erhöht und damit dieser Vermögen entzogen. Dadurch konnte die Gesellschaft bislang ihre Schulden (darunter auch Mehrwertsteuerschulden und Zinsen für Mehrwertsteuerschulden) nicht vollständig bzw. rechtzeitig zahlen.

4. Fällt eine allgemeine gesamtschuldnerische Haftung eines Organs wegen gesellschaftsschädlichen Verhaltens (eine Art Untreue) nun bereits deshalb in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie und damit in den des Unionsrechts, weil die Gesellschaft aufgrund dieses Verhaltens u. a. ihre Mehrwertsteuerschulden und die Zinsen dazu nicht rechtzeitig bzw. vollständig begleichen konnte? Mit anderen Worten: Wo liegt die Grenze des Anwendungsbereichs des Unionsrechts bei einem lediglich mittelbaren Zusammenhang mit der Erhebung der Mehrwertsteuer?

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Den unionsrechtlichen Rahmen bilden die Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(4) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), das am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichnete Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften(5) (im Folgenden: SFI‑Übereinkommen) und Art. 325 AEUV.

1. Primärrecht

6. Nach Art. 325 Abs. 1 AEUV bekämpfen „[d]ie Union und die Mitgliedstaaten … Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken“.

7. Nach Art. 325 Abs. 2 AEUV ergreifen die Mitgliedstaaten „[z]ur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, … die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten“.

2. Das SFI‑Übereinkommen

8. Art. 1 („Allgemeine Bestimmungen“) des SFI‑Übereinkommens bestimmt in seinem Abs. 1:

„Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Union]

b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

– die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Haushalt der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

– das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;

– die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge.“

9. Art. 2 („Sanktionen“) dieses Übereinkommens sieht in Abs. 1 vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligungen an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 [Euro] nicht überschreiten.“

10. Art. 9 („Innerstaatliche Rechtsvorschriften“) dieses Übereinkommens bestimmt:

„Dieses Übereinkommen hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, innerstaatliche Rechtsvorschriften zu erlassen, die über die Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen hinausgehen.“

3. Mehrwertsteuerrichtlinie

11. Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält folgende Vorschrift:

„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“

12. In den erwähnten Artikeln im Titel XI (Kapitel 1) wird die Zahlungspflicht bzw. die Steuerschuldnerschaft der „steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“ geregelt. Vorstände von Gesellschaften bzw. der Fall der unangemessenen Gewährung eines Gehaltes werden dort nicht erwähnt.

13. Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

B. Bulgarisches Recht

14. In der Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung, im Folgenden: DOPK) ist Folgendes geregelt.

15. Art. 14 DOPK betrifft den Schuldner:

„Schuldner sind natürliche und juristische Personen, die:

1. zur Entrichtung von Steuern oder gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet sind; …“

16. Art. 19 Abs. 2 DOPK regelt die Haftung eines Leitungsorgans für die Vermögensverringerung bei der Gesellschaft und lautet:

„Ein Geschäftsführer oder ein Mitglied eines Leitungsorgans, der bzw. das unredlich Sach- oder Geldleistungen aus dem Vermögen einer juristischen Person, die Schuldner nach Art. 14 Nr. 1 oder 2 ist, vornimmt, die eine verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden darstellt, oder Vermögen des Schuldners unentgeltlich oder zu Preisen überträgt, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind, wodurch das Vermögen des Schuldners verringert wird und daher Steuern oder gesetzliche Sozialversicherungsbeiträge nicht entrichtet wurden, haftet für die Schulden bis zur Höhe der vorgenommenen Leistungen beziehungsweise der Verringerung des Vermögens.“

17. Art. 20 DOPK betrifft die Reihenfolge der Vollstreckung und sieht vor:

„In den in Art. 19 geregelten Fällen findet die Sicherung und die Zwangsvollstreckung zunächst in das Vermögen des Schuldners statt, für dessen Steuer- oder Sozialversicherungsschuld gehaftet wird.“

18. Art. 21 Abs. 3 DOPK enthält Aussagen zur Akzessorietät der Haftungsschuld zur Hauptschuld und lautet:

„Die Haftung Dritter entfällt, wenn die Schuld, für die sie mit einem rechtskräftigen Rechtsakt festgestellt wurde, erlischt. In diesem Fall werden gezahlte Beträge nach dem Verfahren gemäß Kapitel 16, Abschnitt 1 zurückerstattet.“

19. Das Zakon za danaka varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) definiert in Art. 3 Abs. 1 den Steuerpflichtigen:

„Steuerpflichtiger ist jede Person, die eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von den Zwecken und den Ergebnissen dieser Tätigkeit.“

20. Art. 89 Abs. 1 Mehrwertsteuergesetz regelt den Zeitpunkt, zu dem die Steuerschuld zu entrichten ist:

„Wenn für den Zeitraum ein Ergebnis in Gestalt zu entrichtender Steuer vorliegt, ist die registrierte Person verpflichtet, die Steuer innerhalb der Frist für die Einreichung der Mehrwertsteuererklärung für diesen Steuerzeitraum auf das Konto der zuständigen Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite (Gebietsdirektion der Nationalen Agentur für Einnahmen) zugunsten des Staatshaushalts zu entrichten.“

21. Das Zakon za lihvite varhu danatsi, taksi i drugi podobni darzhavni vzemania (Gesetz über Zinsen auf Steuern, Gebühren und andere ähnliche öffentlich-rechtliche Forderungen) sieht in Art. 1 Abs. 1 eine Verzinsungspflicht vor:

„Die innerhalb der Fristen für die freiwillige Zahlung nicht gezahlten, nicht einbehaltenen oder einbehaltenen, aber nicht rechtzeitig entrichteten Steuern, Gebühren, Gewinnabzüge, Beiträge an den Haushalt und andere ähnliche öffentlich-rechtliche Forderungen werden nebst den gesetzlichen Zinsen eingezogen.“

22. Laut dem vorlegenden Gericht ist die Auslegung von Art. 19 Abs. 2 DOPK in Verbindung mit Art. 1 des Gesetzes über Zinsen auf Steuern, Gebühren und andere ähnliche öffentlich-rechtliche Forderungen in der bulgarischen Rechtsprechung nicht einheitlich. Zum Teil soll die Haftung des unredlichen Organs auch die Zinsen umfassen, zum Teil nur die Hauptforderung.

III. Ausgangsrechtsstreit

23. Gegenstand des Verfahrens vor dem vorlegenden nationalen Gericht ist die Klage von MC (im Folgenden: Kläger), mit der er die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides bestreitet. Mit dem Bescheid wurde der Kläger für den Steuerzeitraum Dezember 2014 aufgrund seiner persönlichen Haftung für fremde Schulden in Anspruch genommen. Diese Haftungsschuld basiert anscheinend auf noch offenen Mehrwertsteuerschulden (zzgl. Zinsen) eines anderen Steuersubjekts, nämlich der Gesellschaft „ZZ“ AD (im Folgenden: Gesellschaft), deren Vorstand der Kläger im entsprechenden Zeitraum war.

24. Im Hinblick auf die Beitreibung der von der Gesellschaft geschuldeten Beträge wurde ein Zwangsvollstreckungsverfahren gegen diese eingeleitet. Der Gesellschaft wurden mehrmals Aufforderungen zur freiwilligen Zahlung übermittelt, eine solche ist jedoch nie erfolgt. Daher wurden die öffentlichen Schulden der Gesellschaft, die auch die oben genannten Zinsen auf die nicht rechtzeitig entrichtete Mehrwertsteuer umfassen, von der Vollstreckungsbehörde als schwer vollstreckbar eingestuft.

25. Die Inanspruchnahme des Klägers beruht auf dem Umstand, dass er seine Vergütung mehrfach erhöht hat, ohne einen gültigen Nachweis über diese Erhöhung vorlegen zu können. Die Art und Weise, wie die angehobene Vergütung ausgezahlt wurde, entsprach auch nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Beträge wurden an den für die Gesellschaft tätigen Rechtsanwalt überwiesen, der sie wiederum auf das Konto der Ehefrau des Klägers überwies, zu dem der Kläger ebenfalls Zugang hatte.

26. Der Kläger bestreitet die Forderung. Sein Hauptargument ist, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen der von ihm in seiner Eigenschaft als Leitungsorgan der Steuerpflichtigen erhaltenen Vergütung und den nicht vorhandenen Geldmitteln zur Begleichung der öffentlich-rechtlichen Forderungen gegeben sei. Die Finanzverwaltung führt im Wesentlichen an, dass der Kläger als Leitungsorgan des (auch in Bezug auf die Mehrwertsteuer) Steuerpflichtigen unredlich sei, da er während des relevanten Steuerzeitraums eine Vergütung in einer Höhe erhalten habe, für die nicht nachgewiesen sei, dass sie ordnungsgemäß festgelegt worden sei.

27. Für die Zwecke der Vorlage geht das vorlegende Gericht davon aus, dass der Kläger durch einen Dritten die Übertragung eines Betrags aus dem Vermögen der Gesellschaft auf eine mit ihm verbundene natürliche Person angeordnet hat oder zumindest Kenntnis davon hatte und dabei nach dem nationalen Recht unredlich handelte. Wegen der Verringerung des Vermögens der Gesellschaft um die Höhe dieses Betrags wurden die fälligen Zinsen auf die Mehrwertsteuer, die im Dezember 2014 aufgelaufen waren, nicht gezahlt. Unter Berücksichtigung der Vorlagefrage gehe ich davon aus, dass auch die Mehrwertsteuerschulden deswegen nicht bezahlt wurden.

28. Des Weiteren weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Haftung für nicht entrichtete Steuern nach Art. 19 Abs. 2 DOPK gesamtschuldnerischer Natur ist, die zwar nach Entstehung der Steuerschuld des Steuerpflichtigen entsteht, aber bis zum Erlöschen der Steuerschuld fortbesteht. Dabei beruht diese Haftung in keiner Weise auf betrügerischen oder missbräuchlichen Handlungen im Rahmen der unabhängigen wirtschaftlichen Tätigkeit der steuerpflichtigen Person (d. h. der Gesellschaft).

IV.  Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

29. Das mit der Klage gegen den Haftungsbescheid befasste Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) legte mit Beschluss vom 18. November 2020 dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

1. Ist Art. 9 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften in Verbindung mit Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehenen auf dem harmonisierten Gebiet der Mehrwertsteuer nicht entgegensteht, deren Anwendung dazu führt, dass eine nachträgliche gesamtschuldnerische Haftung einer nicht steuerpflichtigen natürlichen Person ausgelöst wird, die nicht die Mehrwertsteuer schuldet, deren unredliches Verhalten jedoch dazu führte, dass die Mehrwertsteuer durch die steuerpflichtige juristische Person, die der Steuerschuldner ist, nicht entrichtet wurde?

2. Erlauben es die Auslegung dieser Vorschriften und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene nationale Regelung auch für die Zinsen gilt, die auf die durch den Steuerpflichtigen nicht rechtzeitig entrichtete Mehrwertsteuer erhoben werden?

3. Steht die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene nationale Regelung in einem Fall, in dem die verspätete Entrichtung der Mehrwertsteuer, die zur Verzinsung der Mehrwertsteuerschuld führte, nicht auf das Verhalten der nicht steuerpflichtigen natürlichen Person, sondern auf das Verhalten einer anderen Person oder die Verwirklichung objektiver Umstände zurückzuführen ist, im Widerspruch zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?

30. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben der Kläger, Bulgarien, das Königreich Spanien und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.

V. Rechtliche Würdigung

31. Die Fragen des vorlegenden Gerichts zielen alle darauf ab, ob das Unionsrecht der nationalen Regelung entgegensteht, die eine gesamtschuldnerische Haftung einer natürlichen Person (einer nicht steuerpflichtigen Person) vorsieht, wenn deren Verhalten als Organ einer juristischen Person dazu geführt hat, dass diese juristische Person ihre Steuerschulden – darunter auch Mehrwertsteuerschulden – nicht rechtzeitig oder vollständig bezahlen konnte. Diese Fragen unterstellen, dass eine solche Haftung eines Nichtsteuerpflichtigen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

A. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

32. Bulgarien zweifelt in seiner Stellungnahme daran. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV kann der Gerichtshof das Unionsrecht nur in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten prüfen.(6) Wird daher eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden.(7)

33. Der Gerichtshof ist daher nur für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig, wenn die gegen den Kläger nach Art. 19 Abs. 2 DOPK festgesetzte Haftungsschuld, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, auf der Durchführung von Unionsrecht beruht.

34. Eine Durchführung des Unionsrechts in Gestalt einer Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie liegt hier nicht vor. Im nationalen Recht ist eine allgemeine akzessorische Haftung vorgesehen, wenn ein Organ einer Gesellschaft dieser Vermögen entzieht, so dass die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, ihre Steuerschulden pünktlich zu begleichen. Dies ist sowohl losgelöst von der Art der Steuer, für die gehaftet wird, als auch von der Tatsache, ob der Haftende ein Steuerpflichtiger ist und damit unabhängig von der Mehrwertsteuerrichtlinie.

35. Wie der Gerichtshof jedoch bereits entschieden hat, liegt auch dann eine Durchführung von Unionsrecht vor, wenn durch die Anwendung des nationalen Rechts ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll. (8)

36. Zu prüfen ist daher, ob die Haftung des Klägers nach Art. 19 Abs. 2 DOPK eine solche unionsrechtliche Verpflichtung erfüllen soll. Diese kann sich aus Art. 325 AEUV (dazu unter 1), aus dem SFI-Übereinkommen (dazu unter 2.), aus Art. 205 (dazu unter 3.) oder aus Art. 273 (dazu unter 4.) der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben.

1. Art. 325 AEUV

37. Nach Art. 325 AEUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richtet.(9) Die Mitgliedstaaten müssen eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Union garantieren. Dabei müssen sie auch Eigenmittel beitreiben, die dem Haushalt der Union durch Betrug entzogen wurden.(10)

38. Im Zollrecht erstreckte der Gerichtshof(11) den Anwendungsbereich des Art. 325 AEUV auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die wirksame und vollständige Erhebung der Zölle zu gewährleisten“. Jedoch betraf diese Entscheidung das Unterlassen von wirksamen Zollkontrollen trotz eines bekannten Zoll-Betrugsmodells. Ein Mehrwertsteuer-Betrugsmodell liegt hier aber nicht vor. Dass im vorliegenden Fall wirksame Mehrwertsteuerkontrollen unterlassen wurden, ist auch nicht ersichtlich. Ebenso wenig stellt Art. 19 Abs. 2 DOPK eine Mehrwertsteuerkontrolle dar.

39. Bei der Haftung nach Art. 19 Abs. 2 DOPK handelt es sich auch nicht um eine Maßnahme, die der Bekämpfung einer sonstigen rechtswidrigen Handlung dient, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet. Vielmehr geht es um eine Haftung für eine unangemessene Minderung des Vermögens einer Gesellschaft, die daraufhin bestimmte Schulden (Steuerschulden) nicht mehr vollständig zahlen kann. Dabei handelt die Gesellschaft selbst nicht rechtswidrig, sondern ist lediglich nicht mehr in der Lage, die Steuern zu bezahlen.

40. Das Organ als natürliche Person handelt unredlich (ob damit bereits von rechtswidrigem Handeln gesprochen werden kann, ist eher fraglich), und dies auch „nur“ bezogen auf die finanziellen Interessen der Gesellschaft, weil es sich eine unangemessene Vergütung zulasten des Gesellschaftsvermögens gewährt hat. Es handelt in diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht rechtswidrig in Bezug auf die finanziellen Interessen der Union. Erst mittelbar kann dieses Verhalten unter weiteren Umständen – die Gesellschaft ist später nicht mehr in der Lage, ihre Steuern zu zahlen – Auswirkungen auf das Steueraufkommen (und damit mittelbar auch auf das Mehrwertsteueraufkommen) haben, was dann die Haftungsfolgen auslöst. Allenfalls mittelbar kann eine solche Haftung auch einer Gefährdung des Mehrwertsteueraufkommens entgegenwirken.

41. Dies unterscheidet die vorliegende Konstellation von derjenigen, die dem Urteil Åkerberg Fransson(12) zugrunde lag. Die dort vom Gerichtshof angenommene Rechtsfolge, wonach steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung aufgrund unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer als Durchführung von Art. 325 AEUV anzusehen seien,(13) bezog sich auf die unmittelbare Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug. Im vorliegenden Fall wird jedoch kein Mehrwertsteuerbetrug, sondern unredliches Verhalten zulasten der Gesellschaft (möglicherweise eine Art Untreue) sanktioniert. Mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten in Art. 325 AEUV hat die Haftungsschuld eines unredlichen Organs einer Gesellschaft nach Art. 19 Abs. 2 DOPK demgegenüber nichts zu tun.

2. Das SFI-Übereinkommen

42. Das SFI-Übereinkommen greift aus ähnlichen Gründen nicht. Denn es knüpft ebenfalls an die wirksame Bekämpfung von Betrugshandlungen an. So erwähnt Art. 1 dieses Abkommens ausdrücklich die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Haushalt der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden. Der Begriff „Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens ist dementsprechend zwingend dahin auszulegen, dass er die vorsätzliche Verwendung falscher oder unrichtiger Erklärungen umfasst, die nach der Durchführung des Vorhabens, für das eine Finanzierung gewährt wird, vorgelegt werden.(14)

43. Daran fehlt es hier. Wie bereits oben ausgeführt, hat der Kläger keine solchen Erklärungen abgegeben und dadurch die Mittel aus dem Haushalt der Union rechtswidrig vermindert. Dass er sich als Organ einer Gesellschaft ein unangemessenes Gehalt gewährt und so die finanziellen Interessen der Gesellschaft bzw. deren Vermögen geschädigt hat, ist nicht Gegenstand des SFI-Übereinkommens.

3. Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie

44. Auf den ersten Blick könnte die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene Haftungsschuld jedoch auf Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie beruhen. Dieser sieht nämlich vor, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen (nämlich in den Fällen der Art. 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204) bestimmen können, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.

45. Mit dieser Vorschrift soll der Staatskasse eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer von der in der jeweiligen Situation am besten geeigneten Person gewährleistet werden, und zwar insbesondere dann, wenn sich die Vertragsparteien nicht im selben Mitgliedstaat befinden oder wenn sich der mehrwertsteuerpflichtige Umsatz auf Geschäfte bezieht, deren Besonderheit es gebietet, eine andere Person als die in Art. 193 der Richtlinie genannte zu bestimmen.(15)

46. Eine solche Konstellation liegt hier nicht vor. Dies betonen zu Recht auch die Kommission und Spanien.

47. Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Bestellung eines (externen) Steuervertreters, sofern der Steuerpflichtige nicht im Mitgliedstaat des Leistungsorts ansässig ist, an dem er Umsätze getätigt hat. Der Kläger ist aber kein bestellter Steuervertreter. Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst die Steuerschuld aufgrund eines unberechtigten Ausweises von Mehrwertsteuer in einer Rechnung. Weder der Kläger noch die Gesellschaft haben vorliegend eine solche Rechnung ausgestellt. Art. 202 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst Gegenstände, die sich in Zolllagern befinden bzw. zwischen solchen versendet werden. Darum geht es vorliegend nicht.

48. Die Art. 193 bis 200 hingegen erfassen bestimmte Umsätze (Lieferungen und sonstige Leistungen), die eine Steuerschuld eines Steuerpflichtigen oder bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen zur Folge haben. Bei einem solchen Umsatz kann dann auch eine andere Person als der Steuerschuldner als Haftungsschuldner bestimmt werden. Die Gewährung eines unangemessenen Gehaltes ist aber keine steuerbare und steuerpflichtige Lieferung oder sonstige Leistung, die eine Steuerschuld einer Person zur Folge hat. Ohne eine derartige Steuerschuld existiert kein Steuerschuldner. Dann kann auch keine andere Person als der Steuerschuldner dafür in Haftung genommen werden.

49. Die Voraussetzungen des Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der sich nur auf die in den Art. 193 bis 204 dieser Richtlinie beschriebenen Konstellationen bezieht, liegen also nicht vor. Die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene Haftungsschuld beruht nicht auf Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

4. Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie

50. Damit verbleibt noch Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Danach können die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

51. Daher ist zum einen entscheidend, ob die in Art. 19 Abs. 2 DOPK angeordnete Haftungsschuld eines Organs einer Gesellschaft eine „genaue Erhebung der Steuer“ im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sicherstellt, um Steuerhinterziehungen zu vermeiden (dazu unter b), und zum anderen, ob sich die weiteren Pflichten, von denen Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie spricht, auch auf einen Nichtsteuerpflichtigen – der bislang noch gar keine Pflichten nach der Mehrwertsteuerrichtlinie zu erfüllen hatte – beziehen können (dazu unter a).

a) Weitere Pflichten eines Nichtsteuerpflichtigen?

52. Wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, bezieht sich die mögliche Erweiterung der Pflichten auf solche der Steuerpflichtigen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie. Denn der Vorbehalt der „Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen“ ergibt nur einen Sinn, wenn sich die zusätzlichen Pflichten auf einen (anderen) Steuerpflichtigen beziehen. Zusätzliche Pflichten eines Nichtsteuerpflichtigen, der an einem Umsatz nicht beteiligt ist, könnten per se keine Ungleichbehandlung von Inlandsumsätzen und innergemeinschaftlichen Umsätzen darstellen.

53. Mithin erlaubt Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten nicht, zusätzliche Pflichten für irgendwelche Personen (Arbeitnehmer, Familienangehörige, Nachbarn etc.), die irgendeinen mittelbaren Bezug zur Mehrwertsteuerschuld eines Dritten aufweisen, festzulegen und so den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie auch auf diese zu erweitern.

54. Auch die Formulierung „weitere Pflichten“ (oder auch „andere Pflichten“ in anderen Sprachfassungen) scheint mir schon vorhandene Pflichten im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie vorauszusetzen, die über Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie aus bestimmten Gründen noch ergänzt werden können. Die Kreation neuer erstmaliger Pflichten für Personen, die bislang von der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht erfasst wurden, ermöglicht diese Formulierung meines Erachtens daher nicht.

55. Dieses Ergebnis entspricht der Systematik und dem Telos der Mehrwertsteuerrichtlinie. Denn diese regelt das (materielle) Mehrwertsteuerrecht, d. h. die Entstehung der Mehrwertsteuerschuld bei einem Mehrwertsteuerpflichtigen. Daher setzt der Grundtatbestand (Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie) Lieferungen oder Dienstleistungen eines Steuerpflichtigen voraus. Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert dann, wer ein Steuerpflichtiger ist. Das sind nur Personen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausüben. Darunter fallen angestellte Organe einer Gesellschaft im Grundsatz nicht.(16)

56. Ebenfalls steht Art. 273 im Kapitel 7 (Verschiedenes) des Titels XI mit der Überschrift „Pflichten der steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“. Während Art. 272 ermöglicht, bestimmte Steuerpflichtige von bestimmten Pflichten nach den Kapiteln 2 bis 6 zu befreien, erweitert Art. 273 die Pflichten um weitere/andere Pflichten. Damit können in systematischer Hinsicht nur die vom Titel XI erfassten Pflichten der steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen gemeint sein.

57. Wenn die Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich(17) keine Personen erfasst, die nicht mehrwertsteuerpflichtig sind, dann kann Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten kaum erlauben, besondere (weitere/andere) Pflichten für die von der Mehrwertsteuerrichtlinie bislang nicht erfassten Personen festzulegen, nur weil dies auch der Sicherung des Mehrwertsteueraufkommens und der Vermeidung von Steuerhinterziehungen dient. Dementsprechend betrafen die vom Gerichtshof im Zusammenhang mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie beantworteten Vorabentscheidungsersuchen immer Fälle, in denen einem Steuerpflichtigen zusätzliche Pflichten oder Sanktionen auferlegt wurden.(18)

58. Eine Erweiterung der Pflichten aufgrund von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist allenfalls auf solche Personen möglich, die – obwohl sie keine Steuerpflichtigen sind – dennoch bereits von der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst werden. Ein Beispiel sind nichtsteuerpflichtige juristische Personen, die für Mehrwertsteuerzwecke erfasst sind und daher auch Steuerschuldner werden können (vgl. Art. 197 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie).

59. Dies verdeutlicht auch Art. 273 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Denn die Möglichkeit nach Abs. 1 dieses Artikels darf gleichwohl „nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 [(„Rechnungstellung“) des Titels XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“)] genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen“. Auch die dort erwähnten Pflichten beziehen sich nur auf Steuerpflichtige und bestimmte von der Richtlinie bereits erfasste nichtsteuerpflichtige Personen.

60. Dies gilt insbesondere unter Einbeziehung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Da dieser ausdrücklich nur bestimmte Konstellationen erfasst, kann eine Ausweitung auf andere Konstellationen nur schwerlich mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie begründet werden. So wäre eine parallele Haftungsschuld des Kunden für die Mehrwertsteuerschuld des leistenden Unternehmens zwar auch hilfreich bei der Sicherung des Steueraufkommens und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Gleiches gilt für die Haftung jeden Diebes, dessen Diebstahl zur Folge hat, dass der Bestohlene seine Mehrwertsteuerschulden nicht begleichen kann. Der Wortlaut des Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermöglicht diese Haftung solcher Nichtsteuerpflichtiger jedoch nicht.

b) Haftungsschuld erforderlich für eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Vermeidung der Steuerhinterziehung?

61. Überdies ist schon fraglich, ob die Haftungsschuld nach Art. 19 Abs. 2 DOPK überhaupt geeignet ist, die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.

62. Sie bleibt nämlich eine allgemeine Haftungsschuld – hier sogar einer nichtsteuerpflichtigen Person – für eine fremde Steuer. Damit ist der vom Kläger geschuldete Betrag keine Mehrwertsteuer. Diese schuldet der Steuerpflichtige weiterhin. Das zeigt Art. 21 Abs. 3 DOPK. Danach entfällt die Haftungsschuld, sobald die Steuerschuld erlischt, und bereits gezahlte Beträge werden dem Haftenden zurückerstattet. Mithin lässt die Zahlung des Haftenden die Steuerschuld nicht einmal erlöschen.

63. Wenn der Kläger aber keine Mehrwertsteuer schuldet, kann die Haftungsschuld aus Art. 19 Abs. 2 DOPK auch nicht die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen. Was diese Haftungsschuld sanktionieren bzw. verhindern will, ist eine unredliche Vermögensminderung zulasten der Gesellschaft, die deswegen ihre Schulden (hier Steuerschulden) nicht begleichen kann. Der genauen Mehrwertsteuererhebung steht die Haftung nach Art. 19 Abs. 2 DOPK damit weder entgegen noch ist es dieser förderlich. Denn die Mehrwertsteuer ist weiterhin in genau der gleichen Höhe beim Mehrwertsteuerpflichtigen zu erheben.

64. Darüber hinaus wird durch diese Haftung eines Nichtsteuerpflichtigen auch keine Steuerhinterziehung des Steuerpflichtigen verhindert. Die Haftung knüpft allein an die fehlende Steuerzahlung wegen fehlenden Vermögens des Steuerpflichtigen an. Die bloße Nichtzahlung einer ordnungsgemäß erklärten Steuer ist aber keine Steuerhinterziehung.(19) Auch insoweit liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht vor.

B. Zwischenergebnis

65. Somit führt Art. 19 Abs. 2 DOPK – wie Bulgarien betont hat – nicht Unionsrecht durch. Es wird damit kein Verstoß gegen die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie geahndet, sondern ein Verstoß gegen Treuepflichten gegenüber der Gesellschaft. Dieser Verstoß hat allenfalls mittelbare Auswirkungen auf die Zahlung der Mehrwertsteuer durch einen Dritten.

66. Wie ich aber bereits andernorts ausgeführt habe, genügen nicht jegliche mittelbaren Beziehungen zum Mehrwertsteuerrecht, um den Anwendungsbereich des Unionsrechts zu begründen.(20) Dieser Ansatz entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs der Charta.(21) Auch die Anwendbarkeit der Charta setzt das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraus, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.

67. Folglich ist der Gerichtshof nicht zuständig für die Beantwortung der hier gestellten Fragen. Die allgemeine gesamtschuldnerische Haftung eines Organs einer Gesellschaft (Nichtsteuerpflichtiger im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie) wegen gesellschaftsschädlichen Verhaltens (hier: Gewährung eines Gehaltes in unangemessener Höhe), welches kausal für die Nichtbezahlung fälliger Steuerschulden der Gesellschaft ist, ist nicht Gegenstand der Mehrwertsteuerrichtlinie und fällt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Dies gilt auch, wenn sich unter den nicht oder zu spät bezahlten Steuerschulden der Gesellschaft teilweise Mehrwertsteuerschulden oder Zinsen für zu spät gezahlte Mehrwertsteuerschulden befinden.

C. Hilfsweise: Steht das Unionsrecht einer gesamtschuldnerischen Haftung für Mehrwertsteuerschulden einschließlich der Zinsen entgegen?

68. Sollte der Gerichtshof hingegen der Ansicht sein, dass er für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig ist, weil er die Haftungsschuld nach Art. 19 Abs. 2 DOPK als Durchführung der Mehrwertsteuerrichtlinie versteht, dann können die drei Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts so beantwortet werden: Das Unionsrecht verlangt eine solche Haftungsschuld nicht, steht einer solchen Haftungsschuld aber auch nicht entgegen.

69. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist es im Zusammenhang mit einer Haftung nach Maßgabe des Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie unbedenklich, wenn die Haftung nicht nur auf die Steuerschuld, sondern auch auf Verspätungszinsen eines Dritten erstreckt wird.(22) Auch wenn die gesamtschuldnerische Haftung gemäß Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie nach dessen Wortlaut nur die Entrichtung der Mehrwertsteuer betrifft, verwehre es die Vorschrift den Mitgliedstaaten nicht, der gesamtschuldnerisch haftenden Person sämtliche mit dieser Steuer zusammenhängenden Kosten aufzuerlegen. Darunter fallen auch Verzugszinsen, die der Steuerschuldner aufgrund der Nichtzahlung dieser Steuer schuldet.(23)

70. Dies gilt meines Erachtens – in Übereinstimmung mit der Auffassung der Kommission und Spaniens – auch für den vorliegenden Fall, wenn die zusätzliche Haftungsschuld auf Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie gestützt werden kann. Falls das Organ der Gesellschaft durch sein eigenes Handeln (Gewährung eines unangemessenen Gehalts) kausal bewirkt hat, dass die Gesellschaft ihre Mehrwertsteuerschuld nicht rechtzeitig begleichen konnte, dient eine Haftung für diese unbezahlten Steuern und die dadurch aufgetretene Bereicherung eines Dritten (Zinsvorteil) einem legitimen Ziel (Sicherung des Vermögens der Gesellschaft durch Haftung für die zu zahlenden Steuern samt des damit verbundenen Verzögerungsschadens).

71. Diese Haftung wird auch den übrigen Voraussetzungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit(24) gerecht. Sie ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen, und erforderlich. Ein gleich geeignetes milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Sofern es den dafür Verantwortlichen trifft, der sich selbst durch die Entreicherung der Gesellschaft bereichert hat und dies kausal für die Nichtzahlung von Steuerschuld samt Zinsschuld war, ist eine solche Haftung auch ein angemessenes Mittel.

VI.  Ergebnis


1 Originalsprache: Deutsch.


2 Siehe z. B. die Ausführungen des BVerfG, Urteil vom 24. April 2013, Antiterrordatei (1 BVR 1215/07, BVerfGE 133, 277, ECLI:DE:BVerfG:2013:rs20130424.1bvr121507, Rn. 91). Deutliche Kritik findet sich auch bei Widmann, W., Geltung der EU-Grundrechte-Charta bei der Sanktion mehrwertsteuerlicher Verfehlungen, Umsatzsteuer-Rundschau 2014, S. 5 (S. 6 und 7).


3 Urteil vom 26. Februar 2013 (C‑617/10, EU:C:2013:105).


4 Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für das Streitjahr (2014) geltenden Fassung.


5 ABl. 1995, C 316, S. 48 ff.


6 Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 77), und vom 15. November 2016, Ullens de Schooten (C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 40).


7 Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 22), so auch Beschluss vom 12. Juli 2012, Currà u. a. (C‑466/11, EU:C:2012:465, Rn. 26).


8 Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 28).


9 Urteile vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich (Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung) (C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 208 ff), vom 14. Oktober 2021, Ministerul Lucrărilor Publice, Dezvoltării şi Administraţiei (C‑360/20, EU:C:2021:856, Rn. 36), und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26).


10 Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 32), vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2016, Degano Trasporti (C‑546/14, EU:C:2016:206, Rn. 21).


11 Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich (Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung) (C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 211).


12 Urteil vom 26. Februar 2013 (C‑617/10, EU:C:2013:105).


13 Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27), bestätigt durch Urteile vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 39 ff.), und vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 32 ff.).


14 Urteil vom 14. Oktober 2021, Ministerul Lucrărilor Publice, Dezvoltării şi Administraţiei (C‑360/20, EU:C:2021:856, Rn. 29).


15 In diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 28).


16 Vgl. sogar zu einem nicht angestellten Aufsichtsrat: Urteil vom 13. Juni 2019, IO (Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats) (C‑420/18, EU:C:2019:490).


17 Ausnahmen bestehen z. B. für nichtsteuerpflichtige juristische Personen, da diese z. B. auch innergemeinschaftliche Erwerbe verwirklichen (vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, Art. 20 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie) oder Steuerschuldner der Mehrwertsteuer werden können (vgl. Art. 197 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie).


18 Vgl. Beschluss vom 21. Oktober 2021, EuroChem Agro Hungary (C‑583/20, nicht veröffentlicht, Rn. 25), Urteile vom 15. April 2021, Grupa Warzywna (C‑935/19, EU:C:2021:287, Rn. 24), vom 8. Mai 2019, EN.SA. (C‑712/17, EU:C:2019:374), vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 22 betraf die Sicherheitsleistung durch neue Steuerpflichtige), vom 19. Oktober 2017, Paper Consult (C‑101/16, EU:C:2017:775, Rn. 55), vom 5. Oktober 2016, Maya Marinova (C‑576/15, EU:C:2016:740, Rn. 42), und vom 21. Juni 2012, Mahagében (C‑80/11 und C‑142/11, EU:C:2012:373, Rn. 54 spricht von Wirtschaftsteilnehmern, Rn. 61 von Steuerpflichtigen).


19 Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 39 und 40); siehe dazu auch ausführlich meine Schlussanträge vom 5. Mai 2022 in der Rechtssache HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:364, Nrn. 35 ff.).


20 Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen IN und JM (C‑469/18 und C‑470/18, EU:C:2019:597, Nr. 65). Siehe dazu auch Urteil vom 24. Oktober 2019, Belgische Staat (C‑469/18 und C‑470/18, EU:C:2019:895, Rn. 18).


21 Urteile vom 6. Oktober 2016, Paoletti u. a. (C‑218/15, EU:C:2016:748, Rn. 14), vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 34), und vom 6. März 2014, Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24).


22 Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 40 ff.).


23 Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 42), der von mir vorgeschlagenen engeren Auslegung des Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie – vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:12, Nrn. 31 ff.) – ist der Gerichtshof nicht gefolgt.


24 Exemplarisch: Urteile vom 26. Oktober 2010, Schmelz (C‑97/09, EU:C:2010:632, Rn. 57), und vom 27. Januar 2009, Persche (C‑318/07, EU:C:2009:33, Rn. 52).

 

 

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