BVerfG: Kürzung der Entlastung von Entschädigungen für entgangene oder entgehende Einnahmen teilweise verfassungswidrig
Das BVerfG hat im Beschluss vom 7.7.2010 - 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 - entschieden, dass die rückwirkende Anwendung der Fünftel-Regelung nach § 34 Abs. 1 i. V. m. § 52 Abs. 47 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes teilweise verfassungswidrig ist. Es liegt eine „unechte" Rückwirkung vor, soweit die zugrundeliegende Vereinbarung im Zeitpunkt der Verkündung der Neuregelung am 31.3.1999 bereits getroffen war, weil die Anwendung der Fünftel-Regelung insoweit an einen zurückliegenden Sachverhalt anknüpft. Das ist zwar nicht grundsätzlich unzulässig, mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes aber nur vereinbar, wenn die Rückanknüpfung zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Davon ausgehend verstößt die Anwendung der Fünftel-Regelung (anstelle des halben durchschnittlichen Steuersatzes) gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes, soweit sie auch Entschädigungen erfasst, die bereits im Jahr 1998, aber noch vor der Einbringung der Neuregelung in den Bundestag vereinbart oder - falls die Vereinbarung älteren oder jüngeren Datums ist - zumindest noch vor der Verkündung der Neuregelung ausgezahlt wurden.
Der Übergang auf die Fünftel-Regelung führt zu einer Verschlechterung von erheblichem Gewicht. Die vom Gesetzgeber für die Neuregelung angeführten Gründe rechtfertigen es nicht, dies als zumutbar zu bewerten.
Soweit die Entschädigungsvereinbarung dagegen erst nach der Einbringung
der Neuregelung in den Bundestag am 9. November 1998 oder schon vor dem
Jahr 1998 getroffen wurde, ist die rückwirkende Anwendung der
Fünftel-Regelung grundsätzlich nicht zu beanstanden.
Anderes gilt in diesen Fällen aber, wenn die Entschädigung dem
Steuerpflichtigen noch vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 31. März
1999 zugeflossen ist. In dieser Konstellation handelt es sich um
Einkommen, das noch unter der Geltung des alten Rechts erzielt wurde.
Auch wenn das bei Abschluss der Entschädigungsvereinbarung betätigte
Vertrauen nicht uneingeschränkt schutzwürdig war, dürfen
Steuerpflichtige bei ihren Entscheidungen über Sparen, Konsum oder
Investition in jedem Fall darauf vertrauen, dass der Steuergesetzgeber
nicht ohne sachlichen Grund von hinreichendem Gewicht den Nettoertrag
einer bereits zugeflossenen Entschädigung rückwirkend erheblich mindert.
Daran änderte auch das im Zeitpunkt des Zuflusses bereits schwebende
Gesetzgebungsverfahren nichts. Ein laufendes Gesetzgebungsverfahren
führt zwar dazu, dass den Steuerpflichtigen die Abstimmung
zukunftswirksamer Dispositionen auf das künftige Recht eher zuzumuten
ist, kann aber die Gewährleistungsfunktion, die dem geltenden Recht bis
zur Verkündung der Neuregelung zukommt, nicht von vornherein
suspendieren. Auf diese können sich die Steuerpflichtigen auch dann
berufen, wenn die Entschädigung im Hinblick auf die günstigere alte
Rechtslage bewusst bereits im März 1999 ausgezahlt, das
Arbeitsverhältnis aber erst später aufgelöst wurde. Denn es stellt
grundsätzlich keinen Missbrauch dar, sondern gehört zu den legitimen
Dispositionen im grundrechtlich geschützten Bereich der allgemeinen
(wirtschaftlichen) Handlungsfreiheit, wenn Steuerpflichtige darum bemüht
sind, die Vorteile geltenden Rechts mit Blick auf mögliche Nachteile
einer zukünftigen Gesetzeslage für sich zu nutzen.
(PM BVerfG vom 19.8.2010)