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Steuerrecht
07.03.2024
Steuerrecht
EuGH-Schlussanträge: Belgian Association of Tax Lawyers gegen Premier ministre/Eerste Minister, Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, DAC 6-Richtlinie (Belgisches Vorabentscheidungsersuchen)

GA Emiliou, Schlussanträge vom 29.2.2024 – C-623/22

ECLI:EU:C:2024:189

Volltext BB-Online BBL2024-597-1

 

Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen dahin zu beantworten, dass die Prüfung dieser Fragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen in Frage stellen könnte.

 

I. Einleitung

1. Während Steuerhinterziehung, Steuerbetrug und Steuermissbrauch seit jeher zu den größten Sorgen einer jeden Regierung gehören, sind Strategien der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (base erosion and profit shifting, BEPS) noch ein relativ neues Phänomen. Bei diesen Strategien handelt es sich im Wesentlichen um aggressive internationale Steuerplanungsstrategien, die Lücken und Inkongruenzen in Steuervorschriften ausnutzen, um Gewinne künstlich an Orte zu verlagern, an denen sie keiner oder einer niedrigeren Besteuerung unterliegen, so dass wenig oder überhaupt keine Steuern entrichtet werden und den Regierungen erhebliche Einnahmeverluste entstehen(2).

 

2. Die zunehmenden Auswirkungen dieser Strategien auf die öffentlichen Haushalte, die auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen sind, zu denen eine höhere Mobilität, globale Wertschöpfungsketten und die Digitalisierung der Wirtschaft gehören, sowie das stärkere Bewusstsein der Bürger, die die Gerechtigkeit und Integrität der Steuersysteme durch sie beeinträchtigt sehen, haben sowohl auf der globalen Ebene als auch innerhalb der Europäischen Union zu Diskussionen darüber geführt, wie Regierungen auf dieses Phänomen reagieren sollten.

 

3. Eines der wichtigsten Instrumente, die die Europäische Union in diesem Zusammenhang erlassen hat, ist die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen(3). Mit der Richtlinie 2018/822 wird im Wesentlichen eine verpflichtende Offenlegungsregelung für Intermediäre und Steuerpflichtige eingeführt, die mit einem automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten bei potenziell „aggressiven“ grenzüberschreitenden Steuergestaltungen verknüpft ist(4).

 

4. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof aufgefordert, die Rechtmäßigkeit dieser Regelung zu überprüfen. Mit den fünf von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) vorgelegten Fragen werden nämlich verschiedene Rechtsfragen in diesem Zusammenhang aufgeworfen. Einige dieser Fragen betreffen spezifische Aspekte der Richtlinie 2018/822, während andere allgemeinere Fragestellungen berühren, u. a. vor allem, ob der Eingriff in das Privatleben der Personen, die verpflichtet sind, den zuständigen Behörden die relevanten Informationen vorzulegen, gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstößt.

 

II.  Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Mit der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG(5) wurde ein System der sicheren Verwaltungszusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten eingeführt und die Regeln und Verfahren für den Informationsaustausch für steuerliche Zwecke festgelegt.

6. Die Richtlinie 2011/16 wurde mehrfach geändert, u. a., wie erwähnt, durch die Richtlinie 2018/822(6).

7. In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8 und 9 der Richtlinie 2018/822 heißt es(7):

„(2) Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken. Infolgedessen kommt es häufig zu einem beträchtlichen Rückgang der Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten, was diese wiederum daran hindert, eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik zu verfolgen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. …

 

(4) … [D]ie Kommission [wurde] ersucht, Initiativen zur verpflichtenden Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen entsprechend dem Aktionspunkt 12 des OECD-Projekts zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) einzuleiten. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Parlament zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen, die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können. …

(6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden über bestimmte grenzüberschreitende Gestaltungen zu informieren, die möglicherweise für aggressive Steuerplanung genutzt werden könnten, einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. Im Hinblick auf umfassendere politische Maßnahmen wäre es in einem zweiten Schritt außerdem erforderlich, dass die Steuerbehörden nach der Meldung die Informationen mit ihren Amtskollegen in anderen Mitgliedstaaten teilen. …

(8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. … Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.

(9) Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ‚Kennzeichen‘ bezeichnet.

…“

8. Art. 3 der Richtlinie 2011/16 enthält die „Begriffsbestimmungen“, u. a. der „grenzüberschreitenden Gestaltungen“ (Nr. 18), der „Kennzeichen“ (Nr. 20), des „Intermediärs“ (Nr. 21), des „verbundenen Unternehmens“ (Nr. 23), der „marktfähigen Gestaltung“ (Nr. 24) und der „maßgeschneiderten Gestaltung“ (Nr. 25).

9. Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 („Umfang und Voraussetzungen des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“) bestimmt:

„(1) Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen beginnend

a) an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder

b) an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder

c) wenn der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde,

je nachdem, was früher eintritt.

Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.

(5) Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.

Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.

(6) Für den Fall, dass kein Intermediär existiert oder der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung gemäß Absatz 5 unterrichtet, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen unterrichteten Intermediär oder, falls kein solcher existiert, dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt.

(7) Der relevante Steuerpflichtige, dem die Meldepflicht obliegt, legt die Informationen innerhalb von 30 Tagen vor, beginnend an dem Tag, nach dem ihm die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder … zur Umsetzung durch den relevanten Steuerpflichtigen bereit ist oder wenn der erste Schritt [zu ihrer] Umsetzung im Zusammenhang mit dem relevanten Steuerpflichtigen gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.

(14) Die von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 13 zu übermittelnden Informationen umfassen soweit anwendbar Folgendes:

a) die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit und der STEUERIDENTIFIKATIONSNUMMER sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten;

b) Einzelheiten zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen, die bewirken, dass die grenzüberschreitende Gestaltung meldepflichtig ist;

c) eine Zusammenfassung des Inhalts der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich eines Verweises auf die Bezeichnung, unter der [sie] allgemein bekannt ist, und einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens oder von Informationen führt, deren Preisgabe die öffentliche Ordnung verletzen würde;

d) das Datum, an dem der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde oder gemacht werden wird;

e) Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die die Grundlage der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung bilden;

f) den Wert der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung;

g) die Angabe des Mitgliedstaats des/der relevanten Steuerpflichtigen und aller anderen Mitgliedstaaten, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind;

h) Angaben zu allen anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind, einschließlich Angaben darüber, zu welchen Mitgliedstaaten sie in Beziehung stehen.“

10. Art. 25a („Sanktionen“) der Richtlinie 2011/16 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie im Hinblick auf die Artikel 8aa, 8ab und 8ac erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

 

11. Anhang IV der Richtlinie 2011/16 hat die Überschrift „Kennzeichen“. Anhang IV Teil I („‚Main benefit‘-Test“) lautet:

„Allgemeine Kennzeichen gemäß Kategorie A und spezifische Kennzeichen gemäß Kategorie B und gemäß Kategorie C Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i, Buchstabe c und Buchstabe d können nur berücksichtigt werden, wenn sie das Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests erfüllen.

Dieser Test gilt als erfüllt, wenn festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist.

Bezüglich der Kennzeichen gemäß Kategorie C Absatz 1 kann die Erfüllung der in Kategorie C Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i, Buchstabe c oder Buchstabe d dargelegten Bedingungen nicht allein der Grund für die Feststellung sein, dass eine Gestaltung das Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests erfüllt.“

Anhang IV Teil II enthält folgende „Kategorien von Kennzeichen“: A. Allgemeine Kennzeichen in Verbindung mit dem „Main benefit“-Test; B. Spezifische Kennzeichen in Verbindung mit dem „Main benefit“-Test; C. Spezifische Kennzeichen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Transaktionen; D. Spezifische Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer; und E. Spezifische Kennzeichen hinsichtlich der Verrechnungspreisgestaltung.

 

B. Nationales Recht

12. Das Königreich Belgien hat die Richtlinie 2018/822 durch ein Gesetz vom 20. Dezember 2019(8) umgesetzt.

 

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13. Die Belgian Association of Tax Lawyers (im Folgenden: BATL), der Ordre des barreaux francophones et germanophone (im Folgenden: OBFG), der Orde van Vlaamse Balies u. a. (im Folgenden: OVBO), das Institut des conseillers fiscaux et des experts-comptables (im Folgenden: ICFC) (zusammen im Folgenden: Kläger des Ausgangsverfahrens) haben bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) Klage mit dem Antrag erhoben, das Gesetz vom 20. Dezember 2019 auszusetzen und ganz oder teilweise für nichtig zu erklären, weil dieses Gesetz eine Richtlinie umsetze, die ganz oder teilweise rechtswidrig sei. Die Richtlinie 2018/822 verstoße gegen mehrere Bestimmungen der Charta und allgemeine Grundsätze des Unionsrechts.

 

14. Die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) hat aufgrund von Zweifeln im Hinblick auf die richtige Auslegung bestimmter Bestimmungen der Charta und allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1) Verstößt die Richtlinie 2018/822 insoweit gegen Art. 6 Abs. 3 EUV und die Art. 20 und 21 der Charta, insbesondere gegen den durch diese Bestimmungen garantierten Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, als die Richtlinie 2018/822 die Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen nicht auf die Körperschaftsteuer beschränkt, sondern für alle Steuern anwendbar macht, die in den Geltungsbereich der Richtlinie 2011/16/EU fallen, was im belgischen Recht nicht nur die Körperschaftsteuer, sondern auch andere direkte Steuern als die Körperschaftsteuer und indirekte Steuern wie die Registrierungsgebühren einschließt?

2) Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen den in Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) garantierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen, verstößt sie gegen den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit und verletzt sie das in Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens, indem die Begriffe „Gestaltung“ (und damit auch die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“), „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“, das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“ und der „,Main benefit‘-Test“, die die Richtlinie 2018/822 zur Bestimmung des Anwendungsbereichs und des Umfangs der Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen verwendet, nicht hinreichend klar und genau sind?

3) Verstößt die Richtlinie 2018/822, insbesondere durch die Einfügung von Art. 8ab Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2011/16, gegen den durch Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 7 Abs. 1 EMRK garantierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und verletzt sie das in Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens, indem sie den Beginn der Frist von 30 Tagen, innerhalb derer der Intermediär oder der relevante Steuerpflichtige der Meldepflicht für eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung nachkommen muss, nicht hinreichend klar und genau festlegt?

4. Verstößt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 gegen das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens, soweit der neue Art. 8ab Abs. 5, den er in die Richtlinie 2011/16 eingefügt hat, vorsieht, dass, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde, dieser Mitgliedstaat gehalten ist, diese Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten zu unterrichten, soweit diese Verpflichtung dazu führt, dass ein Intermediär, der nach dem Recht dieses Mitgliedstaats einem strafbewehrten Berufsgeheimnis unterliegt, verpflichtet ist, mit einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, Informationen zu teilen, von denen er bei der Ausübung seines Berufs Kenntnis erlangt?

5. Verstößt die Richtlinie 2018/822 insoweit gegen das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens, als die Verpflichtung zur Meldung meldepflichtiger grenzüberschreitender Gestaltungen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens der Intermediäre und der relevanten Steuerpflichtigen zur Folge hätte, der nicht hinreichend gerechtfertigt und im Hinblick auf die verfolgten Ziele verhältnismäßig wäre und im Hinblick auf das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, nicht sachdienlich wäre?

 

15. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, der Conseil national des barreaux de France, die belgische, die tschechische, die spanische und die polnische Regierung sowie der Rat und die Kommission haben im vorliegenden Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht. Die vorgenannten Beteiligten haben, mit Ausnahme der tschechischen Regierung, auch in der Sitzung vom 30. November 2023 mündliche Ausführungen gemacht.

16. Der Rat und die Kommission haben mit Schreiben vom 20. Oktober 2023 eine Frage des Gerichtshofs beantwortet und hierzu Angaben zu den Mitgliedstaaten vorgelegt, die nach Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 Maßnahmen ergriffen haben, mit denen bestimmten Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung gewährt wird, um eine ihnen nach nationalem Recht zuerkannte gesetzliche Verschwiegenheitspflicht zu wahren.

 

IV.  Würdigung

17. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof mit seinen Fragen, anhand verschiedener, in der Unionsrechtsordnung anerkannter allgemeiner Grundsätze und Grundrechte die Gültigkeit der Richtlinie 2018/822 zu überprüfen, mit der die Richtlinie 2011/16 dahin geändert wird, dass für bestimmte Intermediäre und Steuerpflichtige die Pflicht eingeführt wird, den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen zu melden (im Folgenden: Meldepflicht).

18. Die fünf Vorlagefragen betreffen verschiedene Aspekte des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems. Insoweit möchte ich vorab darauf hinweisen, dass meine Würdigung sich streng auf diejenigen Aspekte der Richtlinie 2018/822 beschränken wird, die das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung als potenziell problematisch angesehen hat. Ein Ansatz der gerichtlichen Zurückhaltung erscheint mir in der vorliegenden Rechtssache insbesondere auch im Hinblick darauf geboten, dass bestimmte Fragen weit formuliert sind und das gegen die Rechtmäßigkeit der Richtlinie 2018/822 gerichtete Vorbringen der Kläger des Ausgangsverfahrens sich nicht immer daran ausrichtet, was Gegenstand der vom vorlegenden Gericht tatsächlich aufgeworfenen Fragestellungen ist.

 

A. Erste Frage: Sachlicher Anwendungsbereich der Meldepflicht und Gleichheitsgrundsatz

19. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die Richtlinie 2018/822 deshalb gegen die durch die Art. 20 und 21 der Charta garantierten Grundsätze der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung verstößt, weil sie eine Meldepflicht für grenzüberschreitende Gestaltungen einführt, die sich nicht auf die Körperschaftsteuer beschränkt.

 

20. Nach Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/16 gelten ihre Bestimmungen – und damit auch die in Art. 8ab vorgesehene Meldepflicht – für „Steuern aller Art, die von einem oder für einen Mitgliedstaat bzw. von oder für gebiets- oder verwaltungsmäßige Gliederungseinheiten eines Mitgliedstaats, einschließlich der lokalen Behörden, erhoben werden“, und nicht für „die Mehrwertsteuer und Zölle oder für Verbrauchsteuern, die in anderen Rechtsvorschriften der Union über die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten erfasst sind [und] auch nicht für Pflichtbeiträge zu Sozialversicherungen“.

 

21. Zunächst erscheint insoweit der Hinweis angebracht, dass die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung allgemein zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Grundsatz der Nichtdiskriminierung ein Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Nach dem Unionsrecht ist die „Nichtdiskriminierung“ jedoch ein recht spezifischer Begriff: Er betrifft die unterschiedliche Behandlung aus bestimmten spezifischen, verbotenen Gründen, insbesondere denjenigen nach Art. 21 der Charta (Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, ethnische oder soziale Herkunft, genetische Merkmale, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt, Behinderung, Alter oder sexuelle Ausrichtung) oder nach Art. 18 AEUV (Staatsangehörigkeit)(9). Vor diesem Hintergrund dürften die Zweifel des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf den Anwendungsbereich der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Meldepflicht sich meines Erachtens auf einen möglichen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung beziehen.

 

22. Nach ständiger Rechtsprechung besagt der Gleichheitsgrundsatz, der zu den fundamentalen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist(10). Die Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte ist in Anbetracht aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den diese Maßnahme fällt(11).

 

23. Zur gerichtlichen Überprüfung der Vereinbarkeit von Unionsvorschriften mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Gesetzgeber bei der Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse über ein weites Ermessen verfügt, wenn er in einem Bereich tätig wird, in dem politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen zu treffen sind und von ihm komplexe Beurteilungen und Bewertungen verlangt werden (was beim Erlass von Maßnahmen des Unionsgesetzgebers im Bereich der Besteuerung typischerweise der Fall ist(12)). Eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme kann somit nur dann rechtswidrig sein, wenn sie zur Erreichung des von den zuständigen Organen verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet ist(13).

 

24. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts zu klären ist, ob der Unionsgesetzgeber in Anbetracht insbesondere des Ziels und Zwecks der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Regelungen mit der Erstreckung der Geltung der Meldepflicht auf alle in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/16 fallenden Steuern seinen Wertungsspielraum dadurch überschritten hat, dass er unterschiedliche Sachverhalte ohne objektive Rechtfertigung gleich behandelt hat.

 

25. Nach den Erwägungsgründen 1 bis 5 der Richtlinie 2018/822 zielt diese Richtlinie in erster Linie darauf ab, die Transparenz im Bereich der Besteuerung zu erhöhen, indem sie den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ermöglicht, „umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen [zu] erhalten, [um diese] Behörden in die Lage [zu] versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen“. Das übergeordnete Ziel der Richtlinie 2018/822 ist nach ihrem 19. Erwägungsgrund „das bessere Funktionieren des Binnenmarkts durch Verhinderung der Anwendung aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen“(14).

 

26. Diese Ziele stehen im Einklang mit dem übergeordneten Zweck der Richtlinie 2011/16, der im Wesentlichen darin besteht, die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zu entwickeln, um die negativen Auswirkungen zu beseitigen, die sich aus der Errichtung des Binnenmarkts für die Fähigkeiten der Mitgliedstaaten ergeben können, geschuldete Steuern ordnungsgemäß festzusetzen. Diese Schwierigkeit kann sich auf das Funktionieren der nationalen Steuersysteme auswirken, was wiederum zu Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Anlass geben und hierdurch das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts gefährden kann(15).

 

27. Vor diesem Hintergrund sind meines Erachtens keine plausiblen Gründe dafür ersichtlich, dass die Körperschaftsteuer einerseits und die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/16 fallenden sonstigen Steuern andererseits hätten unterschiedlich behandelt werden müssen.

 

28. Wie von denjenigen Regierungen der Mitgliedstaaten, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen eingereicht haben, sowie vom Rat und von der Kommission vorgetragen, können potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuergestaltungen verschiedene Steuern betreffen(16). Die Möglichkeit, dass diese Gestaltungen Schlupflöcher in den nationalen Steuersystemen ausnutzen oder Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug verschleiern, besteht unabhängig von der oder den spezifischen Steuer(n), auf die sie sich beziehen. Dementsprechend erscheinen die Risiken, die von der einen oder der anderen Steuer zunächst für die öffentlichen Haushalte der Mitgliedstaaten und als Folge daraus für die Integrität des Binnenmarkts ausgehen, vergleichbar.

 

29. Meines Erachtens ist somit nicht als unangemessen anzusehen, dass der Unionsgesetzgeber sich dafür entschieden hat, die Verwaltungszusammenarbeit bei potenziell aggressiven grenzüberschreitenden Steuergestaltungen für ein breites Spektrum von Steuern zu stärken und die Geltung der neu eingeführten Meldepflicht auf alle von der Richtlinie 2011/16 erfassten Steuern zu erstrecken. Angemessen ist auch, dass die Steuern, für die die Verwaltungszusammenarbeit einem anderen Regelwerk (etwa nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16) unterliegt, vom Anwendungsbereich der Meldepflicht ausgenommen sind.

 

30. Der in steuerlicher Hinsicht weite Anwendungsbereich der Meldepflicht dürfte somit mit dem Gegenstand und Zweck des Rechtsakts, mit dem sie eingeführt wurde (Richtlinie 2018/822), und allgemein mit den sonstigen Unionsvorschriften, die den Bereich regeln, auf den sich dieser Rechtsakt bezieht (Verwaltungszusammenarbeit im Bereich der Besteuerung), im Einklang stehen. Da die Richtlinie 2018/822, wie von der polnischen Regierung vorgetragen, ein Instrument ist, mit dem die Richtlinie 2011/16 geändert wird, ist nämlich naheliegend, dass die Meldepflicht alle Steuern betrifft, auf die die sonstigen, in der Richtlinie 2011/16 enthaltenen Mechanismen der Zusammenarbeit Anwendung finden(17).

 

31. Die von den Klägern des Ausgangsverfahrens vertretenen gegenteiligen Ansichten sind meines Erachtens nicht überzeugend.

 

32. Erstens ist meines Erachtens schwer nachvollziehbar, inwieweit der Umstand, dass einige der Kennzeichen nach Anhang IV der Richtlinie 2011/16 nur auf Körperschaftsteuern anwendbar sind, für das Vorliegen eines möglichen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz von Bedeutung sein soll. Meines Erachtens kann die Absicht des Unionsgesetzgebers, ein breites Spektrum von Steuern zu erfassen, die Aufnahme verschiedener Kennzeichen in Anhang IV rechtfertigen, von denen einige für bestimmte Steuern relevanter sind als andere. Sofern zumindest einige der Kennzeichen sich auf Gestaltungen beziehen können, die andere Steuern als die Körperschaftsteuer betreffen(18), und Informationen über diese Gestaltungen für die zuständigen Behörden zur Ermittlung von Schlupflöchern oder zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug nützlich sein können, ist meines Erachtens kein Anlass ersichtlich, die Rechtmäßigkeit der Richtlinie in Frage zu stellen.

 

33. Zweitens mag zwar richtig sein, dass die hauptsächlichen Probleme für die nationalen Steuersysteme sich aus Steuergestaltungen ergeben, die die Körperschaftsteuer betreffen. Soweit es jedoch, wie oben erwähnt, potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuergestaltungen bei anderen Steuern als der Körperschaftsteuer gibt, erscheint die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die Meldepflicht mit einem weiten Anwendungsbereich auszustatten, nicht unangemessen.

 

34. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens nichts dafür vorgetragen haben, dass die Probleme, die sich aus Steuergestaltungen ergeben, die andere als die Körperschaftsteuer betreffen, so geringfügig sind, dass der Unionsgesetzgeber sie hätte als vernachlässigbar ansehen müssen(19). Jedenfalls kann, wie von der Kommission hervorgehoben, davon ausgegangen werden, dass dann, wenn die Meldepflicht nur eine direkte Steuerart (die Körperschaftsteuer) beträfe und sonstige Formen direkter Steuern (z. B. die individuelle Einkommensteuer) und indirekter Steuern ausgenommen wären, einige Steuerpflichtige bestimmte steuerpflichtige Gewinne von Unternehmen in andere Arten von Einkommen, die nicht der Meldepflicht unterliegen, hätten umwandeln können. Wie von der tschechischen Regierung vorgetragen, würde dies die Erreichung der mit der in Rede stehenden Richtlinie verfolgten Ziele gefährden.

 

35. Drittens war Schwerpunkt der Folgenabschätzung der Kommission zwar insbesondere der Bereich der direkten Steuern (persönliche Einkommensteuer und Körperschaftsteuer), dieses Dokument stellte jedoch ganz eindeutig klar, dass „eine Meldepflicht sich auf Gestaltungen für jede Art von Steuern beziehen kann“ und dass „jede Art von Steuer oder Abgabe durch aggressive Steuerplanungen beeinträchtigt werden kann“(20).

 

36. Jedenfalls ändern die von der Kommission in ihrer Folgenabschätzung angestellten Erwägungen nichts daran, dass der Unionsgesetzgeber sich letztlich dafür entschieden hat, die Meldepflicht mit einem weiten Anwendungsbereich auszustatten, wie die zweifache Rechtsgrundlage der Richtlinie 2018/822 zeigt: Art. 113 und 115 AEUV. Nach der erstgenannten Bestimmung kann der Rat „Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern“ erlassen. Nach der letztgenannten Bestimmung hat der Rat die Befugnis, „Richtlinien für die Angleichung derjenigen [Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten] [zu erlassen], die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken“, was den Bereich des Steuerrechts einschließt. Diese zweifache Rechtsgrundlage gestattete dem Unionsgesetzgeber unbestreitbar, Rechtsvorschriften zu erlassen, die ein breites Spektrum von Steuern betreffen, wie diejenigen, auf die die Meldepflicht sich jetzt bezieht.

 

37. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass die Prüfung der ersten Frage keinen Grund für die Annahme ergeben hat, dass der Unionsgesetzgeber durch die Einbeziehung anderer Steuern als der Körperschaftsteuer gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt.

 

B. Zweite und dritte Frage

1. Vorbemerkungen

38. Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen geprüft werden können, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob i) die Begriffe „Gestaltung“ (sowie „grenzüberschreitende“, „marktfähige“ und „maßgeschneiderte“ Gestaltung), „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“ im Sinne von Art. 3 und/oder Art. 8ab der Richtlinie 2011/16, ii) die verschiedenen Kennzeichen und der „‚Main benefit‘-Test“ im Sinne von Anhang IV der Richtlinie 2011/16 und iii) die 30‑Tage-Regelung im Sinne von Art. 8ab Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2011/16  zur Wahrung der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit von Strafen und der Achtung des Privatlebens hinreichend klar und genau sind.

 

39. Die Beurteilung der Vereinbarkeit der Richtlinie 2018/822 mit diesen beiden Grundsätzen wirft verschiedene Fragestellungen auf und erfordert daher verschiedene Arten der Prüfung (siehe unten, Unterabschnitte 2 und 3).

 

40. Zuvor ist jedoch eine Vorbemerkung angezeigt. Die Kläger des Ausgangsverfahrens vermengen meines Erachtens in ihren Erklärungen zur zweiten und dritten Frage zwei Argumentationskomplexe: Zum einen bestreiten sie die Klarheit und Genauigkeit der Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 und zum anderen die Reichweite dieser Bestimmungen.

 

41. Diese Einwände sind jedoch voneinander zu unterscheiden. Die zweite Fragestellung wirft im Wesentlichen ein Problem der Verhältnismäßigkeit auf, nämlich die Frage, ob diese Begriffe zu weit sind und die Richtlinie infolgedessen zu weit geht, indem sie zu viele Fallgestaltungen erfasst und/oder zu weitreichende Verpflichtungen begründet. Daher werde ich im vorliegenden Abschnitt der Schlussanträge (B) meine Würdigung auf die Frage konzentrieren, ob die in Rede stehenden Begriffe hinreichend klar und genau sind, um den Erfordernissen der Rechtssicherheit zu genügen, die Art. 49 Abs. 1 und Art. 7 der Charta zu eigen sind. Die Frage, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 zu weitreichend sind, wird im Rahmen der Prüfung der vierten und der fünften Vorlagefrage geprüft (unten, Abschnitte C und D).

 

2. Genauigkeit und Klarheit der Richtlinie 2018/822 und Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen

42. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Strafen (nulla poena sine lege certa), der in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankert ist, der eine besondere Ausformung des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit darstellt(21), ist grundsätzlich nur auf Strafen anwendbar, die strafrechtlicher Natur sind.

 

43. Art. 25a („Sanktionen“) der Richtlinie 2011/16 sieht lediglich vor, dass i) es Sache der Mitgliedstaaten ist, Vorschriften über Sanktionen zu erlassen, die bei Verstößen gegen die u. a. gemäß Art. 8ab der Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und dass ii) diese Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen(22).

 

44. Folglich liegt, da die Richtlinie 2011/16 die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung strafrechtlicher Sanktionen für Verstöße gegen die Meldepflicht verpflichtet, nicht unbedingt auf der Hand, dass Art. 49 Abs. 1 der Charta anwendbar ist. Grundsätzlich ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Bestimmungen dieser Richtlinie so umzusetzen, dass sie mit den in der Charta verankerten Grundrechten und Grundsätzen (einschließlich des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit von Strafen) im Einklang stehen(23).

 

45. Es kann indes nicht ausgeschlossen werden, dass nach Ansicht der Mitgliedstaaten – angesichts des Gegenstands und des Ziels der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen und des Erfordernisses, dass die Sanktionen „wirksam“ und „abschreckend“ sein müssen – Verstöße gegen die Meldepflicht möglicherweise zwingend mit Sanktionen solcher Schwere geahndet werden müssen, dass sie unvermeidlich strafrechtlicher Natur sind(24). Für das Königreich Belgien ist offenbar davon auszugehen, dass dies möglicherweise der Fall ist. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sind die im belgischen Recht vorgesehenen Sanktionen trotz ihrer Bezeichnung als „Geldbußen“ materiell betrachtet als „strafrechtlich“ anzusehen(25).

 

46. In diesem Fall kann eine mangelnde Klarheit oder Genauigkeit eines oder mehrerer der in den Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 enthaltenen Begriffe – insbesondere angesichts dessen, dass einige dieser Bestimmungen offenbar kaum (oder gar keinen) Handlungsspielraum bei der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten lassen(26) – tatsächlich zur Rechtswidrigkeit dieser Richtlinie wegen Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta führen. Ich werde jetzt erläutern, unter welchen Umständen ein solcher Verstoß gegeben sein könnte.

 

a) Einschlägige Rechtsprechung

47. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen im Unionsrecht gesetzlich klar definiert sind. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen(27).

 

48. Der Gerichtshof hat jedoch auch klargestellt, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Strafen nicht so verstanden werden darf, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung von Fall zu Fall untersagt, vorausgesetzt, dass das Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Tat insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zu der Rechtsvorschrift vertreten wurde, hinreichend vorhersehbar ist(28).

 

49. Demnach steht der Umstand, dass Rechtsvorschriften sich auf allgemeine Begriffe beziehen, die schrittweise zu präzisieren sind, grundsätzlich nicht der Feststellung entgegen, dass die Regelung klare und präzise Regeln enthält, die es dem Rechtsunterworfenen ermöglichen, vorherzusehen, welche Handlungen und Unterlassungen zu Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können(29). Maßgebend ist insoweit, ob die Mehrdeutigkeit oder Unbestimmtheit dieser Begriffe durch Anwendung der üblichen Methoden der Rechtsauslegung ausgeräumt werden kann. Entsprechen diese Begriffe ferner den in den/der einschlägigen internationalen Übereinkommen und Praxis verwendeten Begriffen, können diese Übereinkommen und diese Praxis weitere Hinweise für die Auslegung geben(30).

 

50. Ebenso hat der Gerichtshof entschieden, dass Gesetzgebungsakte wegen ihres naturgemäß allgemeinen Charakters nicht absolut bestimmt sein können. Die Gesetzgebungstechnik, eher allgemeine Begriffe zu verwenden als abschließende Aufzählungen, lässt zwar oft Grauzonen bei der Abgrenzung. Eine Vorschrift ist aber nicht bereits wegen solcher in einer begrenzten Zahl von Fällen bestehenden Zweifel mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit unvereinbar, sofern sie in den meisten Fällen hinreichend klar ist(31).

 

51. Der Gerichtshof hat ferner hervorgehoben, dass das Ausmaß der verlangten Vorhersehbarkeit in hohem Maß vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschriften, von dem durch sie geregelten Bereich sowie von der Zahl und der Eigenschaft ihrer Adressaten abhängt. Mit der Vorhersehbarkeit des Gesetzes ist es nicht unvereinbar, dass die betreffende Person gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um unter den Umständen des konkreten Falles angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können. Das gilt insbesondere für berufsmäßig tätige Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen. Von ihnen kann daher erwartet werden, dass sie die Risiken ihrer Tätigkeit besonders sorgfältig beurteilen(32).

 

b) Genauigkeit und Klarheit der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen

52. Anhand dieser Grundsätze werde ich jetzt prüfen, ob die mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen es den betroffenen Einzelpersonen wegen mangelnder Genauigkeit und Klarheit bestimmter, darin verwendeter Schlüsselbegriffe möglicherweise unmöglich machen, die Handlungen und Unterlassungen zu erkennen, die ihre Verantwortlichkeit begründen könnten und damit zu einer Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen sie führen, die gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen verstößt, dessen wesentliche Elemente ich soeben skizziert habe.

 

1) Begriff „Gestaltungen“

 

53. Der Begriff „Gestaltungen [„arrangements“]“ wird in Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 zur Bezeichnung der Vorgänge verwendet, die, falls sie (im Sinne von Art. 3 Nr. 18 der Richtlinie) grenzüberschreitend sind, der Meldepflicht unterliegen, wenn sie (wie in Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie formuliert) „mindestens eines der in Anhang IV [dieser Richtlinie] aufgeführten Kennzeichen“ aufweisen.

 

54. Dieser Begriff ist ebenso wie seine Entsprechungen in den anderen Sprachfassungen der Richtlinie(33) sicherlich allgemeiner Natur und hat einen weiten Anwendungsbereich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Begriffe, wie von den Klägern des Ausgangsverfahrens vorgetragen, unbestimmt oder mehrdeutig sind.

 

55. Erstens lassen sich, auch wenn der Begriff „Gestaltungen“ in der Richtlinie 2018/822 nicht ausdrücklich definiert ist, ihren Erwägungsgründen entscheidende Hinweise entnehmen. Dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 zufolge „[wird es f]ür die Mitgliedstaaten … immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden … Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken.“(34) „Steuerplanungsstrukturen“ wiederum ist ein im Bereich der internationalen Besteuerung häufig verwendeter Begriff(35). Darüber hinaus bezieht sich der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie mit einem anderen Ausdruck im Wesentlichen auf denselben Gedanken: „[In] dieser Richtlinie … [geht es] um Gestaltungen [„schemes“], die entwickelt werden, um potenziell Marktineffizienzen auszunutzen, die auf die Interaktion unterschiedlicher nationaler Steuervorschriften zurückgehen“(36).

 

56. Zweitens dürfte die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs „Gestaltungen“ [„arrangements“] (Mechanismen, Planungen, Strukturen usw.) mit der Absicht des Unionsgesetzgebers im Einklang stehen, eine Vielzahl rechtlicher Konstruktionen – die in erster Linie aus einem/einer oder mehreren(37) Verträgen, Vereinbarungen, Absprachen und Praktiken bestehen, aus denen sich kommerzielle Transaktionen ergeben – zu erfassen, die ein kohärentes Ganzes bilden und geeignet sind, sich auf die Steuerbelastung (mindestens eines) Steuerpflichtigen auszuwirken.

 

57. Drittens ist festzustellen, dass die Verwendung des Begriffs „Gestaltungen“ im Kontext des Steuerrechts der Union nicht auf die Richtlinie 2018/822 zurückgeht. Dieser Begriff wird nämlich in weiteren Bestimmungen in diesem Bereich verwendet, die vor dieser Richtlinie erlassen wurden(38). Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben nicht geltend gemacht, dass die Verwendung dieses Begriffs in Bezug auf jene Bestimmungen zu Fällen von Unsicherheiten geführt hätte. Auch aus den Akten ergeben sich hierfür keine Anhaltspunkte.

 

2) Begriffe „grenzüberschreitende“, „marktfähige“ und „maßgeschneiderte“ Gestaltungen

 

58. Im Licht der vorstehenden Ausführungen dürfte die Auslegung der Begriffe „grenzüberschreitende“, „marktfähige“ und „maßgeschneiderte“ Gestaltungen, die alle in Art. 3 der Richtlinie 2011/16 definiert sind, erst recht keine größeren Probleme bereiten.

 

59. Was als Erstes den Begriff „grenzüberschreitende Gestaltung“ angeht, ist dieser in Art. 3 Nr. 18 der Richtlinie 2011/16 definiert als „eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: a) Nicht alle an der Gestaltung Beteiligten sind im selben Hoheitsgebiet steuerlich ansässig; b) einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten ist/sind gleichzeitig in mehreren Hoheitsgebieten steuerlich ansässig; c) einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet über eine dort gelegene Betriebsstätte eine Geschäftstätigkeit aus, und die Gestaltung stellt teilweise oder ganz die durch die Betriebsstätte ausgeübte Geschäftstätigkeit dar; d) einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet eine Tätigkeit aus, ohne dort steuerlich ansässig zu sein oder eine Betriebsstätte zu begründen; e) eine solche Gestaltung hat möglicherweise Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer“.

 

60. Diese Definition ist meines Erachtens recht klar: Einfach ausgedrückt, darf die Gestaltung sich nicht auf die Grenzen eines Mitgliedstaats beschränken, sondern muss mindestens noch ein anderes Land (Mitgliedstaat oder Drittstaat) betreffen. Dieses Verständnis steht im Einklang mit der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „grenzüberschreitend“ (d. h. mindestens zwei Länder betreffend), die im Binnenmarktrecht der Union gebräuchlich ist.

 

61. Dieses Verständnis steht ferner im Einklang mit dem Anwendungsbereich und Ziel der in Rede stehenden Rechtsvorschriften. Wie im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 erläutert, sollte, da die Meldepflicht das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sicherstellen soll, „die gemeinsame Melderegelung auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt werden, d. h. Sachverhalte, an denen entweder mehr als ein Mitgliedstaat oder ein Mitgliedstaat und ein Drittland beteiligt sind“. Das Erfordernis der Grenzüberschreitung ergibt sich auch aus den zweifachen Rechtsgrundlagen der Richtlinien 2011/16 und 2018/822, die Maßnahmen der Union im Zusammenhang mit der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarkts erlauben(39).

 

62. Als Nächstes sind die Begriffe „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“ in Art. 3 Nrn. 24 bzw. 25 der Richtlinie 2011/16 definiert. Diese beiden Formen von Gestaltungen sollen eindeutig alternative Untergruppen „grenzüberschreitender Gestaltungen“ bilden; jede dieser Gestaltungen muss entweder das eine oder das andere sein. Eine „marktfähige Gestaltung“ ist „eine grenzüberschreitende Gestaltung, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss“, und eine „maßgeschneiderte Vereinbarung“ ist „jede grenzüberschreitende Gestaltung, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt“.

 

63. Der einzige Punkt, der möglicherweise eine gewisse Auslegungsfrage aufwerfen kann, ist meines Erachtens die Beurteilung, die zur Bestimmung einer Gestaltung vorzunehmen ist, die „konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss“(40).

 

64. Meines Erachtens bezeichnet der Begriff „marktfähige Gestaltungen“ die Praxis der Erstellung von Formaten oder Prototypen von Steuergestaltungen, die von Steuerberatern oder ‑fachleuten ohne Rücksicht auf die besondere Situation eines bestimmten Mandanten konzipiert und ausgestaltet werden und somit dazu bestimmt sind, als „fast“ fertige Produkte vermarktet zu werden (d. h. Mandanten gegen Entgelt zur Verfügung gestellt zu werden). Mit anderen Worten sind marktfähige Gestaltungen solche, die auf Basis eines vorbestehenden Modells erstellt werden, das dann, um auf die besondere Situation des relevanten Steuerpflichtigen Anwendung finden zu können, nur noch geringfügigen Anpassungen unterzogen wird, bevor es umgesetzt wird.

 

65. Sicherlich mag darüber diskutiert werden können, was eine geringfügige Anpassung darstellt. Zu geringfügigen Anpassungen gehört von Natur aus „das Ausfüllen der Lücken“, das Hinzufügen oder Streichen bestimmter Schritte oder die Vornahme leichter Änderungen an anderen Schritten. Dagegen ist eine Steuergestaltung, die ganz oder größtenteils ganz neu ausgestaltet wird, um den besonderen Wünschen oder Bedürfnissen des Mandanten zu entsprechen, keine marktfähige Gestaltung, sondern eine maßgeschneiderte Gestaltung.

 

66. Eine zeitaufwändige Erörterung, was eine geringfügige Anpassung ist und was nicht, dürfte aber meines Erachtens wenig zielführend sein: Es hängt eindeutig von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Tatsächlich maßgebend ist, dass der Begriff „individuelle Anpassung“ ein Begriff ist, der in den meisten Fällen keine erheblichen Auslegungsprobleme bereiten wird.

 

3) Begriff „Beteiligter“

 

67. Der Begriff „Beteiligter“ wird in Art. 3 Nr. 18 der Richtlinie 2011/16 im Rahmen der Definition des Begriffs „grenzüberschreitende Gestaltung“ im Sinne der Richtlinie verwendet. Vier der fünf alternativen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Gestaltung „grenzüberschreitend“ ist, beziehen sich nämlich auf die Eigenschaft der „an der Gestaltung Beteiligten“, ihre Ansässigkeit nach den Voraussetzungen a und b sowie ihre Tätigkeiten nach den Voraussetzungen c und d(41).

 

68. Für die Anwendung des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems ist die Bestimmung der Beteiligten daher von großer Bedeutung. Von einer Ausnahme abgesehen(42), kann es nämlich regelmäßig dann, wenn alle an der Gestaltung Beteiligten in ein und demselben Mitgliedstaat steuerlich ansässig sind, keine grenzüberschreitende Gestaltung geben, so dass keine Meldepflicht entsteht.

 

69. Es gibt, ersichtlich, keine ausdrückliche Definition des Begriffs „Beteiligter“ in der Richtlinie 2011/16. Auch lässt sich eine solche Definition weder den Erwägungsgründen der Richtlinie 2018/822 noch den dem Richtlinienvorschlag der Kommission(43) beigefügten Dokumenten entnehmen.

 

70. Allerdings kann dieser Begriff meines Erachtens vernünftigerweise anhand der gewöhnlichen Wortbedeutung (Person, die an etwas teilnimmt) und seiner Funktion (Identifizierung grenzüberschreitender Gestaltungen) ausgelegt werden. Mit dem Begriff „Beteiligter“ muss notwendigerweise eine natürliche oder juristische Person bezeichnet werden, die formal Partei einer der verschiedenen Transaktionen ist, aus denen sich die Gestaltung zusammensetzt.

 

71. Dieser Begriff umfasst somit in erster Linie den/die Steuerpflichtigen und die sonstigen Rechtsträger (selbst wenn sie aus gleich welchem Grund nicht steuerpflichtig sind), die von den Gestaltungen unmittelbar betroffen sind. Dagegen umfasst er regelmäßig nicht die Intermediäre, es sei denn, sie nehmen selbst, in formaler Rolle, an einem der einschlägigen rechtlichen Mechanismen teil, aus denen sich die Gestaltung zusammensetzt.

 

4) Begriff „Intermediär“

 

72. Der Begriff „Intermediär“ bezeichnet nach Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 die Hauptkategorie von Personen, die, von Ausnahmen abgesehen, verpflichtet sind, den zuständigen Behörden die relevanten Informationen vorzulegen.

 

73. Dieser Begriff wird in Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie 2011/16 ausdrücklich definiert als „jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet“ (Abs. 1). In dieser Bestimmung heißt es weiter, dass der Begriff „Intermediär“ sich auch erstreckt auf „jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat“. Diese Person kann jedoch nachweisen, dass sie „nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war“ (Abs. 2).

 

74. Die Kläger des Ausgangsverfahrens heben den sehr umfassenden und auch offenen Charakter der Definition hervor. Ich kann mich ihnen insoweit anschließen, als die Definition in allgemeinem Wortlaut gefasst ist und eine große Bandbreite (natürlicher und juristischer) Personen abdeckt. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Bestimmung unbestimmt oder mehrdeutig ist.

 

75. Erstens ist nämlich relativ klar, welche Kategorien von Personen unter diese Definition fallen können. Wie von der Kommission vorgetragen, soll der Begriff die Hauptakteure erfassen, die im Allgemeinen aus beruflichen Gründen an den von der Richtlinie 2018/822 betroffenen Steuerplanungstätigkeiten beteiligt sind. In ihrer Folgenabschätzung hat die Kommission nämlich ausgeführt, dass zu den Intermediären „unter anderem Berater, Rechtsanwälte, Finanz-(Investment‑)berater, Wirtschaftsprüfer, Solicitors, Finanzinstitute, Versicherungsvermittler und Unternehmensgründungsbevollmächtigte“ gehörten. Der Begriff bezeichne im Wesentlichen Angehörige solcher Berufe, deren Tätigkeit darin bestehe, „Mandanten in Fragen der Strukturierung ihrer Geschäftstätigkeit zu beraten, steuerbezogene Kosten zu mindern und als Vergütung eine Prämie zu erhalten“(44).

 

76. Wie von der belgischen Regierung hervorgehoben, muss eine Person, um die in Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie 2011/16 aufgeführten Tätigkeiten auszuüben, in einem spezifischen Bereich (Steuerrecht, Gesellschaftsrecht, internationale Finanzen, Rechnungswesen usw.) in hohem Maße qualifiziert und international tätig sein. Es ist daher kaum anzunehmen, dass einer dieser Personen nicht bekannt sein könnte, dass sie aufgrund ihrer Tätigkeiten im Zusammenhang mit einer grenzüberschreitenden Steuergestaltung als „Intermediär“ im Sinne der Richtlinie 2011/16 anzusehen ist.

 

77. Zweitens gilt nach Art. 3 Nr. 21 in Verbindung mit den Erwägungsgründen und den übrigen Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 die Meldepflicht für (natürliche oder juristische) Personen, die i) nicht zum internen Personal des betreffenden Steuerpflichtigen gehören(45), denen ii) ihre Beteiligung an der Konzeption, Vermarktung, Organisation und Umsetzung der Gestaltung bekannt ist (oder sein muss)(46) und die einen bedeutsamen (und nicht geringfügigen) Beitrag dazu(47) leisten, die iii) relevante Informationen über die betreffende Gestaltung besitzen oder kontrollieren(48) und iv) in einem der Mitgliedstaaten ansässig sind oder einen sonstigen festen und strukturellen Bezug zu einem der Mitgliedstaaten haben(49).

 

78. Drittens und letztens ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Intermediär“ und seine Entsprechungen im Bereich des internationalen Steuerwesens geläufig sind(50).

 

79. Folglich ist die Definition in der Richtlinie 2011/16 recht detailliert und ihre Bedeutung hinreichend klar. Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass unter bestimmten besonderen Umständen ein vernünftiger Zweifel daran entstehen kann, ob eine bestimmte Kategorie von Wirtschaftsteilnehmern oder eine bestimmte Person unter diese Definition fällt, dürfte die Situation meines Erachtens in den allermeisten Fällen klar sein(51).

 

5) Begriff „verbundenes Unternehmen“

 

80. Der Begriff „verbundenes Unternehmen“ wird in der Richtlinie 2011/16 in Verbindung mit „Vorabverständigungen über die Verrechnungspreisgestaltung“(52) und „grenzüberschreitenden Transaktionen“(53) verwendet. Bei den beiden letztgenannten handelt es sich um Vorgänge, die für die Feststellung des Vorliegens meldepflichtiger Gestaltungen relevant sind. Ferner gehören nach Art. 8ab Nr. 14 Buchst. a zu den den Behörden zu übermittelnden und sodann innerhalb ihres Netzes automatisch auszutauschenden Informationen solche über „Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten“.

 

81. Der Begriff „verbundenes Unternehmen“ wird insbesondere in Art. 3 Nr. 23 der Richtlinie 2011/16 definiert, wonach ein „verbundenes Unternehmen“ für die Zwecke des Art. 8ab eine Person bezeichnet, die mit einer anderen Person auf mindestens eine der vier folgenden Arten verbunden ist: a) Eine Person ist an der Geschäftsleitung einer anderen Person insofern beteiligt, als sie erheblichen Einfluss auf diese ausüben kann; b) eine Person ist über eine Holdinggesellschaft, die über mehr als 25 % der Stimmrechte verfügt, an der Kontrolle einer anderen Person beteiligt; c) eine Person ist über ein Eigentumsrecht, das unmittelbar oder mittelbar mehr als 25 % des Kapitals beträgt, am Kapital einer anderen Person beteiligt; d) eine Person hat Anspruch auf mindestens 25 % der Gewinne einer anderen Person.

 

82. Ferner stellt Art. 3 Nr. 23 der Richtlinie 2011/16 klar, wie der Begriff zu verstehen ist, wenn i) mehr als eine Person an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen derselben Person beteiligt ist; ii) dieselben Personen an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen von mehr als einer Person beteiligt sind; iii) eine Person in Bezug auf die Stimmrechte oder die Kapitalbeteiligung an einem Unternehmen gemeinsam mit einer anderen Person handelt; iv) eine mittelbare Beteiligung vorliegt; oder v) eine natürliche Person, ihr Ehepartner und ihre Verwandte in aufsteigender oder absteigender gerader Linie beteiligt sind.

 

83. Meines Erachtens dürfte diese Definition nicht nur recht detailliert sein, sondern auch auf objektiven – und somit leicht zu prüfenden – Kriterien beruhen. Sie entspricht im Wesentlichen auch der (knapperen) Erläuterung in Art. 3 Nr. 15 der Richtlinie 2011/16, wonach Unternehmen als verbundene Unternehmen gelten, wenn „ein Unternehmen unmittelbar oder mittelbar an der Geschäftsleitung, der Kontrolle oder dem Kapital eines anderen Unternehmens beteiligt ist oder wenn ein und dieselben Personen unmittelbar oder mittelbar an der Geschäftsleitung, der Kontrolle oder dem Kapital beider Unternehmen beteiligt sind“.

 

84. Festzustellen ist, dass der Begriff „verbundenes Unternehmen“ ferner sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch international im Bereich des Steuerrechts häufig verwendet wird(54). Es mag allerdings zutreffen, dass, wie vom OBFG vorgetragen, die Tatsache, dass die verschiedenen Definitionen der „verbundenen Unternehmen“ im Unionsrecht nicht völlig übereinstimmen, möglicherweise zu Missverständnissen führt. Da sich jedoch jede dieser Definitionen für sich genommen auf die durch das betreffende Instrument geregelten Fälle einfach anwenden lässt, kann die Entscheidung des Unionsgesetzgebers meines Erachtens nicht als rechtswidrig angesehen werden.

 

6) Kennzeichen

 

85. Nach Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie 2011/16 ist eine grenzüberschreitende Gestaltung „meldepflichtig“, wenn sie „mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweist“. In Nr. 20 dieser Bestimmung wiederum wird ein „Kennzeichen“ definiert als „ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung …, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet“.

 

86. Die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, zur Bestimmung derjenigen Steuergestaltungen, die meldepflichtig sind, auf eine Liste von Kennzeichen zu verweisen, wird im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 erläutert; dieser lautet:

 

„Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als „Kennzeichen“ bezeichnet(55).

 

87. Die Liste der Kennzeichen findet sich in Anhang IV Teil II der Richtlinie 2011/16. Die Kennzeichen sind in verschiedene Kategorien untergliedert: „Allgemeine Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test“ (Kategorie A) und spezifische Kennzeichen, unterteilt in solche „in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test“ (Kategorie B), solche „im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Transaktionen“ (Kategorie C), solche hinsichtlich „des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer“ (Kategorie D) und solche „hinsichtlich der Verrechnungspreisgestaltung“ (Kategorie E). Während jedoch bestimmte Kennzeichen für sich genommen ausreichen, um die Gestaltung meldepflichtig zu machen, sind andere nur dann relevant, wenn der „Main benefit“-Test, den ich im nächsten Abschnitt näher erläutern werde, erfüllt ist.

 

88. Ich teile die von den Klägern des Ausgangsverfahrens geäußerten Zweifel an der Klarheit und Genauigkeit der Kennzeichen nicht. Zwar folgt sowohl aus der Anzahl als auch aus der Reichweite der Kennzeichen, dass sie eine heterogene Gruppe von Gestaltungen abdecken. Dieser Umstand für sich genommen macht die Anwendung einer solchen Verpflichtung für die betroffenen Einzelpersonen jedoch nicht unvorhersehbar. Meines Erachtens ist nämlich keines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen als offensichtlich ungenau oder unklar anzusehen.

 

89. Erst recht ist das von einigen Klägern des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument zurückzuweisen, dass die Definition der Kennzeichen vom Unionsgesetzgeber nicht hinreichend erwogen worden sei. Insbesondere Abschnitt 7.7.2 und Anhang 7 der Folgenabschätzung ist zu entnehmen, dass vor diesem Tätigwerden eine sorgfältige Bewertung solcher Kennzeichen vorgenommen wurde, die im Rahmen ähnlicher, zu jenem Zeitpunkt (sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch andernorts(56)) bestehender Offenlegungsregelungen verwendet wurden und die in den OECD-Berichten erörtert wurden.

 

90. Wie von der Kommission vorgetragen, bilden die Kennzeichen sehr spezifische und konkrete (tatsachenbezogene) Merkmale der Steuergestaltungen ab, deren Bestimmung Steuerfachleuten, und gegebenenfalls Steuerpflichtigen, die sich hinreichend rechtlich beraten lassen, in den meisten Fällen keine besonderen Schwierigkeiten bereiten sollte.

 

91. Dies gilt unbeschadet dessen, dass einige Kennzeichen einen Wortlaut verwenden, der bei ihrer Auslegung eine gewisse Bewertung oder Prognose erfordert. Meines Erachtens dürfte nämlich mit keinem der Ausdrücke, die in der Liste der von den Klägern des Ausgangsverfahrens beanstandeten Kennzeichen enthalten sind(57), eine Beurteilung verbunden sein, die den Betroffenen nicht zumutbar ist.

 

92. Ferner würde ich, soweit die Kläger des Ausgangsverfahrens die vom Unionsgesetzgeber gewählte Gesetzgebungstechnik zur Definition meldepflichtiger Gestaltungen beanstanden, nämlich dass auf eine abschließende Liste von Merkmalen verwiesen wird, anstatt eine abstrakte Definition zu verwenden, betonen, dass diese Entscheidung eindeutig von dem (umfassenden) Handlungsspielraum abgedeckt ist, über den der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Gesetzgebungsakten verfügt, die eine Abwägung verschiedener öffentlicher und privater Interessen erfordern(58). In der vorliegenden Rechtssache sind die Erläuterungen der Entscheidung des Gesetzgebers im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 und in Abschnitt 5 der Begründung(59) meines Erachtens angemessen.

 

7) „‚Main benefit‘-Test“

 

93. Der „Main benefit“-Test hat im Rahmen des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems eine wichtige Funktion. Bei bestimmten Kennzeichen entsteht die Meldepflicht nämlich nur dann, wenn der „Main benefit“-Test erfüllt ist(60). Umgekehrt führt allein der Umstand, dass der Test erfüllt ist, nicht dazu, dass eine Gestaltung meldepflichtig wird, da zumindest eines der Kennzeichen vorliegen muss.

 

94. Der „Main benefit“-Test ist in Anhang IV Teil I der Richtlinie 2011/16 geregelt: Er ist erfüllt, „wenn festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist“.

 

95. Dass es diesem Test an Klarheit oder Genauigkeit mangelt, ist meines Erachtens nicht ersichtlich.

 

96. Zwar erfordert der „Main benefit“-Test eine Bewertung, die als teilweise subjektiv angesehen werden könnte, da sie auf persönlichen Erwartungen beruht. Die Bestimmung ist meines Erachtens jedoch nicht in diesem Sinne zu verstehen. Meines Erachtens kommt es nicht auf die subjektive Sichtweise des betreffenden Steuerpflichtigen (und/oder Intermediärs) an, sondern auf die Erwartung, die eine umsichtige und angemessen informierte Person in dieser Hinsicht hätte.

 

97. Außerdem setzt der „Main benefit“-Test eine Bewertung von Gesichtspunkten voraus, die weitgehend objektiver Natur sind. Der Test dient im Wesentlichen dazu, Gestaltungen zu erfassen, die ausschließlich oder hauptsächlich aus steuerlichen Gründen eingesetzt werden. Er erfordert somit – nach dem Abschlussbericht der OECD von 2015 – eine Gegenüberstellung „des Werts des erwarteten Steuervorteils mit allen sonstigen, aus der Transaktion wahrscheinlich zu erlangenden Vorteilen“ und beinhaltet somit „eine objektive Beurteilung der Steuervorteile“(61).

 

98. Zwar erfordert der Test eine Einzelfallprüfung der betreffenden Gestaltungen. Nach Anhang IV sind nämlich „alle relevanten Fakten und Umstände“ zu berücksichtigen, ohne dass erläutert wird, um welche Fakten und Umstände es sich handeln könnte. Hieraus folgt indes nicht, dass die Anwendung des Tests mit Unsicherheit behaftet ist, zumindest nicht in den allermeisten Fällen. Nach meinem Verständnis beinhaltet die Beurteilung der relevanten Fakten und Umstände insbesondere eine zweifache Prüfung, nämlich zum einen der Merkmale der Gestaltung und zum anderen des Ziels und Zwecks der angewendeten Steuergesetze.

 

99. Zum einen, gibt es nicht-steuerbezogene Gründe (beispielsweise handels- oder gewerbebezogener Art usw.), die die Entscheidung, die betreffende Gestaltung einzusetzen, erklären können, und, falls ja, sind diese Gründe tatsächlich gegeben, schlüssig und erheblich? Hätte der betreffende Steuerpflichtige, wenn der Steuervorteil nicht bestanden hätte, ein Interesse daran gehabt, von der Gestaltung Gebrauch zu machen? Besteht bei den Transaktionen, die Teil der Gestaltungen sind, ein erhebliches wirtschaftliches Ungleichgewicht, beispielsweise ein Missverhältnis zwischen dem gezahlten Preis und den im Gegenzug erhaltenen Waren oder Dienstleistungen?

 

100. Zweitens, stellt die Steuergestaltung eine logische und einfache Anwendung der zugrunde gelegten Steuergesetze dar und entspricht sie dem Ziel und Zweck dieser Gesetze? Oder besteht die Steuergestaltung vielmehr darin, „die Feinheiten eines Steuersystems oder Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehr Steuersystemen auszunutzen, um die Steuerschuld zu senken“?(62) Erscheint die Struktur der Gestaltung – im Licht ihres erklärten Zwecks und der angewendeten nationalen Rechtsvorschriften – künstlich oder übermäßig komplex, und/oder enthält sie Schritte, die (von ihren Auswirkungen auf die Steuerschuld abgesehen) unnötig erscheinen?

 

101. Dies sind Fragen, die für diejenigen Steuerfachleute und Steuerpflichtigen, die von ausgefeilten Steuergestaltungen Gebrauch machen, unschwer zu beantworten sein sollten.

 

102. Schließlich werden oder wurden nicht zuletzt offenbar von einer Reihe von Staaten, sowohl inner- als auch außerhalb der Europäischen Union, in Instrumenten, die der Richtlinie 2018/822 in Bezug auf Zweck und Inhalt ähnlich sind, ein „‚Main benefit‘-Test“ verwendet, der demjenigen ähnlich ist, der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführt wurde(63).

 

103. Demnach dürfte angesichts der Verschiedenartigkeit der wirtschaftlichen Tätigkeiten, Transaktionen und der nationalen Steuersysteme, die betroffen sein können, eine Einzelfallprüfung der Gestaltungen nach dem „Main benefit“-Test meines Erachtens unvermeidlich sein. Dies lässt jedoch die relative Klarheit der Art der Prüfung unberührt, die nach diesem Test von den zu seiner Anwendung verpflichteten Personen vorzunehmen ist.

 

8) 30‑Tage-Regelung

 

104. Nach Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/16 haben Intermediäre die betreffenden Informationen innerhalb von 30 Tagen vorzulegen, und zwar ab dem Tag, an dem die Gestaltung „zur Umsetzung bereitgestellt wird“ oder „umsetzungsbereit ist“, oder dann, wenn „der erste Schritt der Umsetzung [der Gestaltung] gemacht wurde“, je nachdem, was früher eintritt. Ergänzend sind nach Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2011/16 „auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet“(64). Schließlich hat nach Art. 8ab Abs. 7 der Richtlinie 2011/16 „[d]er betreffende Steuerpflichtige … die Informationen innerhalb von 30 Tagen vor[zulegen], beginnend an dem Tag, nach dem ihm die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder … zur Umsetzung durch den relevanten Steuerpflichtigen bereit ist oder wenn der erste Schritt [zu ihrer] Umsetzung im Zusammenhang mit dem relevanten Steuerpflichtigen gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt“.

 

105. Nach Ansicht einiger der Kläger des Ausgangsverfahrens sollen die auslösenden Ereignisse in Art. 8ab nicht mit dem erforderlichen Maß an Genauigkeit definiert sein. Insbesondere sei die genaue Bedeutung der Begriffe „bereitgestellt“ und umsetzungs-„bereit“ unklar. Der OBFG stellt beispielsweise in Frage, ob eine bloße mündliche Konsultation eines Fachmanns durch einen Steuerpflichtigen oder bloße Gespräche auf eher allgemeiner Ebene dafür ausreichen würden, dass die betreffenden Informationen vorgelegt werden müssten.

 

106. Meines Erachtens sind diese Einwände nicht überzeugend.

 

107. Zunächst kann meines Erachtens in Bezug auf den Begriff „Umsetzung“ schwerlich von einem Mangel an Klarheit ausgegangen werden. Nach seiner alltäglichen Bedeutung (in Kraft setzen, Durchführung, Anwendung usw.) beginnt die Meldefrist von 30 Tagen nämlich erst, wenn die betreffende Steuergestaltung von der Phase ihrer Konzeptionierung in die Phase ihrer Anwendung übergeht. Die Anwendungsphase beinhaltet typischerweise die Durchführung eines der zur Durchführung der betreffenden Gestaltung erforderlichen Rechtsakte.

 

108. Wichtig ist, dass der Begriff „Umsetzung“ in jeder der drei Fallgestaltungen in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 1 vorkommt, die alle eine laufende oder zumindest unmittelbar bevorstehende Durchführung der betreffenden steuerlichen Gestaltung betreffen. Dass in zwei dieser Fallgestaltungen („bereitgestellte“ oder umsetzungs-„bereite“ Gestaltung) die Uhr möglicherweise zu laufen beginnt, bevor der erste Schritt der Umsetzung stattfindet, hat – wenn mein Verständnis zutrifft – drei Gründe.

 

109. Erstens ist vom Standpunkt des Unionsgesetzgebers ausgehend, soweit möglich, eine frühzeitige Vorlage der Informationen vorzugswürdig (d. h. idealerweise bevor die betreffenden Gestaltungen tatsächlich umgesetzt werden). Dies gibt der Steuerverwaltung die Möglichkeit, in einem frühen Stadium des Verfahrens zu reagieren, beispielsweise indem die einschlägigen Rechtsvorschriften zeitnah geändert werden(65). Zweitens erhöht die Bestimmung die Rechtssicherheit, indem sie den Intermediären, die an der tatsächlichen Durchführung der von ihnen erstellten Gestaltungen möglicherweise nicht beteiligt sind (und denen somit möglicherweise der genaue Zeitpunkt des Beginns der Umsetzung nicht bekannt ist), einen genauen Tag benennt, ab dem die Frist zu laufen beginnt. Drittens schließt die Bestimmung auch aus, dass Intermediäre, die der Meldepflicht nicht nachgekommen sind, sich als Vorwand auf eine (tatsächliche oder behauptete) Unkenntnis vom zeitlichen Ablauf der Umsetzung berufen können.

 

110. Demselben Grundgedanken (dies a quo, der ohne Weiteres vorhersehbar ist, da er nicht vom Verhalten anderer Personen abhängt) folgt in der Tat auch die zusätzliche Regelung in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 für Personen, die als Intermediäre behandelt werden, weil sie sich bereit erklärt haben, „unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung [zu leisten]“(66). Diese Intermediäre sind zur Vorlage der Informationen „innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben“, verpflichtet(67).

 

111. Hinzuzufügen ist insoweit, dass meines Erachtens Tätigkeiten wie eine allgemeine Beratung, die nicht mit einer spezifischen und konkreten steuerlichen Gestaltung für einen oder mehrere bestimmte Mandanten in Verbindung steht, oder die bloße Teilnahme an Gesprächen oder einem Gedankenaustausch zwischen Intermediären und Steuerpflichtigen (oder zwischen verschiedenen Intermediären) keine Verpflichtung des Intermediärs zur Vorlage einer Meldung nach Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 begründen.

 

112. Zwar sind die einschlägigen Bestimmungen in diesem Punkt nicht vollends klar. Meines Erachtens dürfte jedoch eine Pflicht zur Meldung von Gestaltungen, die nicht zur Anwendung bestimmt sind, aus einer Reihe von Gründen ausgeschlossen sein. Erstens ist weder in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2018/822 noch in den durch sie eingeführten Bestimmungen von einer unabhängig von der Umsetzung der betreffenden Gestaltungen bestehenden Meldepflicht die Rede. Im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ist nämlich die Rede davon, dass Meldungen vorgelegt werden sollen, „bevor“ sie umgesetzt werden. Zweitens führt die Prüfung, ob eine bestimmte Gestaltung, abstrakt und unabhängig von den betreffenden Beteiligten und Steuerpflichtigen betrachtet, „meldepflichtig“ und „grenzüberschreitend“ ist, nicht immer zu einem zuverlässigen Ergebnis. Drittens liegt auf der Hand, dass Gestaltungen, die nicht durchgeführt werden, i) nicht zu Steuermissbrauch, ‑betrug oder ‑hinterziehung führen können, ii) die Fähigkeiten der Mitgliedstaaten zur Erhebung von Steuern nicht bedrohen und iii) keinerlei Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben. Daher wäre eine weitreichende Verpflichtung von Intermediären zur Meldung jeder Hilfe, Unterstützung oder Beratung in Bezug auf Transaktionen, die zu diesem Zeitpunkt rein hypothetischer und spekulativer Natur sind, zur Verwirklichung der mit der Richtlinie 2018/822 verfolgten Ziele nicht erforderlich und würde die betroffenen Berufsangehörigen unverhältnismäßig belasten.

 

113. Demnach ist die 30‑Tage-Regelung des Art. 8ab Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2011/16 meines Erachtens hinreichend klar und genau.

 

c) Zwischenergebnis

 

114. Im Licht der vorstehenden Ausführungen komme ich zu dem Ergebnis, dass die Beanstandungen der Kläger des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf die Klarheit und Genauigkeit bestimmter Begriffe, die in den mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen verwendet werden, unbegründet sind.

 

115. Zwar sind einige dieser Begriffe weit und allgemeiner Natur, so dass die betreffenden Vorschriften einen weiten Anwendungsbereich beanspruchen oder eine Vielzahl verschiedener Fallgestaltungen erfassen können.

 

116. Allerdings dürfte keine der untersuchten Bestimmungen es den betroffenen Einzelpersonen unmöglich machen oder unzumutbar erschweren, festzustellen, wann und in welchem zeitlichen Rahmen sie möglicherweise der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Meldepflicht unterliegen. Zumindest in den allermeisten Fällen sind die Umstände, unter denen die Meldepflicht entsteht, meines Erachtens hinreichend klar.

 

117. Die Richtlinie 2011/16 enthält nämlich sehr detaillierte und tatsachenbezogene Definitionen einiger der in Art. 8ab der Richtlinie verwendeten Schlüsselbegriffe. Zudem lässt sich die Bedeutung anderer Schlüsselbegriffe anhand der klassischen Rechtsauslegungsmittel bestimmen, nämlich der Prüfung der gewöhnlichen Bedeutung der im Wortlaut der Vorschrift verwendeten Begriffe im Licht ihres Zusammenhangs und des Ziels und Zwecks der Richtlinie 2011/16 und der Richtlinie 2018/822. Darüber hinaus sind mehrere dieser Begriffe auf dem Gebiet des Steuerwesens gebräuchlich und werden in nationalen und internationalen Instrumenten verwendet.

 

118. Insoweit darf nicht außer Acht gelassen werden, dass aggressive Steuergestaltungen regelmäßig komplexe und kostenaufwändige Instrumente sind, die von spezialisierten Fachleuten gestaltet und verwaltet werden. Von diesen Fachleuten kann (und muss jedenfalls) erwartet werden, dass sie die geltenden Regelungen kennen, sie mit Hilfe eines qualifizierten Rechtsberaters auslegen können und dass sie sich über die fortschreitende Klärung dieser Regelungen anhand der unionsrechtlichen und nationalen Rechtsprechung informiert halten.

 

119. Ferner sind die Behörden der Mitgliedstaaten, auch wenn der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2018/822 im Hinblick auf die Aufnahme und Klärung der Regelungen recht begrenzt gewesen sein dürfte(68), durch nichts daran gehindert, den betreffenden Berufsangehörigen und Steuerpflichtigen förmliche oder nicht förmliche Hinweise an die Hand zu geben. In der Tat haben meines Wissens die Steuerbehörden einer Reihe von Mitgliedstaaten in den letzten Monaten entsprechende Mitteilungen herausgegeben(69).

 

120. Demnach ist meines Erachtens nach Prüfung der im Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen Fragestellungen im Licht des Vorbringens der Kläger des Ausgangsverfahrens das Vorbringen unbegründet, dass die Richtlinie 2018/822 gegen den in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen verstoße.

 

3. Genauigkeit und Klarheit der Richtlinie 2018/822 und Achtung des Privatlebens

 

121. Der zweite Aspekt, den das vorlegende Gericht mit seiner zweiten und dritten Frage aufwirft, betrifft im Wesentlichen die Vereinbarkeit der Meldepflicht mit dem in Art. 7 der Charta verankerten Grundsatz der Achtung des Privatlebens. Die hauptsächlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts, die der zweiten und dritten Frage zum Teil zugrunde liegen, beziehen sich, wie dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen ist, darauf, dass ein möglicher Mangel an Klarheit und Genauigkeit der in der Richtlinie 2018/822 enthaltenen Schlüsselbegriffe zu einem weitreichenden und kaum vorhersehbaren Eingriff in das Recht der Intermediäre und Steuerzahler auf Wahrung der Vertraulichkeit ihrer Kommunikation führen könnte.

 

122. Wie soeben ausgeführt, sind im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit der Richtlinie 2018/822 mit Art. 49 Abs. 1 der Charta die Bedeutung und der Anwendungsbereich der von den Klägern des Ausgangsverfahrens beanstandeten Begriffe meines Erachtens hinreichend klar. Meines Erachtens ist den Erklärungen dieser Beteiligten darüber hinaus nichts zu entnehmen, was im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Richtlinie anhand von Art. 7 der Charta aus Gründen einer angeblich mangelnden Genauigkeit und Klarheit ihrer Schlüsselbegriffe für ein anderes Ergebnis sprechen könnte.

 

123. Grundsätzlich dürfte meines Erachtens Art. 7 der Charta keine strengere Verpflichtung im Hinblick auf die Klarheit oder Genauigkeit vorsehen als Art. 49 der Charta, anhand dessen ich die Genauigkeit und Klarheit der Schlüsselbegriffe bereits geprüft habe. Jedenfalls werde ich auf die Fragestellung der Klarheit und Genauigkeit der mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen im Rahmen der Prüfung zurückkommen, ob diese Bestimmungen eine geeignete „Rechtsgrundlage“ darstellen, die einen Eingriff in die durch Art. 7 der Charta geschützten Rechte rechtfertigen könnte.

 

C. Fünfte Frage: Eingriff in das Privatleben (Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Meldepflicht)

 

124. Meines Erachtens ist es zweckmäßiger, zunächst die fünfte Frage und anschließend die vierte Frage des vorlegenden Gerichts zu prüfen. Beide Fragen betreffen nämlich zwar dasselbe Problem (die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in das Privatleben durch die Meldepflicht), die fünfte Frage ist jedoch viel weiter gefasst und erfordert eine eingehendere Beurteilung bestimmter Fragestellungen.

 

125. Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob die Meldepflicht gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens der betroffenen Intermediäre und Steuerpflichtigen verstößt, weil der Eingriff in dieses Recht im Hinblick auf die mit der Richtlinie 2018/822 verfolgten Ziele nicht gerechtfertigt oder verhältnismäßig wäre.

 

126. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Informationen, die den Behörden zu melden seien, private Daten von Unternehmen und Privatpersonen enthielten. Es betont ferner den weit gefassten Anwendungsbereich der Meldepflicht, der sich auf Gestaltungen erstrecke, die möglicherweise rechtmäßig und nicht missbräuchlich seien und deren Hauptvorteil möglicherweise nicht steuerlicher Art sei. Außerdem hält das vorlegende Gericht auch für klärungsbedürftig, ob die Meldepflicht mit dem erklärten Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, vereinbar sei, da die Meldepflicht die Wirkung haben könne, von bestimmten grenzüberschreitenden Tätigkeiten abzuschrecken.

 

127. Die Kläger des Ausgangsverfahrens bringen hierzu vor, dass es Unternehmen freistehen müsse, für ihre Geschäftstätigkeiten den Weg der günstigsten Besteuerung zu wählen, sofern dies ohne Rechtsverstoß möglich sei. Es sei durch nichts gerechtfertigt, Steuerpflichtige von der Inanspruchnahme grenzüberschreitender Steuergestaltungen und Berufsangehörige von der Ausübung von Tätigkeiten im Bereich der internationalen Steuerplanung abzuschrecken.

 

128. Dieses Vorbringen ist meines Erachtens nicht überzeugend. Meines Erachtens liegt nämlich zwar in der Tat ein Eingriff in das Privatleben der Steuerpflichtigen und Intermediäre vor, dieser Eingriff kann jedoch als zur Erreichung bestimmter, von der Europäischen Union anerkannter, dem Gemeinwohl dienender Ziele erforderlich und verhältnismäßig gerechtfertigt werden.

 

1. Eingriff in das Privatleben

 

129. Nach Art. 7 der Charta „[hat j]ede Person … das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte(70) entsprechen die Rechte nach Art. 7 der Charta den Rechten, die durch Art. 8 EMRK garantiert sind(71). Daher wird, wie auch nach Art. 52 Abs. 3 der Charta und Art. 6 Abs. 3 EUV vorgesehen, Art. 7 der Charta im Einklang mit Art. 8 EMRK ausgelegt.

 

130. In seiner Rechtsprechung hat der EGMR stets eine weite Definition des „Privatlebens“ vertreten, die Tätigkeiten beruflicher oder geschäftlicher Art umfasst, und entschieden, dass dieser Ansatz mit dem wesentlichen Ziel und Zweck von Art. 8 EMRK im Einklang stehe, nämlich, den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen(72).

 

131. Der Gerichtshof verfolgt seinerseits denselben Ansatz im Rahmen von Art. 7 der Charta in Anlehnung an die Straßburger Rechtsprechung(73) und aufbauend auf seine vor Erlass der Charta ergangene Rechtsprechung, wonach der Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist(74). Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass es für die Feststellung des Vorliegens eines Eingriffs in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht nicht darauf ankommt, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben sensiblen Charakter haben oder ob die Betroffenen durch den Eingriff Nachteile erlitten haben könnten(75).

 

132. Vor diesem Hintergrund stellt die Meldepflicht ganz eindeutig einen Eingriff in das Privatleben von Intermediären und Steuerpflichtigen dar.

 

133. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Bestimmungen, die die Übermittlung personenbezogener Daten wie des Namens, des Wohnsitzes oder der finanziellen Mittel natürlicher Personen an eine Behörde vorschreiben oder gestatten, bei fehlender Einwilligung dieser Personen unabhängig von der späteren Verwendung der in Rede stehenden Daten als Eingriff in ihr Privatleben und damit als Einschränkung des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts einzustufen sind. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Übermittlung personenbezogener und finanzieller Daten juristischer Personen an eine Behörde den Namen einer oder mehrerer natürlicher Personen enthält(76).

 

134. In der vorliegenden Rechtssache umfassen die zu übermittelnden Informationen nach Art. 8ab Abs. 14 der Richtlinie 2011/16 Daten wie etwa „die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit [Steueridentifikationsnummer] sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten“. Diese Daten stellen „personenbezogene Daten“ im Sinne von Art. 8 der Charta dar, wenn sie natürliche Personen betreffen. Es kann sich auch um personenbezogene Daten handeln, wenn die Daten zwar juristische Personen betreffen, die Firma dieser juristischen Personen jedoch die Namen natürlicher Personen enthält. Solche Daten fallen daher unter das durch Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Schutz des Privatlebens(77).

 

135. Die entscheidende Frage ist daher, ob dieser Eingriff gerechtfertigt werden kann.

 

136. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann das in Art. 7 der Charta niedergelegte Recht keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden(78). Zudem muss nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten nur dann vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

 

137. Diese Fragestellungen werden in den folgenden Abschnitten der vorliegenden Schlussanträge geprüft.

 

2. Rechtsgrundlage und Wesensgehalt des Rechts

 

138. Was zunächst das Erfordernis betrifft, dass jeder Eingriff in die Ausübung von Grundrechten „gesetzlich vorgesehen“ sein muss, bedeutet dieses Erfordernis nicht nur, dass die Maßnahme, in der der Eingriff vorgesehen ist, eine Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss, sondern auch, dass dieses Gesetz den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss(79). Bei der Festlegung des Umfangs der mit ihm auferlegten Einschränkung muss das betreffende Gesetz die Gefahr von Willkür vermeiden, indem es Regeln vorsieht, die in ihrer Anwendung hinreichend klar und vorhersehbar sind(80). Wie der Gerichtshof jedoch festgestellt hat, schließt dieses Erfordernis nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben(81).

 

139. In der vorliegenden Rechtssache hat der Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht, den die Kläger des Ausgangsverfahrens beanstanden, was das Unionsrecht betrifft, eindeutig eine Rechtsgrundlage in Art. 8ab der Richtlinie 2011/16. Diese Rechtsgrundlage ist meines Erachtens als geeignet anzusehen, da die Einschränkung der Ausübung der betreffenden Rechte in Regelungen gefasst ist, deren Anwendung, wie in meiner Würdigung der zweiten und dritten Vorlagefrage erläutert, hinreichend klar und vorhersehbar ist. Die Vorhersehbarkeit und Klarheit der Bestimmungen werden keineswegs dadurch in Frage gestellt, dass sie möglicherweise einen recht weiten Anwendungsbereich haben(82).

 

140. Weiterhin dürfte meines Erachtens das Erfordernis, dass jede Einschränkung der durch die Charta garantierten Rechte und Freiheiten den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss, ebenfalls erfüllt sein. Vereinfacht ausgedrückt, verpflichtet Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 bestimmte Steuerpflichtige und bestimmte Berufsangehörige, die sich in einer recht spezifischen Situation befinden, dazu, den zuständigen Steuerbehörden bestimmte, relativ begrenzte und hauptsächlich geschäftsbezogene Informationen zu übermitteln. Demnach ist es meines Erachtens in der vorliegenden Rechtssache nicht erforderlich, in eine Diskussion darüber einzutreten, was als „Kern-“ (und somit unantastbarer) Bereich des Rechts auf Privatleben angesehen werden kann, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Meldepflicht diesen Kernbereich nicht berührt.

 

141. Schließlich erfordert die Beurteilung, ob die betreffende Unionsmaßnahme mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, eine vierstufige Prüfung dieser Maßnahme: i) Verfolgt sie von der Europäischen Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen? ii) Ist sie erforderlich, um diese Zielsetzungen zu erreichen? iii) Geht sie über das hinaus, was zur Erreichung dieser Zielsetzungen erforderlich ist? Und iv) stellt sie einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen her?

 

3. Verhältnismäßigkeitsprüfung (I): Verfolgte Ziele und Geeignetheit der Maßnahme

 

142. Erstens verfolgen die Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 meines Erachtens von der Europäischen Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen. Wie der Gerichtshof (zuletzt im Urteil Orde van Vlaamse Balies) entschieden hat, stellen die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug von der Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte einzuschränken(83).

 

143. Nicht übersehen werden darf, dass, wie in Art. 2 EUV angegeben, die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und die Solidarität zwei der Grundwerte der Europäischen Union sind. Die Wahrung dieser Werte wird eindeutig durch Steuer- und Geschäftspraktiken beeinträchtigt, die bestimmten (zumeist besonders wohlhabenden) Steuerpflichtigen ermöglichen, die Entrichtung eines ihnen angemessenen Anteils an Steuern an den öffentlichen Haushalt zu vermeiden. Diese Praktiken befeuern Ungleichheiten in der Gesellschaft und sind daher in grundlegender Weise unvereinbar mit dem der Union eigenen sozioökonomischen Modell der „sozialen Marktwirtschaft“ sowie der Verfolgung einiger ihrer Hauptziele, wie insbesondere die soziale Gerechtigkeit und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern und zum sozialen Fortschritt beizutragen(84).

 

144. Zweitens wurde die Meldepflicht meines Erachtens offenbar tatsächlich dazu konzipiert und ausgestaltet, aggressive Steuerplanung zu bekämpfen und Steuervermeidung und ‑hinterziehung zu verhindern. Diese Maßnahme ist meines Erachtens insbesondere dazu geeignet, zu gewährleisten, dass die Behörden relevante Informationen über potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuergestaltungen erhalten, die diese Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen, beispielsweise indem sie die rechtlichen Rahmenbedingungen ändern. Die Meldepflicht leistet somit einen wirksamen Beitrag zu dem letztlich angestrebten Ziel der Stärkung des Binnenmarkts durch Förderung einer gerechten Besteuerung und Bekämpfung bestimmter negativer Folgewirkungen, die sich aus einer höheren Mobilität innerhalb der Union ergeben können.

 

145. Insoweit möchte ich – um auf bestimmte, vom vorlegenden Gericht geäußerte Zweifel einzugehen – betonen, dass aus dem Umstand, dass einige Unionsvorschriften die Wirkung haben könnten, von bestimmten grenzüberschreitenden Tätigkeiten abzuschrecken, nicht folgt, dass diese Bestimmungen zum Ziel der Stärkung des Binnenmarkts in Widerspruch ständen. Die Errichtung des Binnenmarkts dient nämlich nicht dazu, die freie Ausübung der Handelstätigkeit mit sämtlichen Waren und sämtlichen Dienstleistungen zu fördern, sondern sicherzustellen, dass der Unionsmarkt nicht durch divergierende nationale Vorschriften zerstückelt wird(85). Wenn es das öffentliche Interesse erfordert, dürfen Unionsvorschriften zulässigerweise von bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeiten abschrecken, diese beschränken oder gänzlich verbieten(86).

 

146. Dies vorausgeschickt, sind meines Erachtens allerdings, auch angesichts des Nachdrucks, mit dem einige der Kläger des Ausgangsverfahrens die möglichen Auswirkungen der Richtlinie 2018/822 auf die von Intermediären und Steuerpflichtigen ausgeführten grenzüberschreitenden Tätigkeiten dargestellt haben, kaum erhebliche unerwünschte Auswirkungen ersichtlich. Bei den Tätigkeiten, von denen in der Tat abgeschreckt werden könnte, handelt es sich meines Erachtens erstens um solche, die rechtswidrige Gestaltungen betreffen (oder jedenfalls zu Steuerhinterziehung, ‑betrug oder ‑missbrauch führen). Es ist offensichtlich, dass weder die Steuerpflichtigen noch die Intermediäre ein Interesse daran hätten, den Steuerbehörden diese Vorgänge zu melden. Wenn dies geschähe, hätte die Richtlinie 2018/822 ganz eindeutig besonders positive Auswirkungen auf den Binnenmarkt. Zweitens könnte die Richtlinie 2018/822 auch eine gewisse abschreckende Wirkung gegenüber Tätigkeiten im Zusammenhang mit Gestaltungen haben, die sich am Rande des Gesetzes bewegen, und allgemeiner gegenüber solchen, die Lücken und Inkongruenzen in Steuervorschriften ausnutzen, damit Unternehmen wenig oder keine Steuern auf ihre Einkünfte entrichten können. Es dürfte meines Erachtens ein eindeutiges öffentliches Interesse daran bestehen, auch von solchen Gestaltungen abzuschrecken(87). Drittens ist meines Erachtens nicht nachvollziehbar, warum von Tätigkeiten von Intermediären und Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit Gestaltungen, die nicht nur rechtmäßig, sondern auch nicht aggressiv sind, allein dadurch abgeschreckt werden sollte, dass den Behörden in begrenzter Zahl Informationen hierüber zu melden sind.

 

147. Außerdem wurden in den im vorliegenden Verfahren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen keine detaillierten und konkreten Angaben zu alternativen Maßnahmen vorgetragen, mit denen dasselbe Schutzniveau für die mit der Richtlinie 2018/822 verfolgten Ziele hätte erreicht werden können und die zugleich für die betroffenen Personen weniger restriktiv gewesen wären.

 

148. Insbesondere wäre meines Erachtens mit der Einführung einer Mindestschwelle, ab der Gestaltungen meldepflichtig werden (z. B. ab einem verschafften Steuervorteil über einer bestimmten Höhe), wie von einigen Klägern des Ausgangsverfahrens vorgetragen, das vom Unionsgesetzgeber angestrebte Schutzniveau nicht gewährleistet worden. Jede meldepflichtige Gestaltung kann nämlich, unabhängig von ihrem finanziellen Wert, geeignet sein, ein erhebliches Schlupfloch in den Rechtsvorschriften offenzulegen, das, tatsächlich oder potenziell, von anderen, möglicherweise größer angelegten, Gestaltungen ausgenutzt werden kann.

 

149. Nachdem dargelegt wurde, dass die mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen geeignet sind, die vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele zu erreichen, ist als nächstes zu prüfen, ob diese Bestimmungen in einem Maß in das Privatleben einzelner Personen eingreifen, das nicht über das zur Erreichung der verfolgen öffentlichen Ziele Erforderliche hinausgeht.

 

4. Verhältnismäßigkeitsprüfung II: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

 

150. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Regelung, die das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens einschränkt, klare und präzise Regeln für ihre Tragweite und Anwendung vorsehen und Mindesterfordernisse aufstellen muss, so dass die Personen, deren personenbezogene Daten übermittelt wurden, über ausreichende Garantien gegen das Risiko eines Missbrauchs dieser Daten verfügen. Sie muss insbesondere angeben, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme, die die Verarbeitung solcher Daten vorsieht, getroffen werden darf(88).

 

151. In der vorliegenden Rechtssache komme ich aufgrund mehrerer Erwägungen zu der Ansicht, dass der Unionsgesetzgeber den Eingriff in das Privatleben von Intermediären und Steuerpflichtigen auf das beschränkt hat, was unbedingt erforderlich ist.

 

152. Erstens entsteht die Meldepflicht nur für zwei Kategorien von Personen (Intermediäre und Steuerpflichtige)(89), und zwar als Folge ihrer bewussten Entscheidung und ihres bewussten Verhaltens, deren rechtliche Folgen ihnen bekannt sind (oder sein müssten). Der persönliche Anwendungsbereich der Maßnahme ist somit auf die natürlichen und juristischen Personen beschränkt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Sachverhalten stehen, für die der Unionsgesetzgeber eine Erhöhung der Transparenz anstrebt(90). Zudem gibt es eine Ausnahme für solche Personen (Intermediäre), für die nach nationalem Recht eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht gilt(91).

 

153. Zweitens entsteht die Meldepflicht nur in bestimmten spezifischen Sachverhalten, nämlich wenn der Steuerpflichtige Dienstleistungen im Zusammenhang mit einer grenzüberschreitenden Steuergestaltung, die bestimmte Merkmale aufweist, in Auftrag gegeben oder der Intermediär solche Dienstleistungen erbracht hat. Es handelt sich dabei um – in Anhang IV der Richtlinie 2011/16 abschließend aufgeführte – Merkmale, die der Gesetzgeber als für aggressive grenzüberschreitende Gestaltungen typisch angesehen hat. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mehrere der Kennzeichen nur juristische Personen betreffen und dass einige von ihnen nur auf Gestaltungen anwendbar sind, die eine begrenzte Zahl von Steuerpflichtigen betreffen.

 

154. Das vorlegende Gericht und einige der Kläger des Ausgangsverfahrens äußern jedoch Zweifel im Hinblick auf den sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich der Meldepflicht, da i) sie zur Meldung von Gestaltungen an die Behörden verpflichte, die möglicherweise rechtmäßig und/oder nicht aggressiv seien und/oder nicht aus steuerlichen Gründen erstellt worden seien, und ii) sie nicht nur Steuerpflichtige, sondern auch Intermediäre belaste.

 

155. Diese Zweifel teile ich nicht.

 

156. Würde nämlich die Meldepflicht zur Meldung rechtswidriger Gestaltungen verpflichten, wäre Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 wegen Verstoßes gegen das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ungültig, das Bestandteil der in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Verteidigungsrechte ist(92). Dieser Punkt wurde von einigen der Kläger des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung ganz deutlich gemacht. Meines Erachtens ist es somit etwas verwirrend, dass sie zugleich beanstanden, dass die Richtlinie Intermediäre zur Vorlage rechtmäßiger Informationen verpflichte.

 

157. Jedenfalls steht der Umstand, dass die zu meldenden Informationen durchaus rechtmäßige Transaktionen betreffen können, mit dem mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziel im Einklang. Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 soll die Transparenz erhöhen, indem den Steuerbehörden Informationen über bestimmte steuerliche Gestaltungen zur Verfügung gestellt werden; mit ihm ist keine implizite (positive oder negative) Bewertung der Rechtmäßigkeit dieser Gestaltungen oder der Einhaltung etwa der einschlägigen Steuer- und Finanzvorschriften durch die Steuerpflichtigen oder Intermediäre verbunden(93).

 

158. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann das bloße Bestreben eines Steuerpflichtigen, das vorteilhafteste Steuersystem zu finden, indem er von den Freiheiten des Binnenmarkts Gebrauch macht, nicht generell die Vermutung eines Betrugs oder Missbrauchs begründen oder diesem Steuerpflichtigen seine sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte oder Vorteile nehmen(94). Es steht also außer Frage, dass Steuerpflichtige, wie von den Klägern des Ausgangsverfahrens vorgetragen, für ihre Geschäftstätigkeiten zulässigerweise „den Weg der günstigsten Besteuerung“ wählen können, sofern sie sich innerhalb dessen bewegen, was nach dem einschlägigen Unionsrecht und den einschlägigen nationalen Rechten rechtmäßig ist.

 

159. Hierdurch sind die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran gehindert, zu der Ansicht zu gelangen, dass ihre nationalen Rechtsvorschriften, insbesondere aufgrund ihrer Wechselwirkung mit den nationalen Rechtsvorschriften der anderen Mitgliedstaaten und den Unionsvorschriften über die Verkehrsfreiheiten, möglicherweise Schlupflöcher aufweisen, die ein regulierendes Eingreifen erfordern. Es geht insoweit insbesondere um Sachverhalte, die zwar rechtmäßig sind, aber möglicherweise zu einer zu geringen Besteuerung bestimmter Steuerpflichtiger führen, oder um solche, die Steuerpflichtigen eine Steuerhinterziehung, einen Steuerbetrug oder einen Steuermissbrauch erleichtern.

 

160. Ferner ist im Blick zu behalten, dass die Richtlinie 2018/822 im Anschluss an die Arbeiten der OECD zu Strategien der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung erlassen wurde, die nach allgemeiner Ansicht sowohl rechtmäßige als auch rechtswidrige Praktiken erfassen. Auch wenn die von Denis Healey(95) formulierte Aussage eine Übertreibung sein mag, dass „der Unterschied zwischen [rechtmäßiger] Steuervermeidung und [rechtswidriger] Steuerhinterziehung in der Dicke einer Gefängnismauer liegt“, lässt sich doch kaum bestreiten, dass der Grat dazwischen bisweilen schmal ist.

 

161. Daher ist es zur Erreichung der verfolgten Ziele von entscheidender Bedeutung (und unvermeidlich), dass von der Meldepflicht Gestaltungen erfasst werden, die bestimmte Merkmale aufweisen, ohne dass diese Elemente zwangsläufig für eine Rechtswidrigkeit oder Missbräuchlichkeit der Gestaltung sprechen müssten.

 

162. Letztlich beruht das gesamte Steuersystem sowohl in der Europäischen Union als auch andernorts auf Melde- und Offenlegungspflichten, die den Steuerpflichtigen im Hinblick auf Informationen über Tätigkeiten auferlegt werden, von deren Rechtmäßigkeit grundsätzlich ausgegangen wird. Das Steuerwesen ist selbstverständlich nicht der einzige Bereich, in dem Einzelpersonen und Unternehmen verpflichtet sind, der öffentlichen Verwaltung bestimmte Informationen über ihre privaten oder beruflichen Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen, um den Behörden beispielsweise die Möglichkeit zu geben, diese Informationen in spezielle Register aufzunehmen und zu speichern(96), vorab oder nachträglich zu prüfen, ob die Tätigkeit in Übereinstimmung mit rechtlichen Anforderungen ausgeübt wird(97) oder umgehend zu reagieren, wenn sich ein Unfall ereignen sollte(98).

 

163. Aus denselben Gründen ist meines Erachtens nicht als problematisch anzusehen, dass die Meldepflicht sich auch auf Gestaltungen erstrecken kann, die möglicherweise weder „aggressiv“ noch durch die Aussicht auf Erlangung eines bestimmten Steuervorteils motiviert sind(99).

 

164. Vom Standpunkt des Unionsgesetzgebers betrachtet, „[haben sich a]ggressive Steuerplanungsgestaltungen … über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird“. Es sei daher wirksamer, „potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren“(100).

 

165. Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben diese Erwägungen nicht bestritten, die meines Erachtens jedenfalls nicht unangemessen erscheinen. Dass der sachliche Anwendungsbereich der Meldepflicht gewissermaßen zu viele Fälle erfasst, ist demnach meines Erachtens erforderlich, damit sie tatsächlich wirksam ist.

 

166. Auch das Vorbringen einiger Kläger des Ausgangsverfahrens, dass es ausgereicht hätte, die Steuerpflichtigen zur Vorlage der erforderlichen Informationen zu verpflichten, ist meines Erachtens nicht überzeugend. Insoweit verweise ich auf die Schlussanträge von Generalanwalt Rantos in der Rechtssache Orde van Vlaamse Balies und Belgian Association of Tax Lawyers, wo er die „zentrale Rolle [der Intermediäre] bei der Konzeption von aggressiven Steuerplanungsgestaltungen“ hervorhob und vor diesem Hintergrund dem Unionsgesetzgeber darin zustimmte, dass „das Meldesystem wesentlich weniger wirksam gewesen wäre, wenn es dem Steuerpflichtigen selbst obliegen würde, gegenüber den Steuerbehörden seine eigene Entscheidung zu melden, eine ‚aggressive Gestaltung‘ zu verwenden“(101).

 

167. Der Grund hierfür ist, dass die Intermediäre normalerweise diejenigen sind, die über die zu meldenden Gestaltungen am besten unterrichtet und somit ideal in der Lage sind, die relevanten Informationen richtig und vollständig vorzulegen. Zudem sind Intermediäre in der Regel Angehörige reglementierter Berufe, deren Tätigkeiten durch verschiedene nationale Regelwerke (einschließlich Standesregeln) und teils auf der Grundlage einer Selbstverwaltung geregelt sind und vielfach nach internationalen Standards ausgeübt werden. Daher kann ihre Vereinbarkeit mit rechtlichen Anforderungen (einschließlich Offenlegungspflichten) leichter überwacht werden, und es können im Fall der Feststellung eines Verstoßes wirksame Sanktionen verhängt werden.

 

168. Drittens erscheinen Quantität und Qualität der den Behörden zur Verfügung zu stellenden Informationen auch zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich. Die in Art. 8ab Abs. 14 der Richtlinie 2011/16 aufgeführte Liste von Informationen(102) ist in der Menge relativ begrenzt, beinhaltet nur grundlegende personenbezogene Daten und besteht hauptsächlich aus geschäftsbezogenen Informationen. Unter den aufgeführten Punkten findet sich auch keiner, der mit dem Ziel und Zweck der Meldepflicht offensichtlich in keinem Zusammenhang stände. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen erlauben die den Behörden zu übermittelnden Informationen ihnen keine spezifischen Rückschlüsse auf das Privatleben der betreffenden natürlichen Personen (Steuerpflichtige und Intermediäre)(103).

 

169. Viertens gibt es klare Grenzen dafür, welche Behörden Zugang zu den Informationen erhalten können, die von den betroffenen Intermediären und Steuerzahlern offengelegt und innerhalb des Netzes der Behörden ausgetauscht werden(104), nämlich die von jedem einzelnen Mitgliedstaat ausdrücklich als „zuständig“ benannten Behörden(105). Der Kommission ihrerseits wird nur zu einem Teil der ausgetauschten Informationen Zugang gewährt(106), und zwar in erster Linie zur Überwachung des ordnungsgemäßen Funktionierens des mit der Richtlinie 2018/822 errichteten Systems und zu statistischen Zwecken(107). Es ist meines Erachtens davon auszugehen, dass die zur Verfügung gestellten Informationen vertraulich behandelt werden müssen und grundsätzlich nicht an Dritte weitergegeben werden dürfen(108).

 

170. Fünftens wird im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 – wenngleich eher allgemein – auch angegeben, in welcher Weise die Informationen von den zuständigen Behörden verwendet werden können, nämlich „um die Behörden in die Lage [zu] versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen“.

 

171. Sechstens gibt es eine Reihe von Garantien gegen einen unrechtmäßigen Zugang(109) und vor allem gegen eine unrechtmäßige Nutzung personenbezogener Daten. Insbesondere sieht Art. 25 der Richtlinie 2011/16 vor, dass die Vorschriften der Datenschutz-Grundverordnung(110) und des Datenschutzrahmens für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union(111) grundsätzlich auf den Informationsaustausch und die Verarbeitung personenbezogener Daten nach den Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 anwendbar bleiben. Die von der BATL und vom OBFG vorgetragenen Argumente zum angeblichen Fehlen von Regelungen zur Speicherung oder Verwendung der Daten und von Garantien gegen Missbrauch sind daher meines Erachtens nicht überzeugend.

 

172. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen geht die Meldepflicht meines Erachtens nicht über das zur Erreichung der vom Unionsgesetzgeber verfolgen Ziele Erforderliche hinaus.

 

5. Verhältnismäßigkeitsprüfung III: Interessenabwägung

 

173. Schließlich stellen die mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Bestimmungen meines Erachtens einen gerechten Ausgleich zwischen den betroffenen Interessen her.

 

174. Das mit diesen Bestimmungen verfolgte öffentliche Interesse ist, wie oben in den Nrn. 142 und 143 erwähnt, für die Europäische Union von größter Bedeutung. Dies gilt umso mehr in der heutigen globalisierten Welt, in der aktuellen Studien zufolge der Abstand zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren erheblich größer geworden ist(112).

 

175. Insoweit erscheint der durch die Meldepflicht bewirkte Eingriff in das Privatleben der Intermediäre und Steuerpflichtigen aus den oben dargelegten Gründen eher begrenzt. Zudem ist die Gesamtzahl der Fälle, in denen dieser Eingriff erfolgt, ebenfalls gering. Beispielsweise hat die belgische Regierung vorgetragen, dass bei ihr in den vergangenen Jahren weniger als 1 000 Mitteilungen nach Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 eingegangen seien, während jedes Jahr Millionen gewöhnlicher Steuererklärungen eingingen.

 

176. Es mag auch sinnvoll sein, hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber bestrebt war, die Unannehmlichkeiten für diejenigen, die zur Vorlage der betreffenden Informationen verpflichtet sind, so gering wie möglich zu halten(113). So sind beispielsweise die Beschreibung der meldepflichtigen Gestaltung – die nach meinem Verständnis den wesentlichen Teil der Meldung darstellt – in Form einer Zusammenfassung und ihre Elemente und die relevanten Geschäftstätigkeiten nur „in abstrakt gehaltener Form“ anzugeben(114). Daher ist die Behauptung des OBFG zurückzuweisen, die Meldepflicht verpflichte Intermediäre dazu, den Behörden ihre Beratung offenzulegen.

 

177. Darüber hinaus wollte der Unionsgesetzgeber auch unnötigen Mehraufwand für Steuerpflichtige und Intermediäre insbesondere dadurch vermeiden, dass er Ausnahmen von der Meldepflicht zugelassen hat, wenn in Bezug auf dieselbe Gestaltung für mehrere Personen oder in mehreren Mitgliedstaaten eine Meldepflicht besteht(115) oder eine Meldung möglicherweise einer bereits vorgelegten Meldung entspricht(116).

 

178. Schließlich ist vor allem hervorzuheben, dass Intermediäre nicht dazu verpflichtet sind, Informationen „nachzujagen“, die zwar meldepflichtig sind, die sie jedoch möglicherweise gar nicht haben. Nach Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 sind sie nur zur Vorlage „der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen“ Informationen verpflichtet. Demzufolge kann ich mich dem Vorbringen der BATL nicht anschließen, dass die Meldepflicht Intermediäre zu einer zeit- und kostenaufwändigen Tätigkeit verpflichte, um die relevanten Informationen zu ermitteln und zu übermitteln.

 

179. Ich teile auch nicht die Ansicht des OBFG, dass die Meldepflicht unverhältnismäßig sei, weil einige der zu meldenden Daten von den Steuerbehörden solchen Daten entnommen werden könnten, die aufgrund von Bestimmungen anderer Rechtsinstrumente von den Steuerpflichtigen zur Verfügung gestellt und/oder zwischen den Behörden ausgetauscht würden(117).

 

180. In der Folgenabschätzung (Abschnitt 2 und Anhang 5) sowie in der Begründung (Abschnitt 1) wird erläutert, warum die aufgrund der anderen „DAC“- und „ATAD“‑Instrumente(118) erhobenen Informationen weder klar noch umfassend sind. Das Vorbringen des OBFG lässt jede eingehende Erläuterung dazu vermissen, warum die Richtlinie 2018/822 einen unnötigen Doppelaufwand für Steuerpflichtige oder Intermediäre schaffen sollte, und beschränkt sich darauf, lediglich auf bestimmte einzelne Informationen unter den in Art. 8ab Abs. 14 der Richtlinie 2011/16 aufgeführten Informationen zu verweisen, die den Behörden nur in einigen der in Anlage IV vorgesehenen Fällen zur Verfügung gestellt werden, und bezieht sich nur auf bestimmte Steuern. Zudem räumt der OBFG selbst ein, dass einige seiner Behauptungen, wonach die Behörden bereits Zugang zu bestimmten meldepflichtigen Informationen hätten, lediglich „wahrscheinlich“ seien.

 

181. Meines Erachtens ist ganz eindeutig, dass die Grundsätze der guten Verwaltung und der Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit der öffentlichen Verwaltung einschränken, von natürlichen und juristischen Personen die Vorlage von Informationen zu verlangen, die beispielsweise für die Verwaltung irrelevant oder nicht erforderlich sind, die bereits im Besitz der Verwaltung sind oder die zu einem unzumutbaren Aufwand oder zu übermäßigen Kosten für die Erhebung, Organisation und Übermittlung durch die betroffenen Personen führen können(119). Dies ist jedoch bei Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 eindeutig nicht der Fall: Die Steuerbehörden wären nicht nur nicht in der Lage, verschiedene Einzelinformationen, die aufgrund verschiedener Rechtsinstrumente erhoben werden, „miteinander zu verknüpfen“, sondern es würden, wie bereits erwähnt, auch signifikante Einzelinformationen fehlen, so dass diese Behörden sich kein vollständiges Bild von den betreffenden Gestaltungen machen könnten.

 

182. Im Licht der vorstehenden Ausführungen komme ich zu dem Ergebnis, dass Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 nicht dadurch gegen Art. 7 der Charta verstößt, dass er zu einem unzulässigen Eingriff in das Recht auf Privatleben der Intermediäre und Steuerpflichtigen führt.

 

D. Vierte Frage: Achtung des Privatlebens (Anwendungsbereich der Befreiung)

 

183. Mit seiner vierten Frage schließlich ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um eine Prüfung der Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta, soweit die erstgenannte Bestimmung Intermediäre, die aufgrund einer nach nationalem Recht bestehenden beruflichen Geheimhaltungspflicht das Recht auf Befreiung haben, dazu verpflichtet, einen anderen Intermediär, der nicht ihr Mandant ist, über die diesem Intermediär obliegenden Meldepflichten nach der Richtlinie 2011/16 zu unterrichten.

 

184. Diese Frage entspricht weitgehend derjenigen, die in der Rechtssache vorgelegt wurde, in der das Urteil Orde van Vlaamse Balies ergangen ist und in der der Gerichtshof festgestellt hat, dass Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 gegen Art. 7 der Charta verstieß und daher ungültig war, soweit die Verpflichtung von Rechtsanwälten, für die eine Befreiung gilt, zur Unterrichtung anderer Intermediäre dazu führte, dass die Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs und der Umstand, dass er von dem Mandanten konsultiert wurde, offengelegt werden mussten.

 

185. Die in der vorliegenden Rechtssache vorgelegte Frage weicht in ihrer Fassung indes von der in der früheren Rechtssache gestellten Frage etwas ab. An die Stelle der Formulierung „Rechtsanwalt, der als Intermediär auftritt“ tritt nämlich die Formulierung „ein Intermediär, der nach dem Recht dieses Mitgliedstaats einem strafbewehrten Berufsgeheimnis unterliegt“.

 

186. Demnach möchte das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache geklärt wissen, i) ob das Recht auf Befreiung aufgrund eines Berufsgeheimnisses nach Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 auf Rechtsanwälte beschränkt ist oder auch Angehörigen anderer Kategorien von Berufen gewährt werden kann, wenn für diese nach nationalem Recht ein solcher Schutz gilt, und ii) ob im letzteren Fall Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 wegen Verstoßes gegen Art. 7 der Charta ungültig ist, soweit er diese Berufsangehörigen dazu verpflichtet, andere Intermediäre über ihre Meldepflicht zu unterrichten und damit ihre Identität und den Umstand, dass sie konsultiert wurden, offenzulegen.

 

187. Diese beiden Fragestellungen werde ich nacheinander prüfen.

 

1. Persönlicher Anwendungsbereich des Rechts auf Befreiung

 

188. Die erste aufgeworfene Fragestellung ist, ob die Mitgliedstaaten nach Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 eine Befreiung nur Rechtsanwälten oder auch Angehörigen anderer Kategorien von Berufen gewähren können, die einer Form eines Berufsgeheimnisses nach nationalem Recht unterliegen.

 

189. Die Auslegungszweifel ergeben sich in erster Linie daraus, dass eine grammatikalische und vergleichende Analyse von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 keine eindeutige Antwort auf diese Frage liefert.

 

190. Zum einen enthalten die meisten Sprachfassungen dieser Bestimmung allgemeine Begriffe und erfassen somit nicht nur die Rechte auf Vertraulichkeit, die Rechtsanwälten zuerkannt werden(120). Außerdem könnte angenommen werden, dass eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs des Rechts auf Befreiung im Einklang damit steht, dass i) dieser Anwendungsbereich durch Verweisung auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt wird und ii) in [der englischen Fassung von] Abs. 2 dieser Bestimmung der allgemeine Begriff im Plural verwendet wird: „professions [deutsche Fassung: Beruf]“.

 

191. Zum anderen gibt es jedoch eine erhebliche Zahl von Sprachfassungen (Griechisch, Englisch, Maltesisch, Rumänisch und Finnisch), die einen Begriff enthalten, der für Rechtsanwälte spezifisch ist. Darüber hinaus wäre zwar eine Auslegung des Begriffs dahin, dass er sich auf Rechtsanwälte beschränkt, mit allen Sprachfassungen vereinbar, umgekehrt wäre dies indes nicht der Fall. Außerdem wird in Art. 8ab Abs. 14 (in der griechischen, der englischen, der maltesischen, der rumänischen und der finnischen Fassung) der Begriff Berufsgeheimnis und nicht der Begriff gesetzliche „Verschwiegenheitspflicht“ [„legal professional privilege“] verwendet, was darauf schließen lassen könnte, dass der in Abs. 5 derselben Bestimmung verwendete Begriff eine sehr spezifische Konnotation und infolgedessen einen engeren Anwendungsbereich hat.

 

192. Leider sind weder einer kontextuellen und entstehungsgeschichtlichen Auslegung von Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 noch einer Untersuchung der späteren Praxis der Mitgliedstaaten eindeutige Hinweise zu entnehmen.

 

193. Erstens ergibt eine Prüfung der Richtlinien 2011/16 und 2018/822 in ihrer Gesamtheit kaum Anhaltspunkte für den persönlichen Anwendungsbereich der Befreiung. Was die Richtlinie 2011/16 angeht, findet sich die einzige Erwähnung der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht in Art. 8ab Abs. 5 selbst. Darüber hinaus geben die Erwägungsgründe der Richtlinie 2018/822 keinen weiteren Aufschluss über den Begriff, da der Ausdruck „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ nur im achten Erwägungsgrund der Richtlinie verwendet wird, der jedoch für seine Auslegung keine sachdienlichen Anhaltspunkte enthält.

 

194. Zweitens geben auch die von den Beteiligten angeführten Vorarbeiten keine klare Richtung vor. Einige Passagen der Folgenabschätzung dürften jedoch darauf hindeuten, dass aus Sicht der Kommission mit dem Begriff „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht [legal professional privilege]“, der in ihrem Richtlinienvorschlag enthalten war, nur diejenige gemeint war, die für Rechtsanwälte anerkannt ist(121). Die Kommission trägt insoweit ergänzend vor, dass der Wortlaut des Vorschlags, der von ihren Dienststellen erarbeitet und dem Kollegium der Kommissionsmitglieder zur Annahme vorgeschlagen worden sei, in englischer Sprache verfasst gewesen sei (und den technischen Begriff „legal professional privilege [gesetzliche Verschwiegenheitspflicht]“ enthalten habe).

 

195. Insoweit lässt sich kaum bestreiten, dass der Begriff „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht [legal professional privilege]“ sich spezifisch auf die Tätigkeiten von Rechtsanwälten bezieht, indem die Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant mit einem Vertraulichkeitsschutz versehen wird. Diese Spezifizität wird u. a. durch die Rechtsprechung der Unionsgerichte(122) und des EGMR(123) bestätigt. Nach meiner Kenntnis gilt dies auch auf globaler Ebene(124). So stellte sich beispielsweise in mehreren Rechtsordnungen die Frage, ob Steuerberater eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht für die Beratung von Mandanten in Rechtsfragen in Anspruch nehmen können, diese Forderung wurde jedoch, zumindest in den mir bekannten Fällen, durchgängig abgelehnt(125).

 

196. Dieser restriktive Ansatz in Bezug auf den Begriff „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ steht offenbar auch im Einklang mit den historischen Fundamenten dieses Grundsatzes. Wie von Generalanwalt Poiares Maduro ausgeführt, „[sind] Spuren dieses Geheimnisses … ‚in allen Demokratien‘ und in allen Epochen zu finden … So gesehen [ist] das anwaltliche Berufsgeheimnis ganz einfach deswegen in der Rechtsordnung der Gemeinschaft anzuerkennen, weil seine Wurzeln bis in die Fundamente der europäischen Gesellschaft reichten.“(126) Diese Ansicht findet sich offenbar auch im Schrifttum bestätigt(127).

 

197. Wie ausgeführt, werden der Begriff „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ und seine eng mit ihm verbundenen Entsprechungen jedoch nur in einigen Sprachfassungen der Richtlinie 2011/16 verwendet. Dieser Gesichtspunkt ist somit zwar von großer Bedeutung, kann aber nicht als allein ausschlaggebend betrachtet werden.

 

198. Drittens geben die detaillierten Angaben, die der Rat und die Kommission in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs danach vorgelegt haben, wie die Mitgliedstaaten Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 auf nationaler Ebene umgesetzt haben, keinen klaren Aufschluss. Die Möglichkeit, eine Befreiung zu erhalten, wurde nämlich von zahlreichen Mitgliedstaaten nicht auf Rechtsanwälte beschränkt. Eine Reihe weiterer Mitgliedstaaten hat jedoch in den zur Umsetzung ergangenen nationalen Regelungen nicht definiert, für welche Berufe genau eine Befreiung gelten kann, da in den relevanten Bestimmungen einfach auf die Regelungen des Berufsgeheimnisses verwiesen wird, die in sektorspezifischen Rechtsvorschriften enthalten sind. Damit wird nach meinem Verständnis die Möglichkeit eröffnet, dass Angehörige anderer Kategorien von Berufen eine Befreiung in Anspruch nehmen können, wenn die nationalen Rechtsvorschriften dies vorsehen.

 

199. Im Licht der vorstehenden Ausführungen muss ich zu dem Ergebnis kommen, dass sich im Wege einer grammatikalischen, vergleichenden, kontextuellen und entstehungsgeschichtlichen Auslegung von Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 sowie einer Prüfung seiner Umsetzung auf nationaler Ebene nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmen lässt, welche Bedeutung dem Begriff „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ (bzw. den in den anderen Sprachfassungen der Richtlinie enthaltenen entsprechenden Formulierungen) zukommt. In diesem Fall eines relativen Mangels an Klarheit dürften meines Erachtens zur Klärung der richtigen Auslegung dieses Begriffs das Ziel und der Zweck der Richtlinie 2018/822 heranzuziehen sein.

 

200. Wie oben in Nr. 25 ausgeführt, besteht das Ziel der Richtlinie 2018/822 darin, die Transparenz im Bereich der Besteuerung zu erhöhen, indem den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ermöglicht wird, umfassende Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen zu erhalten, um diese Behörden in die Lage zu versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen, beispielsweise indem durch den Erlass von Rechtsvorschriften Schlupflöcher in den rechtlichen Rahmenbedingungen geschlossen werden. Zu diesem Zweck führt die Richtlinie 2018/822 eine verpflichtende Offenlegungsregelung ein, die mit einem automatischen Informationsaustausch zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten verknüpft ist.

 

201. Vor diesem Hintergrund dürften meines Erachtens sechs voneinander unabhängige Gründe für eine Auslegung des Begriffs „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ sprechen, wonach diese grundsätzlich auf den Schutz der Vertraulichkeit beschränkt ist, der typischerweise für Rechtsanwälte anerkannt wird.

 

202. Erstens beruht die mit der Richtlinie 2018/822 eingeführte verpflichtende Offenlegungsregelung, wie oben in den Nrn. 166 und 167 erläutert, grundsätzlich auf der Meldepflicht für die Intermediäre. Wie von Generalanwalt Rantos ausgeführt, „stellt [die Meldepflicht der Intermediäre] den Eckpfeiler dieses Systems dar, und jede Beschränkung seines Funktionierens könnte den Kern der Ziele der Richtlinie 2011/16 beeinträchtigen“(128). Die Meldepflicht, die die Steuerpflichtigen selbst trifft, steht nämlich innerhalb der Systematik der Richtlinie 2018/822 eindeutig nur an „zweitbester“ Stelle(129).

 

203. Dem schließe ich mich an. Würde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gewährt, verschiedenen Kategorien von Intermediären Befreiungen zu gewähren, könnte damit die Wirksamkeit des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems erheblich beeinträchtigt werden. Schon wenn Angehörigen einer oder weniger spezifischer Kategorien von Berufen (wie etwa Wirtschafts- und Rechnungsprüfern und/oder Steuerberatern) eine Befreiung gewährt würde, wäre nämlich ein erheblicher Anteil der natürlichen und juristischen Personen, die unter die Definition der „Intermediäre“ fallen, von der Meldepflicht ausgenommen.

 

204. Dieses Problem wird offenbar dadurch verstärkt, dass in die Richtlinie 2018/822 keine echten Kriterien, spezifischen Anforderungen oder Einschränkungen für die Kategorien von Berufsangehörigen, denen die Mitgliedstaaten eine Befreiung gewähren können, aufgenommen wurden(130). Der Verweis auf die nationalen Rechtsvorschriften wäre insoweit vollständig und vorbehaltlos, was dazu führen würde, dass die Mitgliedstaaten in diesem Punkt über einen nahezu unbegrenzten Beurteilungsspielraum verfügen würden.

 

205. Zweitens käme es dann, wenn den Mitgliedstaaten völlig freigestellt wäre, für welche Kategorien von Berufsangehörigen eine Befreiung gelten könnte, wohl auch zu einer gewissen Verzerrung im Binnenmarkt. Aufgrund der „variablen Geometrie“ der Anwendung von Art. 8ab Abs. 5 die Richtlinie 2011/16 könnten sich einige Berufsangehörige in diesem Bereich veranlasst sehen, sich in einem derjenigen Mitgliedstaaten niederzulassen, nach dessen nationalen Rechtsvorschriften ihnen eine Freistellung von der Meldepflicht (und somit vom Risiko von Sanktionen) gewährt würde. Dies könnte, wenn einige Mitgliedstaaten in diesem Bereich besonders liberal sein sollten, auch zur Entstehung bestimmter „sicherer Häfen“ innerhalb der Europäischen Union für Berufsangehörige führen, die auf aggressive Steuergestaltungen spezialisiert sind.

 

206. Drittens würde mit einem weiten Anwendungsbereich der Befreiung ein Unterschied eingeführt zwischen einerseits dem Unionssystem und andererseits i) dem System, das in den mit ihm im Zusammenhang stehenden OECD-Maßnahmen vorgesehen war, auf die die Richtlinie 2018/822 aufbaute(131), da diese Maßnahmen Ausnahmen von den Offenlegungsregeln nur dann vorsehen, wenn sie zum Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant erforderlich sind(132), und ii) den drei verpflichtenden Offenlegungsregelungen, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten bestanden, als die Richtlinie 2018/822 von der Kommission vorgeschlagen und dann auf der Ebene des Rates verhandelt wurde (nämlich in Irland, Portugal und dem Vereinigten Königreich).

 

207. Nach Anhang 7 der Folgenabschätzung, der die Hauptmerkmale des irischen und portugiesischen Systems sowie des Systems des Vereinigten Königreichs darstellte, enthielten nämlich alle drei Systeme eine Ausnahme von der Meldepflicht, die auf Rechtsanwälte beschränkt war. Insoweit ist ferner von Interesse, dass sowohl die belgische Regierung als auch der Rat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen haben, dass das zu jenem Zeitpunkt im Vereinigten Königreich geltende Offenlegungssystem in den zum Erlass der Richtlinie 2018/822 führenden Verhandlungen eines der hauptsächlichen Modelle gewesen sei.

 

208. Viertens hat der Rat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass im Gesetzgebungsverfahren davon ausgegangen worden sei, dass den Mitgliedstaaten hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Befreiung ein gewisser Entscheidungsspielraum belassen werden müsse, um die Vorgaben der Charta und der Rechtsprechung des EGMR erfüllen zu können. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass weder die Charta noch die Rechtsprechung des EGMR dazu verpflichten, den Schutz der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht auf andere Berufe als den des Rechtsanwalts zu erstrecken. Auch wenn der Rat zur Frage der richtigen Auslegung von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2018/822 nicht förmlich Stellung genommen hat, sprechen seine Ausführungen somit für die Ansicht, dass der Unionsgesetzgeber dem von der Kommission vorgeschlagenen restriktiven Ansatz in der Frage des Anwendungsbereichs der Befreiung folgen wollte.

 

209. Fünftens dürfte eine restriktive Auslegung des Begriffs „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ eher mit dem anerkannten Auslegungsgrundsatz im Einklang stehen, wonach Ausnahmen von unionsrechtlichen Regelungen mit allgemeiner Geltung eng auszulegen sind(133). Dies erscheint mir in der vorliegenden Rechtssache umso angebrachter, als die in Rede stehende Ausnahme, wie oben in den Nrn. 166, 167 und 202 ausgeführt, einen zentralen Aspekt des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems berührt, nämlich die Verpflichtung der Intermediäre. Eine weite Auslegung derselben könnte somit potenziell erhebliche Auswirkungen darauf haben, inwieweit die vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele mit diesem System erreicht werden können(134).

 

210. Einer weiten und flexiblen Auslegung des persönlichen Anwendungsbereichs der Befreiung dürfte die klare Position des Europäischen Parlaments entgegenstehen, das, wie im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie angeführt, „zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen [hat], die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können“.

 

211. Sechstens und abschließend wird eine restriktive Auslegung des Begriffs „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ offenbar mittelbar durch das Urteil des Gerichtshofs Orde van Vlaamse Balies gestützt.

 

212. In jenem Urteil begann der Gerichtshof seine Prüfung mit der Auslegung von Art. 7 der Charta im Licht der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 Abs. 1 EMRK, einer Bestimmung, die „die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt, und … dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zu[weist]“. Ebenso wie die Bestimmung der EMRK, so stellte der Gerichtshof fest, „[umfasst auch Art. 7 der Charta] nicht nur die Verteidigungstätigkeit, sondern auch die Rechtsberatung [und] garantiert … das Geheimnis dieser Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz“. Der Gerichtshof stellte daher fest, dass „[a]bgesehen von Ausnahmefällen [Mandanten] mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren“(135).

 

213. Dies vorausgeschickt, betonte der Gerichtshof im Weiteren, dass der „besondere Schutz“, den Art. 7 der Charta dem anwaltlichen Berufsgeheimnis zuerkennt, „dadurch gerechtfertigt [wird], dass den Rechtsanwälten in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen … Diese grundlegende Aufgabe umfasst zum einen das Erfordernis, dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber …“(136)

 

214. Die Gründe, die den Gerichtshof veranlasst haben, der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht im Rahmen des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems weitreichenden Schutz zuzuerkennen, gelten meines Erachtens nicht für die Tätigkeiten von Berufsangehörigen (wie Rechnungs- und Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern), die nicht am System der Rechtspflege beteiligt sind und für deren Kommunikation mit ihren Mandanten somit nach Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK kein verstärkter Schutz ihrer Vertraulichkeit gilt.

 

215. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt meines Erachtens, dass der Begriff „gesetzliche Verschwiegenheitspflicht“ im Sinne von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 restriktiv auszulegen ist und sich ausschließlich auf Rechtsanwälte bezieht.

 

216. Es könnte zwar eingewendet werden, dass diese Auslegung möglicherweise in bestimmten, in jener Vorschrift verwendeten Begriffen („Beruf[e] [professions]“) nicht voll zum Ausdruck komme und nicht im Einklang damit stehe, dass die Vorschrift zur Bestimmung des genauen Anwendungsbereichs des Schutzes auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten verweise.

 

217. Diese Einwände sind jedoch nicht überzeugend.

 

218. Wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, gibt es in einigen nationalen Systemen verschiedene Berufsangehörige, die die Definition des „Rechtsanwalts“ erfüllen und deren Kommunikation mit Mandanten nach nationalem Recht als vertraulich geschützt ist(137). Ein offensichtliches Beispiel ist das irische Rechtssystem, in dem es Solicitors und Barristers gibt. Darüber hinaus erstrecken bestimmte Länder den Vertraulichkeitsschutz, grundsätzlich oder im Fall einer Kammerzulassung, auf die Tätigkeiten unternehmensinterner Rechtsberater. Schließlich können nicht zuletzt der Gegenstand des Schutzes (Art der Kommunikation), der Umfang des Schutzes (beispielsweise mögliche Grenzen der Vertraulichkeit oder Ausnahmen für bestimmte Rechtsbereiche) auch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sein(138).

 

219. Zudem sehen einige nationale Systeme Sonderfälle vor, in denen ausnahmsweise auch Personen, die keine Rechtsanwälte sind (wie beispielsweise Universitätsprofessoren oder Steuerberater), Rechtsanwälten gleichgestellt werden und somit zur Rechtsberatung und gerichtlichen Vertretung von Mandanten befugt sind. In diesen (begrenzten) Fällen darf meines Erachtens auch für diese Berufsangehörigen das Recht auf eine Befreiung nach Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 gelten.

 

220. Diese Erwägungen mögen daher den Wortlaut der Bestimmung erklären.

 

221. Im Licht der vorstehenden Ausführungen können die Mitgliedstaaten meines Erachtens nach Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2018/822 Intermediären das Recht auf Befreiung von der Vorlage von Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen nur dann einräumen, wenn die Meldepflicht gegen die gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde, die nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats für Rechtsanwälte oder andere, in Ausnahmefällen Rechtsanwälten gleichgestellte Berufsangehörige anerkannt wird.

 

2. Rechtmäßigkeit der Pflicht zur Unterrichtung anderer Intermediäre

 

222. Sollte der Gerichtshof mit meiner vorstehenden Würdigung übereinstimmen, bedürfte die im Rahmen der fünften Frage des vorlegenden Gerichts aufgeworfene zweite Fragestellung keiner Beantwortung mehr. Sollte der Gerichtshof dagegen insoweit nicht mit mir übereinstimmen und der Auffassung sein, dass die Mitgliedstaaten Berufsangehörigen, die keine Rechtsanwälte sind, auch unter Umständen, die über die oben erläuterten hinausgehen, Befreiungen gewähren können, müsste er auch auf diese Fragestellung eingehen.

 

223. Im Unterschied zur fünften Frage des vorlegenden Gerichts betrifft seine vierte Frage einen spezifischen Aspekt des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems, nämlich die Verpflichtung von Intermediären (die keine Rechtsanwälte sind), für die eine Befreiung gilt, zur Unterrichtung anderer Intermediäre über die ihnen möglicherweise(139) obliegende Meldepflicht nach Art. 8ab der Richtlinie 2011/16. Fraglich ist somit, ob dieser spezifische Aspekt des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems zu einem ungerechtfertigten Eingriff in das Recht der Intermediäre nach Art. 7 der Charta führt, dass ihre Identität und der Umstand, dass sie von dem Mandanten konsultiert wurden, vertraulich behandelt werden.

 

224. Meines Erachtens ist diese Frage zu verneinen.

 

225. Wie oben in den Nrn. 132 bis 134 dargelegt, führen die mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Regelungen meines Erachtens unzweifelhaft zu einem Eingriff in die durch Art. 7 der Charta geschützten Rechte der Intermediäre, insbesondere das Recht auf Wahrung der Vertraulichkeit ihrer beruflichen Kommunikation(140). Ebenso ist dieser Eingriff jedoch meines Erachtens durch die dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen, die mit den betreffenden Rechtsvorschriften verfolgt werden, gerechtfertigt.

 

226. Was den spezifischen Aspekt angeht, auf den sich die vierte Vorlagefrage bezieht, komme ich zum gleichen Ergebnis. Wie oben in den Nrn. 211 bis 213 erläutert, ergibt sich der verstärkte Schutz, den der Gerichtshof für die gesetzliche Verschwiegenheitspflicht im Urteil Orde van Vlaamse Balies anerkannt hat, aus der spezifischen Funktion, die Rechtsanwälte im Bereich der Beratung und Vertretung von Mandanten wahrnehmen. Berufsangehörige wie Rechnungs- und Wirtschaftsprüfer und Steuerberater üben eine solche Funktion jedoch nicht aus. Einige der Kläger des Ausgangsverfahrens stimmten hiermit überein.

 

227. Daher überzeugt mich das Vorbringen des ICFC nicht, dass solche Berufsangehörige nach Art. 7 der Charta Anspruch auf das gleiche Maß an Vertraulichkeitsschutz haben sollten, das für Rechtsanwälte anerkannt wird. Gestützt wird meine Ansicht zudem durch die oben in Nr. 195 angeführte Rechtsprechung in der Union, Rechtsprechung des EGMR und Rechtsprechung außerhalb der Union.

 

228. Dies soll selbstverständlich nicht heißen, dass diese Berufsangehörigen keine Tätigkeiten ausüben, die, allgemein betrachtet, auch im öffentlichen Interesse liegen, oder dass das Verhältnis zu ihren Mandanten nicht grundsätzlich vertraulich bleiben sollte. Es bedeutet lediglich, dass ihre Funktionen anderer Art sind als diejenigen von Rechtsanwälten und dass ihre Kommunikation mit Mandanten nicht das besonders hohe Maß an Vertraulichkeit erfordert, das allgemein für die Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant anerkannt wird(141).

 

229. Insbesondere ist angesichts der Komplexität der Steuervorschriften und der erheblichen Vorlagebelastungen, die diese Regelung Unternehmen auferlegt, der Umstand, dass ein Steuerpflichtiger einen Rechnungs- oder Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater konsultiert hat, kaum überraschend und erst recht nicht verdächtig. Diese Art der Konsultation wird meiner Erfahrung nach allgemein als zum Führen eines Unternehmens fest dazugehörender Bestandteil angesehen. Daher führt der Umstand, dass der eine Intermediär unter ganz bestimmten besonderen Umständen dem bestimmten anderen Intermediär seine Beteiligung an den Steuerplanungstätigkeiten eines bestimmten Steuerpflichtigen offenlegen muss, meines Erachtens aus den dargelegten Gründen nicht zu einem unzumutbaren Eingriff in das Recht der Intermediäre nach Art. 7 der Charta, einschließlich des Rechts auf Wahrung der Vertraulichkeit der beruflichen Kommunikation.

 

230. Demnach hat der Unionsgesetzgeber meines Erachtens in seinem Bemühen, einen Ausgleich zwischen dem Recht der Intermediäre (die keine Rechtsanwälte sind) auf Vertraulichkeit ihrer Kommunikation und dem Gemeinwohlinteresse an der Bekämpfung aggressiver Steuerplanungen und der Verhinderung von Steuerumgehung und ‑hinterziehung herzustellen, nicht offensichtlich fehlerhaft gehandelt.

 

231. Folglich hat auch die Prüfung der vierten Vorlagefrage im Rahmen des mit der Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems meines Erachtens nichts ergeben, was die Rechtmäßigkeit dieses Instruments in Frage stellen könnte.

 

V. Ergebnis

 

232. Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen dahin zu beantworten, dass die Prüfung dieser Fragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen in Frage stellen könnte.

 

1      Originalsprache: Englisch.

 

2      Vgl. z. B. Präambel der „Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting [Mehrseitiges Übereinkommen zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Maßnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung]“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: OECD).

 

3      ABl. 2018, L 139, S. 1.

 

4      Gemeint sind damit Steuerplanungstätigkeiten, die „Schlupflöcher in den Steuergesetzen ausnutzen – d. h. sich zwar nach den Buchstaben des Gesetzes richten, aber gegen seinen Sinn und Zweck verstoßen –, um die Steuerschuld zu minimieren oder zu umgehen“ (vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, „Measures tackling aggressive tax planning in the national recovery and resilience plans [Maßnahmen gegen aggressive Steuergestaltung in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen]“, 2023, S. 2).

 

5      Die Richtlinie ist auch unter dem Namen „DAC6“ bekannt. „DAC“ steht für „Directive on Administrative Cooperation [Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden]“ (ABl. 2011, L 64, S. 1).

 

6      In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich mich auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 in ihrer (u. a. durch die Richtlinie 2018/822) geänderten und aktuell geltenden Fassung beziehen.

 

7      Fußnoten in der Originalfassung nicht angeführt.

 

8      Moniteur belge vom 30. Dezember 2019, S. 119025.

 

9      Vgl. mit weiteren Nachweisen meine Schlussanträge in der Rechtssache Fastweb u. a. (Zeitrahmen für die Abrechnung) (C‑468/20, EU:C:2022:996, Nr. 80).

 

10      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. (C‑336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

11      Vgl. z. B. Urteil vom 10. Februar 2022, OE (Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit) (C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

12      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. März 2017, RPO (C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

13      Vgl. u. a. Urteil vom 10. Februar 2022, OE (Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit) (C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 21). Vgl. allgemein zu diesem Thema meine Schlussanträge in der Rechtssache EZB/Crédit lyonnais (C‑389/21 P, EU:C:2022:844, Nrn. 41 bis 74).

 

14      Vgl. auch sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822: „Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen.“ Hervorhebung nur hier.

 

15      Vgl. Erwägungsgründe 1 und 2 der Richtlinie 2011/16. Vgl. auch zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

16      Dies wird auch durch die verbindlichen Offenlegungsregelungen des OECD/G20-Projekts zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS), „ACTION 12:

2015 Final Report [Aktionspunkt 12 des Abschlussberichts von 2015]“ (im Folgenden: Abschlussbericht der OECD von 2015), bestätigt, wonach die damals bestehenden Regelungen zur verpflichtenden Offenlegung, ähnlich wie die vom Unionsgesetzgeber 2018 eingeführte Regelung, „einen weiten Anwendungsbereich [hatten] und die größtmögliche Gruppe von Steuerpflichtigen, Steuerarten und Transaktionen“ erfassen können (Rn. 26, Hervorhebung nur hier).

 

17      Dass die Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ABl. 2016, L 193, S. 1) (im Folgenden: ATAD-Richtlinie) einen engeren sachlichen Anwendungsbereich hat, der sich auf die Körperschaftsteuer beschränkt, wie von einigen Klägern des Ausgangsverfahrens hervorgehoben, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Wie im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 klargestellt, handelt es sich bei diesen zwei Richtlinien um ergänzende, aber jeweils eigenständige Instrumente. Der Unionsgesetzgeber war keineswegs verpflichtet, für die beiden Richtlinien einen identischen sachlichen Anwendungsbereich vorzusehen.

 

18      Wie etwa die Kennzeichen unter C.1 und D.

 

19      Insoweit stellt die BATL die Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit der Einführung einer weitreichenden Meldepflicht im Hinblick darauf in Frage, dass die den Vorschlag für eine Richtlinie begleitenden Unterlagen keinen Hinweis auf makroökonomische Studien enthielten, mit denen die behauptete positive Wirkung der Meldepflicht auf die öffentlichen Haushalte anhand der verschiedenen betroffenen Steuern bewertet und/oder quantifiziert werde. Dieses Argument geht jedoch an der Sache vorbei: Die mit der Richtlinie 2018/822 angestrebte unmittelbare Wirkung liegt darin, die Transparenz zu erhöhen. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, nach Prüfung der Informationen, die über das mit der Richtlinie 2018/822 eingeführte System erhoben werden, zu entscheiden, ob und inwieweit ihr nationales Steuersystem geändert werden soll, um die Steuereinnahmen zu erhöhen. Solange die Entscheidung des Unionsgesetzgebers prima facie angemessen erscheint, wäre es jedenfalls Sache der BATL gewesen, im vorliegenden Verfahren Gesichtspunkte dafür vorzutragen, dass die Meldepflicht angesichts der geringen Bedeutung der Probleme, die durch Gestaltungen hervorgerufen werden, die andere Steuern als die Körperschaftsteuer betreffen, in ihrer jetzigen Ausgestaltung für die Betroffenen eine unverhältnismäßige Belastung darstellt oder über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele der Richtlinie 2018/822 erforderlich ist.

 

20      Commission Staff Working Document, Impact Assessment [Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Folgenabschätzung], SWD(2017) 236 final (im Folgenden: Folgenabschätzung), Abschnitt 7.2.

 

21      Vgl. u. a. Urteil vom 20. Dezember 2017, Vaditrans (C‑102/16, EU:C:2017:1012, Rn. 50).

 

22      Vgl. auch 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

23      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2003, Lindqvist (C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 83 bis 88).

 

24      Insoweit dürfte meines Erachtens kaum der Erwähnung bedürfen, dass der Gerichtshof sich in seiner Rechtsprechung an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu den „Engel-Kriterien“ orientiert. Vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (CE:ECHR:1976:0608JUD000510071), und Urteil des Gerichtshofs vom 5. Juni 2012, Bonda (C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37).

 

25      Vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen in der Rechtsprechung meine Schlussanträge in der Rechtssache Nacionalinis visuomenės sveikatos centras prie Sveikatos apsaugos ministerijos (C‑683/21, EU:C:2023:376, Nr. 74).

 

26      Vgl. auch zehnter Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822: „… aufgrund der potenziellen Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts [kann es] gerechtfertigt sein, gemeinsame Regelungen zu erlassen, anstatt die Angelegenheit auf nationaler Ebene zu regeln“.

 

27      Vgl. z. B. Urteil vom 5. Mai 2022, BV (C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

28      Ebd., Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung.

 

29      In diesem Sinne, ebd., Rn. 42.

 

30      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2021, État luxembourgeois (Information zu einer Gruppe von Steuerpflichtigen) (C‑437/19, EU:C:2021:953, Rn. 61 und 69 bis 71).

 

31      Urteil vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 164 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

32      Urteil vom 5. Mai 2022, BV (C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

33      Wie z. B. „dispositifs“ im Französischen, „järjestelyjä“ im Finnischen, „meccanismi“ im Italienischen, „ρυθμισεις“ im Griechischen, „modalitate“ im Rumänischen und „constructies“ im Niederländischen.

 

34      Hervorhebung nur hier.

 

35      Dieser Begriff wird in zahlreichen Dokumenten, beispielsweise der OECD und des International Ethics Standards Board for Accountants (im Folgenden: IESBA), verwendet.

 

36      Hervorhebung nur hier.

 

37      Vgl. Art. 3 Nr. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2011/126: „[Es] kann … sich bei einer Gestaltung auch um eine Reihe von Gestaltungen handeln. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen“. Dieser Teil der Definition wurde von einigen Klägern des Ausgangsverfahrens als unklar beanstandet. Sein Sinn und Zweck liegen meines Erachtens jedoch auf der Hand. Einige Gestaltungen bestehen aus verschiedenen Komponenten und beinhalten verschiedene Schritte, die alle Teil einer Gesamtplanung sind (vgl. z. B. die Kennzeichen unter B.3 und D.2). Diese Komponenten und Schritte müssen, selbst wenn sie einzeln betrachtet meldepflichtig sein könnten, nicht gesondert gemeldet werden, sondern nur einmal, nämlich dann, wenn die Gesamtplanung gemeldet wird.

 

38      Vgl. z. B. Art. 6 der ATAD-Richtlinie und Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8) in der 2015 geänderten Fassung.

 

39      Siehe oben, Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge.

 

40      Hervorhebung nur hier.

 

41      Siehe oben, Nr. 59 der vorliegenden Schlussanträge.

 

42      Nämlich dann, wenn die Gestaltung möglicherweise Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer hat (Art. 3 Nr. 18 Buchst. e der Richtlinie 2011/16). Bei der letztgenannten Voraussetzung dürfte es sich meines Erachtens um eine Antiumgehungs- oder „Sicherheitsnetz“-Bestimmung handeln. Auf den ersten Blick mag ihre Klarheit zweifelhaft erscheinen, da sie von Intermediären und Steuerpflichtigen offenbar verlangt, die möglichen Auswirkungen zu beurteilen, die die Unterlassung einer Meldung einer bestimmten Gestaltung auf das ordnungsgemäße Funktionieren des durch die Richtlinie 2018/822 eingeführten Systems oder auf die Fähigkeit der Behörden zur Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer haben kann. Es könnte die Ansicht vertreten werden, dass dies Beurteilungen sind, die nicht Sache der Intermediäre und Steuerpflichtigen sind. Art. 3 Nr. 18 Buchst. e der Richtlinie 2011/16 ist jedoch in Verbindung mit Anhang IV Abschnitt D („Spezifische Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer“) zu verstehen. Durch den Letzteren wird meines Erachtens der Anwendungsbereich und die Bedeutung von Art. 3 Nr. 18 Buchst. e. der Richtlinie 2011/16 klargestellt.

 

43      Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle (COM/2017/0335 final).

 

44      Vgl. Folgenabschätzung, Abschnitt 3.1.2.

 

45      Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

46      Dies ergibt sich erst recht aus Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16.

 

47      Dies ergibt sich zwingend aus Art. 3 Nr. 21 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/16.

 

48      Vgl. hierzu Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16.

 

49      Vgl. hierzu Art. 3 Nr. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2011/16.

 

50      Vgl. z. B. OECD, „Study into the Role of Tax Intermediaries“, 2008. Einige Länder verwenden zur Bezeichnung der entsprechenden Personenkategorie anderweitige Begriffe, wie etwa „promoter“ (z. B. Kanada, Südafrika und das Vereinigte Königreich) und „advisor“ oder „material advisor“ (z. B. Kanada und die Vereinigten Staaten).

 

51      Im Licht der oben dargelegten Grundsätze wäre – als Erwiderung auf ein Argument des OBFG – meines Erachtens etwa anzuführen, dass Wirtschaftsteilnehmer wie eine Bank, die ein Konto eröffnet, oder ein Notar, der die Authentizität eines Vertrags beglaubigt, regelmäßig keine „Intermediäre“ im Sinne der Richtlinie 2011/16 sind.

 

52      Art. 3 Nr. 15 und Anhang IV Kennzeichen unter C. in Anhang IV.

 

53      Art. 3 Nr. 16 und Anhang IV Kennzeichen unter E. in Anhang IV.

 

54      Vgl. z. B. Art. 2 Nr. 4 der ATAD-Richtlinie, Art. 4 des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (90/463/EWG) (ABl. 1990, L 225, S. 10) in der geänderten und derzeit geltenden Fassung und Art. 9 des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen.

 

55      Hervorhebung nur hier.

 

56      Zum Zeitpunkt der Erstellung der Folgenabschätzung durch die Kommission (vgl. Abschnitt 2.2.3 der Folgenabschätzung) bestanden ähnliche Regelungen zur verpflichtenden Offenlegung in Irland, Portugal und dem Vereinigten Königreich sowie in Kanada, Indien, Israel, Südafrika und den USA.

 

57      Der OBFG beanstandet insbesondere die in einigen Kennzeichen enthaltenen Merkmale einer „Dokumentation und/oder Struktur[, die] standardisiert ist [und nicht] wesentlich individuell angepasst werden muss“ (A. 3), einer „Gestaltung[,] bei der es einen wesentlichen Unterschied hinsichtlich des … anzusetzenden Wertes gibt“ (C. 4), „keine[r] ausreichend verlässlichen Vergleichswerte“, der „Annahmen[, die] höchst unsicher sind“ und dass „der letztendliche Erfolg … nur schwer absehbar ist“ (E. 2 a und b). Hervorhebung nur hier.

 

58      Vgl. u. a. die oben in Nr. 23 angeführte Rechtsprechung.

 

59      Anlage zu seinem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates (siehe oben, Fn. 43).

 

60      Siehe oben, Nr. 11 der vorliegenden Schlussanträge.

 

61      Rn. 81.

 

62      Ich verwende hier eine Formulierung der Kommission in ihrer Empfehlung vom 6. Dezember 2012 betreffend aggressive Steuerplanung (C[2012] 8806 final, zweiter Erwägungsgrund).

 

63      Vgl. z. B. das „Kriterium des Hauptzwecks“, das im „Multilateralen Übereinkommen zur Umsetzung von Maßnahmen im Zusammenhang mit Steuerabkommen zur Verhinderung der Steuerverkürzung und der Gewinnverlagerung der OECD [Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting]“ (insbesondere in Art. 7 des Übereinkommens) verwendet wird. Dieses Übereinkommen hat 101 Unterzeichnerstaaten und Vertragsparteien (Stand vom 23. September 2023).

 

64      Zu den „in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediären“ siehe oben, Nr. 73 der vorliegenden Schlussanträge.

 

65      Vgl. siebter Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

66      Im Sinne von Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16.

 

67      Hervorhebung nur hier.

 

68      Siehe oben, Nr. 46 der vorliegenden Schlussanträge.

 

69      Selbstverständlich folgt aus Hinweisen der Steuerbehörden keine „verbindliche“ Rechtsauslegung. Allerdings können sich Intermediäre und Steuerpflichtige gegebenenfalls gegenüber den Behörden auf diese Hinweise berufen und auf dieser Grundlage Einwendungen gegen die Verhängung von Sanktionen erheben (z. B. bei Geltendmachung einer unzulässigen Rechtsausübung, eines Vertrauensschutzes oder zum Nachweis eines fehlenden Vorsatzes, einer fehlenden Kenntnis oder Fahrlässigkeit in Bezug auf den möglichen Verstoß gegen die Meldepflicht).

 

70      ABl. 2007, C 303, S. 17.

 

71      Art. 8 Abs. 1 EMRK ist mit Art. 7 der Charta nahezu identisch. Art. 8 Abs. 2 EMRK bestimmt: „Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

 

72      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland (CE:ECHR:1992:1216JUD001371088, §§ 29 und 31).

 

73      Vgl. z. B. Urteil vom 22. Oktober 2002, Roquette Frères (C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 29).

 

74      Vgl. insbesondere Urteil vom 21. September 1989, Hoechst/Kommission (46/87 und 227/88, EU:C:1989:337, Rn. 19).

 

75      Vgl. z. B. Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a. (C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

76      Vgl. Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 124 und 125).

 

77      Ebenso ebd., Rn. 128.

 

78      Vgl. u. a. Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems (C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 172 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

79      Ebd., Rn. 175.

 

80      Vgl. eingehender und mit weiteren Verweisen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Facebook Ireland und Schrems (C‑311/18, EU:C:2019:1145, Nrn. 263 und 265).

 

81      Vgl. Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 35) (im Folgenden: Urteil Orde van Vlaamse Balies).

 

82      Vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 14. März 2013, Bernh Larsen Holding AS u. a./Norwegen (CE:ECHR:2013:0314JUD002411708, §§ 123 bis 134), zu Art. 8 EMRK.

 

83      Rn. 44 des Urteils.

 

84      Vgl. insbesondere Art. 3 EUV.

 

85      Vgl. ebenso Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache Hünermund u. a. (C‑292/92, EU:C:1993:863, Nrn. 1 und 27) sowie Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rechtssache Arnold André (C‑434/02, EU:C:2004:487, Nr. 80).

 

86      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2004, Swedish Match (C‑210/03, EU:C:2004:802, Rn. 34), und vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat (C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 48, 60 und 61).

 

87      Es dürfte kaum der Erwähnung bedürfen, dass die Richtlinie 2018/822 insoweit keine materiell-rechtliche Regelung und erst recht kein Verbot dieser Gestaltungen vorsieht.

 

88      Vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/15 (PNR-Abkommen EU-Kanada) vom 26. Juli 2017 (EU:C:2017:592, Rn. 140 und 141 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

89      Vgl. Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a. (C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 56).

 

90      Vgl. ebd., Rn. 58.

 

91      Siehe unten, Prüfung der vierten Vorlagefrage.

 

92      Vgl. u. a. Urteil vom 2. Februar 2021, Consob (C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 45 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

93      Vgl. auch Art. 8ab Abs. 15 der Richtlinie 2011/16: „Die Tatsache, dass eine Steuerverwaltung nicht auf eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung reagiert, impliziert in keiner Weise die Anerkennung der Gültigkeit oder der steuerlichen Behandlung dieser Gestaltung.“

 

94      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 36 und 37), sowie vom 26. Februar 2019, N Luxembourg 1 u. a. (C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16, EU:C:2019:134, Rn. 109).

 

95      Ehemaliger Finanzminister des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (1974 bis 1979).

 

96      Beispielsweise können Einzelpersonen verpflichtet sein, Angaben über ihren Familienstand zur Eintragung im Personenstandsregister zu übermitteln.

 

97      Beispielsweise müssen natürliche und juristische Personen möglicherweise sehr detaillierte Informationen an die zuständigen Behörden übermitteln, um die Zulassung für die Eröffnung einer Arzt- oder Zahnarztpraxis zu erhalten, um Lebensmittel an die Allgemeinheit abgeben zu dürfen oder um als zugelassener Rechtsanwalt praktizieren zu können.

 

98      Vgl. beispielsweise die detaillierte Regelung der Informationen, die vor der Beförderung von radioaktivem Material vorzulegen sind (Richtlinie 2006/117/Euratom des Rates vom 20. November 2006 über die Überwachung und Kontrolle der Verbringungen radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente [ABl. 2006, L 337, S. 21]).

 

99      Bei einigen der Kennzeichen entsteht die Meldepflicht nämlich unabhängig davon, ob der „Main benefit“-Test erfüllt ist (vgl. Anhang IV Teil I der Richtlinie 2011/16).

 

100      Neunter Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

101      C‑694/20, EU:C:2022:259, Nr. 20. Vgl. auch Abschnitte 3.1.2, 7.1 und 9.1 der Folgenabschätzung und Abschnitt 1 ihrer Begründung.

 

102      Siehe oben, Nr. 9 der vorliegenden Schlussanträge.

 

103      Vgl. Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a. (C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 27).

 

104      Das „CCN-Netz“, die gemeinsame Plattform auf der Grundlage des Gemeinsamen Kommunikationsnetzes (common communication network – CCN), die von der Union für jegliche elektronische Datenübertragung zwischen den zuständigen Behörden im Bereich Zoll und Steuern entwickelt wurde. Vgl. Art. 3 Nr. 13 und Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 sowie den zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

105      Vgl. Art. 3 Nr. 1, Art. 4 und Art. 8ab Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2011/16.

 

106      Sie hat insbesondere keinen Zugang zu den personenbezogenen Daten von Steuerpflichtigen und Intermediären und zur Beschreibung der meldepflichtigen Gestaltungen.

 

107      Vgl. Art. 8ab Abs. 17 und Art. 21 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2011/16 sowie sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

108      Dies ergibt sich erst recht aus Art. 23 (insbesondere Abs. 3) und Art. 23a der Richtlinie 2011/16. Vgl. jedoch die Ausnahme nach Art. 24 dieser Richtlinie.

 

109      Vgl. insbesondere Art. 21 Abs. 2 Unterabs. 3 und Abs. 7 der Richtlinie 2011/16.

 

110      Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (ABl. 2016, L 119, S. 1).

 

111      Verordnung (EU) 2018/1725 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2018 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 und des Beschlusses Nr. 1247/2002/EG (ABl. 2018, L 295, S. 39).

 

112      Vgl. z. B. Vereinte Nationen, Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten [Department of Economic and Social Affairs], „World Social Report 2020 – Inequality in a Rapidly Changing World“.

 

113      Vgl. u. a. 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822.

 

114      Vgl. Art. 8ab Abs. 14 Buchst. c. der Richtlinie 2011/16.

 

115      Vgl. Art. 8ab Abs. 3, 4, 9 und 10 der Richtlinie 2011/16.

 

116      Vgl. Art. 8ab Abs. 2 der Richtlinie 2011/16.

 

117      Der OBFG verweist insbesondere auf die Richtlinie (EU) 2015/2376 des Rates vom 8. Dezember 2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung (ABl. 2015, L 332, S. 1) (DAC 3) und die Richtlinie (EU) 2016/2258 des Rates vom 6. Dezember 2016 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des Zugangs von Steuerbehörden zu Informationen zur Bekämpfung der Geldwäsche (ABl. 2016, L 342, S. 1) (DAC 5).

 

118      Siehe oben, Fn. 17 und 118.

 

119      Vgl. entsprechend und mit weiteren Nachweisen in der Rechtsprechung Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Buzzi Unicem/Kommission (C‑267/14 P, EU:C:2015:696, Nrn. 97 bis 117).

 

120      Wie z. B. „secreto profesional“ (im Spanischen), „zákonné profesní mlčenlivosti“ (im Tschechischen), „Verschwiegenheitspflicht“ (im Deutschen), „secret professionnel“ (im Französischen), „profesionalne tajne“ (im Kroatischen), „segreto professionale“ (im Italienischen), „verschoningsrecht“ (im Niederländischen), „profesinė paslaptis“ (im Litauischen) und „yrkesmässiga privilegierna“ (im Schwedischen).

 

121      Vgl. Abschnitt 7.1.3 sowie Anhang 2 Nrn. 3.3. und 3.4. der Folgenabschätzung.

 

122      Vgl. u. a. Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission (155/79, EU:C:1982:157, Rn. 18 bis 28).

 

123      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 4. Februar 2020, Kruglov u. a./Russland (CE:ECHR:2020:0204JUD001126404, § 137).

 

124      So besteht z. B. der Sinn und Zweck der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht (im Recht der Vereinigten Staaten: „Client-Attorney Privilege“) nach Auffassung des US Supreme Court (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten) darin, „zu einer umfassenden und offenen Kommunikation zwischen Anwälten und ihren Mandanten zu ermutigen und damit allgemeinere öffentliche Interessen an der Einhaltung des Rechts und der Rechtspflege zu fördern“ (vgl. u. a. Gutachten vom 25. Juni 1998, Swidler & Berlin v. United States, 524 U.S. 399 [1998], S. 403).

 

125      Vgl. u. a. Federal Court of Appeal (Kanada), Urteil vom 24. Juni 2003, Tower v. MNR (2003), 310 N.R. 280 (FCA); Supreme Court (United Kingdom) (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), Urteil R (on the application of Prudential plc and another) v. Special Commissioner of Income Tax and another (2013) UKSC 1; Court of Appeal (Hong Kong) (Berufungsgericht Hongkong), Urteil vom 29. Juni 2015, Super Worth International Ltd & Ors v Commissioner of the ICAC & another (CACV 168/2015); und Federal Court Australia (Bundesgericht Australien), Urteil vom 25. März 2022, Commissioner of Taxation v PricewaterhouseCoopers & Ors (2022) FCA 278.

 

126      Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rechtssache Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, EU:C:2006:788, Nr. 36) (Hervorhebung nur hier).

 

127      Vgl. u. a. Union internationale des Avocats, „International Report on Professional Secrecy and Legal Privilege“, November 2019, S. 7; und Kameoka, E., Legal Professional Privilege in EU Competition Investigations, Edward Elgar, 2023, S. 29 bis 33.

 

128      Schlussanträge in der Rechtssache Orde van Vlaamse Balies und Belgian Association of Tax Lawyers (C‑694/20, EU:C:2022:259, Nr. 21).

 

129      Ebd., Nr. 20. Vgl. auch Erwägungsgründe 6 und 8 der Richtlinie 2018/822.

 

130      In Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2011/16 heißt es lediglich, dass „Intermediäre … die … Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen [können], als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben“.

 

131      Vgl. Erwägungsgründe 4 und 13 der Richtlinie 2018/822.

 

132      Vgl. insbesondere Nr. 2.4 der Mustervorschriften der OECD für verbindliche Offenlegungsregelungen für die Bekämpfung von Gestaltungen zur Umgehung des gemeinsamen Meldestandards und von undurchsichtigen Offshore-Strukturen [OECD, Model Mandatory Disclosure Rules for CRS Avoidance Arrangements and Opaque Offshore Structures], S. 20: „[E]in Intermediär ist nicht verpflichtet, Informationen offenzulegen, wenn diese Informationen nach einer im nationalen Recht vorgesehenen Regelung über ein Berufsgeheimnis vor einer Offenlegung geschützt sind; dies gilt jedoch nur, soweit aus der Offenlegung vertrauliche Informationen hervorgehen würden, die sich mit Bezug auf einen Mandanten im Besitz eines Rechtsanwalts, Solicitors oder sonstigen zugelassenen Rechtsvertreters befinden …“. Vgl. auch OECD, Kommentar zu Art. 26: Informationsaustausch (Nr. 19.4) des Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen von 2017.

 

133      Vgl. unter vielen Urteil vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

134      Vgl. entsprechend Urteil vom 7. September 2023, Charles Taylor Adjusting (C‑590/21, EU:C:2023:633, Rn. 32).

 

135      Urteil Orde van Vlaamse Balies, Rn. 27 (Hervorhebung nur hier).

 

136      Ebd., Rn. 28 (Hervorhebung nur hier).

 

137      Vgl. zu einem guten Überblick die Arten von Rechtsberufen, die nach Mitgliedstaat im Europäischen e-Justiz-Portal aufgeführt sind (e-justice.europa.eu).

 

138      Vgl. zu einer Zusammenfassung der verschiedenen Regelungen in Europa: the Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE), „Regulated legal professionals and professional privilege within the European Union, the European Economic Area and Switzerland, and certain other European jurisdictions“, John Fish, 2004.

 

139      Sofern nämlich nicht auch für diese Intermediäre aufgrund des nationalen Rechts möglicherweise eine Befreiung nach Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 gilt.

 

140      Wie sich aus dem Urteil Orde van Vlaamse Balies (Rn. 27) ergibt, ist Art. 7 der Charta dahin auszulegen, dass er „die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt“.

 

141      Siehe auch oben, Nrn. 212, 214 und 226 der vorliegenden Schlussanträge.

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