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Steuerrecht
16.08.2012
Steuerrecht
FG Münster: Anrechnung auch nicht abgeführter Lohnsteuer

FG Münster, Urteil vom 24.4.2012 - 6 K 1498/11 AO

Sachverhalt

Zu entscheiden ist, ob den Klägern (Kl.) aus der Abrechnung zur Einkommensteuer (ESt) 2008 ein höherer Erstattungsbetrag zusteht, weil in der Lohnsteuer(LSt)-Bescheinigung des Arbeitgebers höhere Steuerabzugsbeträge ausgewiesen sind als sie beim Beklagten (Bekl.) bei der Abrechnung tatsächlich berücksichtigt wurden.

Der Kl. war langjährig bei der Firma I  GmbH angestellt. Durch Anstellungsvertrag vom 01.01.2003 wurde ihm die Leitung des Rechnungswesens übertragen und außerdem die Prokura erteilt. Die Firma I wurde im Februar 2007 insolvent. Eine ihrer Nachfolgefirmen übernahm den Kl. im Rahmen eines Abwicklungsvertrages mit dem Ziel der Beendigung des Anstellungsverhältnisses, die von einem Sozialplan begleitet wurde. Danach trat der Kl. für die Zeit vom 01.08.2008 bis zum 31.07.2009 in die Nachfolgefirma „G GmbH", M, ein. Neben anderen lt. Abwicklungsplan zugesagten Leistungen sollte der Kl. eine Abfindung von brutto 92.612,00 EUR erhalten, die mit der Abrechnung für Juli 2008 fällig war. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Anstellungsvertrag vom 18.12.2002 und auf den Abwicklungsvertrag vom 30.06.2008 Bezug genommen.

Die Abfindung wurde weder zum vorgesehenen Zeitpunkt noch in der vorgesehenen Höhe bezahlt. Vielmehr wurde dem Kl. hierauf am 13.11.2008 einen Teilbetrag von 30.000,00 EUR auf sein Konto überwiesen. Am 24.11.2008 wurden weitere 3.000,00 EUR in bar gezahlt. Dazu erhielt er von seiner Arbeitgeberin eine „Abrechnung der Brutto-Netto-Bezüge für den Monat Oktober 2008" mit einer Nachberechnung für Juli 2008 bzgl. der Abfindung. Diese lautet wie folgt:

Abfindung                                                    92.612,00 EUR

./. LSt                                                        29.670,00 EUR

./. KiSt                                                        2.670,30 EUR

./. Solidaritätszuschlag                                       1.631,85 EUR

Netto-Verdienst                                              58.639,85 EUR

davon ausbezahlt:

Überweisung am 13.11.2008                             30.000,00 EUR

bar erhalten am 24.11.2008                                3.000,00 EUR

Restforderung:                                             25.639,85 EUR

Die Fima G hat am 05.12.2008 ebenfalls einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Die Insolvenz wurde zum 01.02.2009 eröffnet und ist noch nicht abgeschlossen.

Die o.g. Restforderung des Kl. von 25.639,85 EUR wurde nicht ausgezahlt. Vielmehr meldete der Kl. diese Forderung im Insolvenzverfahren an.

In der Steuerbescheinigung 2008 für den Kl. wurde neben geringeren laufenden Arbeitnehmereinkünften auch die Abfindung aufgeführt und zwar in einer Höhe von 92.612,00 EUR. Für diesen Abfindungsbetrag sind lt. Bescheinigung (29.670,00 + 2.670,30 + 1.631,85 =) 33.972,15 EUR Steuerabzugsbeträge einbehalten.

In der ESt-Erklärung für das Jahr 2008 erklärten die Kl. aus dem genannten Arbeitsverhältnis neben einem laufenden Bruttoarbeitslohn, für den entsprechende LSt-Abzugsbeträge einbehalten wurden, 66.972,00 EUR als erhaltene Abfindung. Diese setzt sich aus den an den Kl. gezahlten (30.000,00 + 3.000,00 =) 33.000,00 EUR und den Steuerabzugsbeträgen lt. Steuerbescheinigung i. H. v. insgesamt 33.972,15 EUR zusammen.

Der für den Kl. erklärte Abfindungsbetrag von 66.972,15 EUR fand neben den anderen, von den Kl. erklärten Besteuerungsgrundlagen Eingang in die ESt-Festsetzung für 2008 vom 20.05.2010. Die ESt, die hinsichtlich des Abfindungsbetrages von 66.972,00 EUR nach § 34 Abs. 1 EStG ermäßigt besteuert wurde, wurde für das Jahr 2008 auf 27.146,00 EUR festgesetzt. Auf die festgesetzte ESt und die davon abhängige Kirchensteuer (KiSt) und den Solidaritätszuschlag (Soli) wurden jedoch die Steuerabzugsbeträge nicht in voller Höhe angerechnet. Unter Berufung auf § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG kürzte der Bekl. die zur Abfindung i. H. v. 92.612,00 EUR angemeldeten und bescheinigten Abzugsbeträge (zusammen 33.972,15 EUR) hinsichtlich der LSt auf 21.000,00 EUR, hinsichtlich des Soli auf 1.155,00 EUR und hinsichtlich der KiSt auf 1.890,00 EUR - zusammen 24.045,00 EUR - da nur diese Beträge auf den der Besteuerung zugrunde gelegten Bruttoabfindungsbetrag von 66.972,00 EUR entfielen. Zusammen mit den auf die anderen Einkünfte des Kl. entfallenden Steuerabzugsbeträgen wurden danach 27.146,00 EUR auf die ESt für 2008, 2.442,91 EUR auf die KiSt für 2008 und 1.487,74 EUR auf den Soli für 2008 angerechnet. Danach ergab sich ein Gesamterstattungsbetrag für die Kl. i. H. v. 4.827,92 EUR, der sich zusammensetzt aus 4.203,00 EUR ESt, 21,00 EUR Zinsen zur ESt, 378,04 EUR KiSt und 225,88 EUR Soli.

Auf Antrag der Kl. (vom 02.06.2010) erging am 09.06.2010 zur ESt 2008 ein Abrechnungsbescheid. In ihm sind die festgesetzten Steuerbeträge, die einzubehaltenden Steuerabzugsbeträge und die Erstattungsbeträge aufgeführt, wie sie sich aus dem ESt-Bescheid vom 20.05.2010 unter Berücksichtigung der o.g. Anrechnungsbeträge zzgl. der Zinsen zur ESt ergeben. Da die zu erstattenden Beträge von zusammen 4.827,92 EUR zwischenzeitlich an die Kl. erstattet wurden, werden die zu erstattenden bzw. noch zu entrichtenden Beträge jeweils mit 0,00 EUR angegeben. Der hiergegen gerichtete Einspruch, mit dem die Kl. die Berücksichtigung der vom Arbeitgeber tatsächlich bescheinigten Steuerabzugsbeträge begehren, hatte keinen Erfolg. Er wurde mit EE vom 29.03.2011 als unbegründet zurückgewiesen.

Mit der daraufhin erhobenen Klage verfolgen die Kl. ihr Einspruchsbegehren weiter. Sie verweisen darauf, dass der bisher wegen des Insolvenzverfahrens nicht ausgezahlte Restbetrag der Abfindung erst im Rahmen der Veranlagung des Jahres zu erfassen sei, in dem er nach Abschluss des Insolvenzverfahrens dem Kl. auch zufließe. Dagegen seien die bescheinigten Steuerabzugsbeträge in voller Höhe zu berücksichtigen. Wenn die bescheinigten Steuerabzugsbeträge in voller Höhe als zugeflossen berücksichtigt würden, müssten auch die entsprechenden Steuerabzugsbeträge in voller Höhe berücksichtigt werden. Das ergebe sich aus den Regelungen der §§ 11, 38 a und 40 EStG. Ansonsten würde ein in späteren Veranlagungszeiträumen zufließender Arbeitslohn aus der Abfindung noch besteuert, während eine Anrechnung der Steuerabzugsbeträge im Jahre ihres Einbehaltes nicht mehr vorgenommen werden könne. Zu Unrecht berufe sich der Bekl. auf die Regelung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG und dazu ergangene Rechtsprechung des BFH und der Finanzgerichte. Die Rechtsprechung mit dem Ergebnis einer nur eingeschränkten Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen sei zu Schätzungsfällen ergangen. Mit ihr solle ein Missbrauch ausgeschlossen werden, der dann eintreten könne, wenn Besteuerungsgrundlagen nicht zutreffend erklärt würden, um später nach Bestandskraft der Schätzungsveranlagungen Steuerabzugsbeträge angerechnet zu erhalten, die ihrer Höhe nach nicht den geschätzten Besteuerungsgrundlagen entsprächen. In anderen Fällen, in denen ein derartiger Missbrauch ausgeschlossen sei, müsse eine volle Anrechnung der Steuerabzugsbeträge erfolgen. Dazu zähle auch der Fall des Kl.. Andernfalls hafte dieser faktisch für die vom Arbeitgeber angerechneten Steuerabzugsbeträge, obwohl es allein Sache des Arbeitgebers sei, die einbehaltenden Abzugsbeträge auch tatsächlich an das Finanzamt abzuführen. Ob das im Streitfall in voller Höhe geschehen sei, entziehe sich im Übrigen der Kenntnis der Kl. Feststehe nur, dass die angemeldete Restforderung gegenüber dem Arbeitgeber im Rahmen des Insolvenzverfahrens anerkannt worden sei. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 28.04.2011 verwiesen.

Die Klin. beantragen,

unter Aufhebung der EE vom 29.03.2011 den Abrechnungsbescheid zur ESt 2008 vom 09.06.2010 in der Weise zu ändern, dass die aus der Steuerbescheinigung für 2008 ersichtlichen Steuerabzugsbeträge von 35.815,45 EUR LSt, weiteren 1.964,59 EUR Soli und weiteren 3.223,21 EUR KiSt, insgesamt also 41.003,25 EUR als einbehaltende Steuerabzugsbeträge berücksichtigt werden

und die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Bekl. beantragt,

die Klage abzuweisen.

Unter Bezugnahme auf die EE vom 29.03.2011 trägt er im Wesentlichen vor, dass sich aus § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG eine Begrenzung der anzurechnenden Steuerabzugsbeträge hinsichtlich der Abfindung auf insgesamt 24.045,00 EUR ergebe. Die genannte Regelung lasse eine Anrechnung nur insoweit zu, als Abzugsbeträge auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfielen. Diese Regelung schaffe eine inhaltliche Verknüpfung zwischen dem Steuerfestsetzungsverfahren und dem Steuererhebungsverfahren. Eine Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen könne nicht ohne Bindung an das Veranlagungsverfahren erfolgen. Nur soweit in diesem Verfahren dem Steuerabzug unterliegenden Einkünfte ihrem Umfang nach bei der Veranlagung tatsächlich erfasst worden seien, könnten auch entsprechende Abzugsbeträge angerechnet werden. Es komme nicht auf die Anrechnung einbehaltener Beträge allein an, sondern auch darauf, welcher Teil der Beträge in die Veranlagung Eingang gefunden hätte, für die ein Steuerabzug vorgenommen worden sei. Im Streitfall sei mangels entsprechender Auszahlung durch den Arbeitgeber nicht der volle Abfindungsbetrag von 92.612,00 EUR bei der Steuerfestsetzung für 2008 berücksichtigt worden, sondern lediglich ein Bruttobetrag von 66.972,00 EUR. Auf den letztgenannten Betrag entfielen aber nur Steuerabzugsbeträge von 24.045,00 EUR, davon 21.000,00 EUR LSt, 1.155,00 EUR Soli und 1.890,00 KiSt. Nur insoweit sei daher eine Anrechnung auch geboten. Ergänzend meint der Bekl. darüber hinaus, dass selbst diese Berechnung, die letztlich aus der ESt-Veranlagung für 2008 vom 20.05.2010 abgeleitet sei, zugunsten der Kl. fehlerhaft sei. Bei dieser Veranlagung sei man fälschlicherweise von durch die frühere Arbeitgeberin einbehaltenen und angemeldeten Steuerabzugsbeträgen von insgesamt 33.972,15 EUR ausgegangen. Tatsächlich sei der Steueranmeldung für November 2008 aber nur eine für alle Arbeitnehmer geltende Summe von 18.530,95 EUR zu entnehmen. Die Lohnsteueraußenprüfung habe später für November 2008 höhere an Arbeitnehmer geleistete Auszahlungen festgestellt und diese ihrem Bericht zugrunde gelegt. Der Kl. habe jedoch keine höheren Auszahlungen als 33.000 EUR erhalten. Entweder dieser Betrag oder der hochgerechnete Bruttolohn von 50.532 EUR stelle die Basis für die beim Kl. entstandenen Steuerabzugsbeträge dar. Letzteres mache einen Betrag von (15.155 EUR LSt + 1.393,95 EUR KiSt + 833,53 EUR Soli =) 17.382,48 EUR aus. Die rechtlich entstandene Lohnsteuer sei im Übrigen auch nur zu etwa 56,2% beglichen und zwar durch eine Umbuchung von Steuererstattungsbeträgen auf Lohnsteuerrückstände des Arbeitgebers.                      

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 24.05.2011 und 20.04.2012 und auf die EE vom 29.03.2011 verwiesen.

Im Übrigen wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 24.04.2012 Bezug genommen.

Aus den Gründen

Die Klage ist begründet.

Mit seiner Entscheidung, auch die in der Steuerbescheinigung für 2008 angegebenen Steuerabzugsbeträge in voller Höhe von 33.972,15 EUR zwar einerseits als Arbeitnehmereinkünfte des Kl. der Besteuerung zu unterwerfen, andererseits jedoch eine volle Anrechnung dieser Beträge zu versagen, legt der Bekl. die Regelung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG fehlerhaft aus. Der Kl. ist durch den darauf beruhenden Abrechnungsbescheid zur ESt 2008 vom 09.06.2010 in seinen Rechten verletzt (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Zutreffend gehen die Beteiligten davon aus, dass Fragen der Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen im Rahmen eines Abrechnungsbescheides nach § 218 Abs. 2 AO zu entscheiden sind. Für das Abrechnungsverfahren besteht zwar grundsätzlich eine rechtliche Bindung an die im Abrechnungsteil des ESt-Bescheides vorgenommene Anrechnung von Abzugssteuern. Dieser Teil des Steuerbescheides stellt einen deklaratorischen Verwaltungsakt dar, dessen Bindung jedoch dann entfällt, wenn die dort vorgenommene Anrechnung über die Regelungen der §§ 129 bis 131 AO geändert werden kann. Der so definierte mögliche Erstattungsanspruch ist hinsichtlich der einbehaltenen LSt und der sonstigen Steuerabzugsbeträge ein allgemeiner Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO, der durch die Anrechnungsvorschrift des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG begrenzt ist (BFH-Urteile vom 15.04.1997, VII R 100/96, BStBl II 1997, 787 und vom 19.12.2000, VII R 69/99, BStBl II 2001, 353, 356 f.).

Gem. § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch wenn er unanfechtbar geworden ist, u.a. ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Die bisherige Anrechnungsverfügung im ESt-Bescheid für 2008 vom 20.05.2010 enthält insoweit einen rechtswidrigen Verwaltungsakt, als mit ihm die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen für die Abfindung nicht, wie in der Steuererklärung beantragt, mit insgesamt 33.972,15 EUR - davon 29.670,00 EUR LSt, weitere 2.670,30 EUR für KiSt und weitere 1.631,85 EUR für Soli - sondern lediglich mit insgesamt 24.045,00 EUR - davon 21.000,00 LSt, weitere 1.890,00 EUR für KiSt und weitere 1.155,00 EUR für Soli - berücksichtigt, obwohl auch diese 33.972,15 EUR als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit der Besteuerung unterworfen wurden. Die Versagung der Anrechnung dieser Steuerabzugsbeträge widerspricht, entgegen der Auffassung des Bekl., der Regelung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG.

Nach dieser Regelung wird die durch Steuerabzug erhobene ESt (LSt) angerechnet, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt und nicht die Erstattung beantragt oder durchgeführt worden ist. Entsprechendes gilt für die weiteren, von der Höhe der einbehaltenen LSt abhängigen Steuerabzugsbeträge.

Mit dem in § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG enthaltenen Tatbestandsmerkmal „soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte... entfällt", dessen Auslegung zwischen den Beteiligten streitig ist, nimmt der Gesetzgeber eine inhaltliche Verknüpfung zwischen Festsetzungs- und Erhebungsverfahren vor - sogenanntes Korrespondenzprinzip. Über die Anrechnung und Abrechnung von Steuerabzugsbeträgen ist daher zu entscheiden, ohne das Festsetzungsverfahren im Rahmen dieser Prüfung wieder aufzurollen. Die Regelung enthält den allgemeinen Rechtsgedanken, dass es nicht alleine auf die Anrechnung einbehaltener Beträge ankommt, sondern auch darauf, welcher Teil der Beträge, für die ein Steuerabzug vorgenommen wurde, in die Veranlagung Eingang gefunden hat. Mit dieser Regelung soll aber auch ein der materiellen Rechtslage und der steuerlichen Gerechtigkeit entsprechendes Ergebnis bei der Besteuerung erzielt werden (BFH-Urteil vom 23.05.2000, VII R 3/00, BStBl II 2000, 581). Dementsprechend werden aus dem oben genannten Tatbestandsmerkmal, je nach Fallgestaltung, auch unterschiedliche Anrechnungsergebnisse gerechtfertigt.

In den Fällen, in denen mangels entsprechender Mitwirkung des Steuerpflichtigen eine vollständige Erfassung der Besteuerungsgrundlagen nicht gewährleistet ist, insbesondere also in Schätzungsfällen, wird das Korrespondenzprinzip in strenger Form gehandhabt. Eine Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen erfolgt hier nur in der Höhe, in der auch entsprechende Einkünfte der Besteuerung zugrunde gelegt wurden. Das schließt gegebenenfalls eine Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen gänzlich aus (vgl. in diesem Sinne z.B. BFH-Urteile vom 10.01.1995, VII R 41/94, BFH/NV 1995, 779, vom 19.12.2000, VII R 69/99, BStBl II 2001, 353, BFH-Beschluss vom 03.08.2010, VII B 70/10, BFH/NV 2010, 2274 - dieser Beschluss bestätigt das Einzelrichterurteil des FG Münster vom 13.01.2010, 6 K 4443/07 AO, veröffentlicht in juris - BFH-Urteil vom 09.12.2008, VII R 43/07, BStBl II 2009, 344 und BFH-Beschluss vom 06.08.1996, VII B 110/96, BFH 1997, 106).

In den Fällen, in denen der Finanzbehörde der zu besteuernde Gesamtsachverhalt vollständig bekannt ist, wird das genannte Tatbestandsmerkmal dagegen großzügig im Sinne des Steuerpflichtigen ausgelegt. Das geht sogar so weit, dass dem Steuerpflichtigen ein Anrechnungsanspruch für Steuerabzugsbeträge eingeräumt wird, die der jeweilige Arbeitgeber bescheinigt hat und die dieser irrtümlich oder in Verkennung der Rechtslage angemeldet und abgeführt hat (BFH-Urteile vom 17.06.2009, VI R 46/07, BStBl II 2010, 72 und vom 23.05.2000, VII R 3/00, BStBl II 2000, 581 - anders für zu Unrecht angemeldete und abgeführte LSt noch BFH-Beschluss vom 15.11.1999, VII B 155/99, BFH/NV 2000, 547).

Einigkeit besteht allerdings darin, dass es für die Finanzbehörde im Anrechnungs- und Abrechnungsverfahren keine Bindung an die in einer LSt-Bescheinigung ausgewiesenen Beträge gibt (BFH-Beschluss vom 18.08.2011, VII B 9/11, BFH/NV 2011, 242) - zum Stand der Rechtsprechung der unterschiedlichen Fallgestaltungen mit entsprechend unterschiedlichen Ergebnissen vgl. auch Urteil des FG Hamburg vom 15.06.2011, 3 K 135/10, EFG 2011, 1790; das FG Hamburg meint ein Abrücken des BFH von einer eher formalen Betrachtungsweise des Korrespondenzprinzips feststellen zu können hin zu Ergebnissen, die an einer materiellen Gerechtigkeit orientiert sind.

Im vorliegenden Fall lässt sich das streitige Tatbestandsmerkmal unterschiedlich auslegen.

Legt man, wie der Bekl., den Schwerpunkt darauf, dass die vertraglich den Kl. zustehende Abfindung von 92.612,00 EUR nicht in voller Höhe gezahlt worden ist, gleichwohl aber für diesen Abfindungsbetrag Steuerabzugsbeträge angemeldet und bescheinigt worden sind, erscheint eine verhältnismäßige Reduzierung der Steuerabzugsbeträge im Anrechnungsverfahren vertretbar. Dabei kann an dieser Stelle letztlich offen bleiben, wie das Korrespondenzprinzip, dass die Anrechnungsbeträge den bei der Besteuerung zugrunde gelegten Einkünften entsprechen soll, umzusetzen ist - da über die Anrechnung keine Korrektur der Steuerfestsetzung erfolgen darf, dürften allerdings die ergänzenden Überlegungen des Bekl. zu verwerfen sein, einen niedrigeren fiktiven Bruttoarbeitslohn zum Maßstab zu nehmen als er in der ESt-Festsetzung für 2008 vom 20.05.2010 berücksichtigt wurde oder darauf abzustellen, welche Steuerabzugsbeträge tatsächlich abgeführt wurden.

Berücksichtigt man dagegen, dass der Kl. seiner steuerlichen Mitwirkungspflicht in vollem Umfang nachgekommen ist und dass es sich hier gerade nicht um einen Steuerfall handelt, in dem der Steuerpflichtige aus der Verletzung seiner Mitwirkungspflicht über das Steueranrechnungsverfahren und das Abrechnungsverfahren steuerliche Vorteile erzielen will, erscheint auch eine volle Anrechnung der Steuerabzugsbeträge vertretbar - vgl. in diesem Sinne insbesondere BFH-Urteile vom 17.06.2009, BStBl II 2010, 72 und vom 23.05.2000, BStBl II 2010, 581). Mit dem letztgenannten Urteil räumt der Bundesfinanzhof dem Steuerpflichtigen jedenfalls dann einen Anspruch auf Anrechnung der von seinem Arbeitgeber zuviel gezahlten Steuerabzugsbeträge ein, wenn der Lohnsteuerabzug nach § 41c Abs. 3 EStG nicht mehr geändert werden kann, weil er auch diese Mehrbeträge als steuerpflichtigen Vorteil des Arbeitnehmers ansieht.

Der Senat meint, dass auch in dem hier zu entscheidenden Streitfall eine volle Anrechnung der als Lohn des Kl. (in Form einer Abfindung) bei der Besteuerung erfassten, auf den vollen Abfindungsbetrag entfallenden Lohnsteuer (33.972,15 EUR) sachgerecht ist. Zwar ist dieser Betrag nicht in voller Höhe an das Finanzamt abgeführt worden. Hierauf kommt es jedoch nach dem in § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG geregelten Korrespondenzprinzip nicht an. Auch kann der Wortlaut dieser Regelung so ausgelegt werden, dass Steuerabzugsbeträge, die als Arbeitslohn oder als sonstiger Vorteil Eingang in die Besteuerung gefunden haben, auch in der selben Höhe wiederum als Anrechnungsbeträge auszuweisen sind.

Mit der Entscheidung, für das Streitjahr 2008 eine Gesamtabfindung von 66.972,00 EUR der ESt zu unterwerfen, obwohl lediglich 33.000,00 EUR direkt an den Kl. gezahlt wurden und auch ersichtlich nicht die 33.972,15 EUR Steuerabzugsbeträge abgeführt wurden, hat der Bekl. sich auch in der Anrechnungsfrage dahingehend festgelegt und gebunden, die genannten  Steuerabzugsbeträge als steuerpflichtige Vorteile des Kl. aus seiner früheren Arbeitnehmertätigkeit zu behandeln. Insoweit besteht daher nach Auffassung des Senats auch im Anrechnungsverfahren in der genannten Höhe eine Bindung im Sinne des in § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG geregelten Korrespondenzprinzips. Die streitigen Steuerabzugsbeträge „entfallen" damit in voller Höhe „auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte", wie es von § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG gefordert wird.

Auch ein Vergleich der Interessenlagen dieses Streitfalles mit denen in den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zugunsten der Steuerpflichtigen entschiedenen Anrechnungsfällen unter Einbeziehung der gesetzlichen Regelungen zum Lohnsteuerabzugsverfahren spricht für die vom Senat bevorzugte Auslegung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG.

Es handelt sich hier nicht um einen Schätzungsfall, in dem die in diesen Fällen vorgenommene Auslegung des Tatbestandsmerkmal „soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte... entfällt" auch dazu dient, eine missbräuchliche Ausnutzung der Anrechnungsregelung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG bei zu niedrig geschätzten, dem Steuerabzug unterliegenden Einkünften zu verhindern. Vielmehr hat der Kl. im Streitfall seine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in vollem Umfang offen gelegt. Das gilt auch für die Abfindung. Dem Bekl. war bekannt, dass von der dem Kl. laut Abwicklungsvertrag zustehenden Bruttoabfindung von 92.612 EUR nur 33.000 EUR an den Kl. ausgezahlt wurden und ein verbleibender Nettorestbetrag von 25.936,85 EUR zur Insolvenztabelle angemeldet und dort auch (als berechtigte Forderung) festgestellt worden ist. Damit hatte es der Bekl. selbst in der Hand, durch eine, dieser Situation angepasste andere, etwa auf der Grundlage des Zufluss-Abfluss-Prinzips des § 11 EStG vorgenommene Berechnung, niedrigere Einkünfte des Kl. aus nichtselbständiger Arbeit zu erfassen und dadurch die Anrechnungsentscheidung nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auch anders „vorzuprägen" mit der Folge, dass auch nur niedrigere Steuerabzugsbeträge anzurechnen gewesen wären.

Für eine volle Anrechnung spricht auch, dass hier eine Anmeldung zu Steuerabzugsbeträgen vom früheren Arbeitgeber auch nicht mehr korrigiert werden kann. Der ursprüngliche Rechtsgrund für die Zahlung durch den Arbeitgeber, der in der LSt-Anmeldung liegt, wird steuerrechtlich durch die ESt-Veranlagung ersetzt. Der Arbeitgeber könnte daher auch nicht mehr im Wege der Berichtigung der LSt-Anmeldung überzahlte Beträge zurückerhalten oder Bescheinigungen korrigieren, denn die Berichtigungsmöglichkeit endet mit Ausstellung der LSt-Bescheinigung. Sie ist hier auch deshalb nicht mehr möglich, weil das Dienstverhältnis zum Kl. inzwischen beendet ist und außerdem das Kalenderjahr für den LSt-Abzug abgelaufen ist (§ 41 c Abs. 3 EStG). In dieser Regelung ist ausdrücklich festgeschrieben, dass eventuelle Korrekturen nur noch über den LSt-Jahresausgleich bzw. die ESt-Veranlagung zulässig sind. Der Arbeitgeber erfüllt zwar mit der Anmeldung und Abführung der Abzugsbeträge eine eigene Verpflichtung, geleistet wird jedoch immer auf die Steuerschuld des Arbeitnehmers. Eventuelle Zahlungen erfolgen auf Rechnung des jeweiligen Arbeitnehmers. Aus diesem Grunde gelten eventuelle Überzahlungen des Arbeitgebers zwar nicht als Lohn, aber als anderer Vorteil des Arbeitnehmers i. S. d. § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG (vgl. in diesem Sinne BFH-Urteil vom 17.06.2009, BStBl II 2010, 72). Dieser Grundgedanke, Steuerabzugsbeträge nach ihrer rechtlichen Unabänderbarkeit nicht mehr dem Arbeitgeber, sondern dem Arbeitnehmer zuzuordnen, streitet im vorliegenden Fall auch für die vom Senat getroffene Auslegung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG. Auch wenn hier die (volle) Abführung der Steuerabzugsbeträge fehlt, behandelt der Bekl. durch seine Veranlagungsentscheidung im EST-Bescheid für 2008 vom 20.05.2010 diese Steuerabzugsbeträge in vollem Umfang als zugeflossen. Damit schafft er eine der Überzahlungssituation in der genannten BFH-Entscheidung vom 17.06.2009 (BStBl II 2010, 72) vergleichbare Rechtslage.

Diese steuerliche Zurechnung und Wertung entspricht auch dem Grundgedanken, wie er in § 37 Abs. 2 AO zum Ausdruck kommt, denn nach der dortigen Regelung hat derjenige, auf dessen Rechnung eine Zahlung bewirkt worden ist, einen Anspruch auf Erstattung, sofern diese Zahlung ohne rechtlichen Grund erfolgt ist. Das Anrechnungs- und Abrechnungsverfahren tritt aber als besondere Form des Steuererstattungsverfahrens an die Stelle des allgemeinen Steuererstattungsverfahrens nach § 37 Abs. 2 AO. Würde keine volle Anrechnung erfolgen, würde dem Kl. dieser Erstattungsanspruch, obwohl er ihm formell und materiell zusteht, entzogen, denn der allgemeine Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO wegen Überzahlung von Steuerabzugsbeträgen, die ja die Wirkung von Vorauszahlungen des Arbeitnehmers haben, wird durch das Anrechnungs- und Abrechnungsverfahren unter Berücksichtigung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG begrenzt. Dementsprechend formuliert der BFH in seinem Urteil vom 17.06.2009 (BStBl II 2010, 72) u.a. ausdrücklich: „durch den LSt-Abzug erlangt der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Erstattung oder Anrechnung der einbehaltenen LSt. Zahlt der Arbeitgeber kein Arbeitsentgelt und entrichtet gleichwohl - zu Unrecht LSt - so erlangt der Arbeitnehmer einen Vorteil.... Der Arbeitgeber ist u.a. zur Abführung der LSt verpflichtet (§ 41 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Er handelt hierbei aber für Rechnung des Arbeitnehmers, der Schuldner der LSt ist (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG). Die auf diese Weise erhobene Steuer wird bei der Veranlagung des Arbeitnehmers auf dessen ESt angerechnet (§ 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 EStG). Die hiernach vorgesehene Anrechnung eines vom Arbeitgeber abgeführten LSt-Betrages hängt nicht davon ab, ob die LSt tatsächlich geschuldet wurde und der Arbeitgeber zur Abführung verpflichtet war...".

Die durch die frühere Arbeitgeberin des Kl. bescheinigten Steuerabzugsbeträge sind auch in voller Höhe „durch Steuerabzug erhoben", wie es § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG fordert. Zwar steht fest, dass die Beträge jedenfalls nicht in vollem Umfang an den Bekl. abgeführt wurden. Auch ist noch ein Restbetrag der Abfindung offen - Insolvenzforderung des Kl. in Höhe von 25.936,86 EUR. Der darauf fußende Einwand des Bekl., die Lohnzahlungen an den Kl. müssten als der damaligen Liquiditätslage angepasste entsprechende Kürzung des Lohns und der Abfindung durch den Arbeitgeber behandelt werden, greift jedoch deshalb nicht, weil der Bekl. durch seine Veranlagungsentscheidung im EST-Bescheid für 2008 vom 20.05.2010 diese Steuerabzugsbeträge in vollem Umfang als zugeflossen und damit auch als „durch Steuerabzug erhoben" behandelt hat. Aus diesem Grund ist es auch konsequent, diese Situation gleich zu behandeln mit der eines Steuerpflichtigen, dessen Arbeitgeber die Steuerabzugsbeträge entsprechend einbehalten hat. Mit der Duldung des Einbehalts der LSt-Schuld und der entsprechenden Minderung des Arbeitslohn hat der Arbeitnehmer, hier also der Kl., nämlich grundsätzlich seine Zahlungspflicht erfüllt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kl. positive Kenntnis vom Gegenteil hat, bestehen nicht (vgl. insoweit BFH-Urteil vom 01.04.1999, VII R 51/98, BFH/NV 2000, 46). Würde man im Streitfall trotz voller Einbeziehung der Steuerabzugsbeträge in die Bemessungsgrundlage zur ESt-Festsetzung die volle Anrechnung dieser Steuerabzugsbeträge verweigern, würde dem Kl. außerdem das volle Ausfallrisiko im Insolvenzverfahren seiner früheren Arbeitgeberin hinsichtlich der noch rückständigen, auf ihn entfallenden Steuerabzugsbeträge auferlegt. Wie ausgeführt, widerspricht das den Grundregelungen des Lohnsteuerabzugsverfahrens, denn mit Einbehaltung der LSt-Schuld und der entsprechenden Minderung des Arbeitslohn hat der Arbeitnehmer grundsätzlich seine Zahlungspflicht erfüllt (vgl. insoweit BFH-Urteil vom 01.04.1999, BFH/NV 2000, 46).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung zu ihrer vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 3, § 155 FGO und § 709 ZPO.

Die Revision ist zuzulassen, weil die Sache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Bedeutung und Ausgestaltung des Korrespondenzprinzips des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG ist in Streitfällen, denen insbesondere keine Schätzungen zugrunde liegen, noch nicht völlig geklärt.

Der Beschluss, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären, beruht auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.

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