KOM: Kommission stellt fest, dass italienische Steuerermäßigungen für Unternehmen in Katastrophengebieten auch nichtgeschädigten Unternehmen zugutekamen
Nach einer eingehenden Untersuchung ist die Europäische Kommission zu dem Ergebnis gelangt, dass bestimmte italienische Maßnahmen zur Senkung der Unternehmenssteuern und Sozialabgaben in von Naturkatastrophen betroffenen Gebieten auch Unternehmen zugutekamen, die durch die Naturkatastrophe keinen Schaden erlitten hatten, bzw. zu einer den entstandenen Schaden übersteigenden Entschädigung führten. Die Kommission und die EU-Beihilfevorschriften unterstützen uneingeschränkt öffentliche Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, die durch Naturkatastrophen Schäden erlitten haben. Wenn derartige Maßnahmen jedoch nicht richtig konzipiert und zugeschnitten sind, können sie Unternehmen einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschaffen und dadurch den Wettbewerb im Binnenmarkt verfälschen, was nach den EU-Beihilfevorschriften nicht zulässig ist.
Im Jahr 2011 wurde die Kommission durch das Ersuchen eines italienischen Gerichts auf verschiedene Maßnahmen aufmerksam, die Italien zwischen 2002 und 2011 eingeführt hatte, um Unternehmen in von Naturkatastrophen betroffenen Gebieten durch eine Senkung der Steuern und Sozialabgaben zu entlasten. Die Maßnahmen betrafen insbesondere sechs Naturkatastrophen, die sich in Italien zwischen 1990 und 2009 ereignet hatten. Die Kommission leitete im Oktober 2012 ein förmliches Prüfverfahren ein, um festzustellen, ob diese Maßnahmen mit den EU-Beihilfevorschriften im Einklang standen.
Die Kommission erkennt voll und ganz an, dass der Staat in Katastrophengebieten eingreifen muss, und weiß, wie wichtig es ist, das soziale und wirtschaftliche Umfeld lokal zu unterstützen. Nach den EU-Beihilfevorschriften ist es den Mitgliedstaaten ausdrücklich erlaubt, Unternehmen einen Ausgleich für die infolge von Naturkatastrophen tatsächlich erlittenen Schäden zu gewähren, und die Vorschriften lassen ihnen dabei einen großen Gestaltungsspielraum.
Die Untersuchung der Kommission ergab jedoch, dass die geprüften italienischen Maßnahmen nicht präzise genug darauf ausgerichtet waren, Unternehmen einen Ausgleich für durch Naturkatastrophen entstandene Schäden zu gewähren. Insbesondere wurde Folgendes festgestellt:
- Im Rahmen der Maßnahmen (mit Ausnahme der Maßnahme in Bezug auf die Überschwemmungen in Norditalien von 1994) wurde von den Unternehmen nicht verlangt nachzuweisen, dass sie überhaupt einen Schaden erlitten hatten. Jedes in einem Katastrophengebiet ansässige Unternehmen konnte die Beihilfen in Anspruch nehmen, unabhängig davon, ob es infolge einer bestimmten Naturkatastrophe tatsächlich einen Schaden erlitten hatte. Demnach wäre auch ein in dem betreffenden Gebiet registriertes Unternehmen, das dort weder physisch präsent war noch eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübte, für eine Beihilfe in Frage gekommen.
- Die Unternehmen mussten auch nicht darlegen, wie hoch der erlittene Schaden war; der Beihilfebetrag hing also nicht vom tatsächlichen Umfang des Schadens ab.
Infolgedessen wurde einigen Unternehmen, die keinen Schaden erlitten hatten, ein Ausgleich gewährt, und anderen eine Entschädigung, die höher war als der Schadensbetrag. Dadurch erhielten die betreffenden Unternehmen einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerbern, die ohne eine solche öffentliche Finanzierung auskommen mussten. Dies stellt nach EU-Recht eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe dar.
Mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfen sind nach den EU-Beihilfevorschriften grundsätzlich zurückzufordern, um die durch die Beihilfen verursachten Wettbewerbsverfälschungen zu verringern. Im vorliegenden Fall verlangt die Kommission nicht, dass die Beihilfen im Zusammenhang mit den Naturkatastrophen, die mehr als zehn Jahre zurückliegen (d. h. alle außer dem Erdbeben in den Abruzzen von 2009), von Unternehmen, die im Katastrophengebiet eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten, zurückgefordert werden. Denn in Italien sind Unternehmen nicht verpflichtet, Aufzeichnungen mehr als zehn Jahre lang aufzubewahren, so dass nicht mehr festgestellt werden kann, wie hoch eine etwaige Überkompensation im Falle von Unternehmen mit wirtschaftlicher Tätigkeit in dem betroffenen Gebiet war.
Dies bedeutet, dass die italienischen Behörden nach dem Beschluss der Kommission mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfen, die im Rahmen der geprüften Maßnahmen ausgezahlt wurden, nur dann zurückfordern müssen, wenn der Empfänger überhaupt keinen Schaden erlitten haben kann, weil er in dem Gebiet keine Wirtschaftstätigkeit ausgeübt hat. Im Falle der jüngsten Maßnahme im Zusammenhang mit dem Erdbeben in den Abruzzen von 2009 müssen die italienischen Behörden auch etwaige zu viel gezahlte Beträge von den Unternehmen zurückfordern. In beiden Fällen ist eine Rückforderung jedoch nur dann erforderlich, wenn die mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe für ein Unternehmen so hoch ist, dass eine Wettbewerbsverfälschung möglich ist, und wenn sie nicht unter eine andere genehmigte oder freigestellte Beihilfemaßnahme fällt.
Hintergrund
Die Untersuchung der Kommission betraf eine Reihe von Gesetzen, die Italien im Zusammenhang mit Naturkatastrophen erlassen, vor ihrer Durchführung jedoch nicht bei der Kommission angemeldet hatte:
- Nach dem Erdbeben auf Sizilien von 1990 und den Überschwemmungen in Norditalien von 1994 ermöglichten die italienischen Behörden es den Unternehmen, die Zahlung von Steuern und gesetzlichen Beiträgen zur Sozialversicherung und zur Versicherung gegen Berufskrankheiten auszusetzen und aufzuschieben, sofern sie in den von den Naturkatastrophen betroffenen Gebieten ansässig waren.
Mit zwischen 2002 und 2005 verabschiedeten italienischen Rechtsvorschriften wurden Aussetzung und Aufschub in Amnestiemaßnahmen umgewandelt, durch die sich die ausstehenden Steuer- und Beitragsschulden der betreffenden Unternehmen um 90 % verringerten. Später entschied der Oberste Gerichtshof Italiens, dass alle von den Naturkatastrophen auf Sizilien und in Norditalien betroffenen Unternehmen Anspruch auf die 90%ige Ermäßigung der Steuern und Sozialabgaben haben, und zwar auch dann, wenn die Zahlungen bereits geleistet wurden. Dies führte dazu, dass Hunderte von Unternehmen die Rückzahlung von Steuer- und Sozialabgabenbeträgen beantragten, die sie ordnungsgemäß entrichtet hatten. Bis heute sind noch Hunderte solcher Verfahren bei italienischen Gerichten anhängig.
- Zwischen 2007 und 2011 beschloss Italien ähnliche Maßnahmen im Zusammenhang mit den Erdbeben in Umbrien und den Marken (1997), Molise und Apulien (2002) sowie den Abruzzen (2009). Durch diese Maßnahmen wurden die von den Unternehmen in den betroffenen Gebieten geschuldeten Steuer- und Sozialabgabenbeträge um 60 % ermäßigt.
- Eine weitere vergleichbare Maßnahme sah vor, die Abgabenschulden von Unternehmen in dem Gebiet, das von dem Vulkanausbruch und dem Erdbeben auf Sizilien (2002) betroffen war, um 50 % zu verringern.
Für einige dieser Katastrophengebiete hatte die Kommission zuvor gesonderte Entschädigungsregelungen genehmigt, die Italien ordnungsgemäß bei der Kommission angemeldet hatte. Dies war zum Beispiel beim Erdbeben in Molise von 2002 (N174a/2004) und beim Erdbeben in den Abruzzen von 2009 (N459a/2009) der Fall. Diese Regelungen stehen mit den EU-Beihilfevorschriften im Einklang, da sie es dem Mitgliedstaat ermöglichen, Beihilfen als Ausgleich für den durch die Naturkatastrophen tatsächlich verursachten Schaden zu gewähren, und sind daher von dem heutigen Beschluss nicht betroffen.
(PM vom 14.8.2015)