BVerfG: Einheitsbewertung von Grundvermögen verfassungswidrig
Das BVerfG hat mit Urteil vom 10.4.2018 – 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12 - entschieden:
1. Der Gesetzgeber hat bei der Wahl der Bemessungsgrundlage und bei der Ausgestaltung der Bewertungsregeln einer Steuer einen großen Spielraum, solange sie geeignet sind, den Belastungsgrund der Steuer zu erfassen und dabei die Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitätsgerecht abzubilden.
2. Ermöglichen Bewertungsregeln ganz generell keine in ihrer Relation realitätsnahe Bewertung, rechtfertigt selbst die Vermeidung eines noch so großen Verwaltungsaufwands nicht ihre Verwendung. Auch die geringe Höhe einer Steuer rechtfertigt die Verwendung solcher realitätsfernen Bewertungsregeln nicht.
3. Das Aussetzen der im Recht der Einheitsbewertung ursprünglich vorgesehenen periodischen Hauptfeststellung seit dem Jahr 1964 führt bei der Grundsteuer zwangsläufig in zunehmendem Umfang zu Ungleichbehandlungen durch Wertverzerrungen, die jedenfalls seit dem Jahr 2002 weder durch den vermiedenen Aufwand neuer Hauptfeststellungen noch durch geringe Höhe der individuellen Steuerlast noch durch Praktikabilitätserwägungen gerechtfertigt sind.
(Amtliche Leitsätze)
→ Die Regelungen des Bewertungsgesetzes zur Einheitsbewertung von Grundvermögen in den „alten“ Bundesländern sind jedenfalls seit dem Beginn des Jahres 2002 mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar. Das Festhalten des Gesetzgebers an dem Hauptfeststellungszeitpunkt von 1964 führt zu gravierenden und umfassenden Ungleichbehandlungen bei der Bewertung von Grundvermögen, für die es keine ausreichende Rechtfertigung gibt. Der Gesetzgeber muss eine Neuregelung bis spätestens 31.12.2019 treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen die verfassungswidrigen Regeln weiter angewandt werden. Nach Verkündung einer Neuregelung dürfen sie für weitere fünf Jahre ab der Verkündung, längstens aber bis zum 31.12.2024 angewandt werden. Dies ist– so das BVerfG – durch die besondere Sachgesetzlichkeit der Grundsteuer geboten, da es zur bundesweiten Neubewertung aller Grundstücke eines außergewöhnlichen Umsetzungsaufwands im Hinblick auf Zeit und Personal bedarf.
Die Aussetzung einer erneuten Hauptfeststellung über einen langen Zeitraum führt systembedingt in erheblichem Umfang zu Ungleichbehandlungen durch ungleiche Bewertungsergebnisse. Infolge der Anknüpfung an die Wertverhältnisse zum 1.1.1964 spiegeln sich die wertverzerrenden Auswirkungen des überlangen Hauptfeststellungszeitraums in den einzelnen Bewertungselementen sowohl des Ertragswert- als auch des Sachwertverfahrens wider.
Diese Hauptfeststellung soll gem. § 21 Abs. 1 BewG alle sechs Jahre für bebaute und unbebaute Grundstücke erfolgen, damit Einheitswerte ermittelt werden können, die dem Verkehrswert der Grundstücke zumindest nahekommen. Der Verkehrswert ist in diesem System die Bezugsgröße, an der sich die Ergebnisse der Einheitsbewertung im Hinblick auf Art und Umfang etwaiger Abweichungen zur Beurteilung einer gleichheitsgerechten Besteuerung messen lassen müssen. Seit 1964 ist keine Hauptfeststellung mehr erfolgt, was in zunehmendem Maße zu Wertverzerrungen innerhalb des Grundvermögens führte. Die gesetzlich vorgesehene periodische Wiederholung der Hauptfeststellung ist zentral für das vom Gesetzgeber selbst so gestaltete Bewertungssystem. Würden die Einheitswerte in allen Fällen gleichmäßig hinter steigenden Verkehrswerten zurückbleiben, bestünde keine Ungleichbehandlung, da die Relation zum Verkehrswert gleich bliebe. Dafür, dass sich die in zunehmendem Maß auftretenden Wertverzerrungen in einer gleichmäßigen Relation zum Verkehrswert bewegten, gibt es keine Anhaltspunkte. Trotz des weiten Gestaltungsspielraums für den Gesetzgeber gibt es für die Vereinbarkeit der Ungleichbehandlungen bei der Erhebung der Grundsteuer gem. Art. 3 Abs. 1 GG keine ausreichende Rechtfertigung – weder aus dem Ziel der Vermeidung allzu großen Verwaltungsaufwands noch aus Gründen der Typisierung und Pauschalierung.
Die Erkenntnis, eine in einem Steuergesetz strukturell angelegte Ungleichbehandlung könne nicht mit vertretbarem Verwaltungsaufwand beseitigt werden, darf nicht zur Tolerierung des verfassungswidrigen Zustands führen. Entscheidend ist die Dysfunktionalität der verbleibenden Regelung. Das gegenwärtige System der Einheitsbewertung orientiert sich mit dem Verzicht auf weitere Hauptfeststellungen nicht realitätsgerecht am typischen Fall. Die Wertverzerrungen sind keineswegs auf atypische Sonderfälle oder vernachlässigbare Korrekturen im Randbereich beschränkt, sondern betreffen die Wertfeststellung im Kern und sind in weiten Bereichen zum Regelfall geworden.
Weder eine gemessen am Verkehrswert generelle Unterbewertung des Grundvermögens noch die vermeintlich absolut geringe Belastungswirkung der Grundsteuer vermögen die Wertverzerrungen zu rechtfertigen. Dagegen spricht schon das Gesamtaufkommen der Grundsteuer, das zuletzt auf knapp 14 Mrd. Euro angestiegen ist, und seine erhebliche finanzielle Bedeutung für die Kommunen. Die Wertverzerrungen können nicht durch Nachfeststellungen oder Wertfortschreibungen und auch nicht durch Anpassung der Grundsteuerhöhe über die Hebesätze verfassungsrechtlich kompensiert werden.
(Quelle: PM BVerfG vom 10.4.2018)