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Bilanzrecht und Betriebswirtschaft
23.07.2020
Bilanzrecht und Betriebswirtschaft
EuGH: Zum Umfang der Anschaffungskosten einer Finanzanlage

EuGH, Urteil vom 23.4.2020 – C-640/18, Wagram Invest SA gegen Belgischer Staat

ECLI:EU:C:2020:293

Volltext des Urteils: BB-ONLINE BBL2020-1710-1

Tenor

Der in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von [Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen aufgestellte Grundsatz der Bilanzwahrheit ist in dem Fall, in dem eine Aktiengesellschaft eine Finanzanlage erwirbt, deren Bezahlung über einen längeren Zeitraum gestaffelt und zinsfrei unter Bedingungen, die denen eines Darlehens gleichen, vorgesehen ist, dahin auszulegen, dass er der Verwendung einer Buchungsmethode nicht entgegensteht, bei der ein Skonto zum marktüblichen Zinssatz für eine unverzinsliche Verbindlichkeit in Bezug auf diesen Erwerb mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr in der Gewinn- und Verlustrechnung als Aufwendung und die Anschaffungskosten dieser Anlage auf der Aktivseite der Bilanz unter Abzug des Skontos ausgewiesen werden.

Richtlinie 78/660 EWG Art. 2, 31, 32, 35; HGB § 252, 253, 255

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von [Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. 1978, L 222, S. 11).

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Wagram Invest SA und dem belgischen Staat über die von Wagram Invest für die Steuerjahre 2000 und 2001 geschuldete Körperschaftsteuer.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 78/660 heißt es:

„[Es ist] erforderlich, dass hinsichtlich des Umfangs der zu veröffentlichenden finanziellen Angaben in der Gemeinschaft gleichwertige rechtliche Mindestbedingungen für miteinander im Wettbewerb stehende Gesellschaften hergestellt werden.“

4          In Art. 2 der Richtlinie heißt es:

„…

(3) Der Jahresabschluss hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.

(4) Reicht die Anwendung dieser Richtlinie nicht aus, um ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Absatzes 3 zu vermitteln, so sind zusätzliche Angaben zu machen.

(5) Ist in Ausnahmefällen die Anwendung einer Vorschrift dieser Richtlinie mit der in Absatz 3 vorgesehenen Verpflichtung unvereinbar, so muss von der betreffenden Vorschrift abgewichen werden, um sicherzustellen, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Absatzes 3 vermittelt wird. Die Abweichung ist im Anhang anzugeben und hinreichend zu begründen; ihr Einfluss auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ist darzulegen. Die Mitgliedstaaten können die Ausnahmefälle bezeichnen und die entsprechende Ausnahmeregelung festlegen.

…“

5          In Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die Bewertung der Posten im Jahresabschluss folgende allgemeine Grundsätze gelten:

c) Der Grundsatz der Vorsicht muss in jedem Fall beachtet werden. Das bedeutet insbesondere:

aa) Nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne werden ausgewiesen.

bb) Es müssen alle voraussehbaren Risiken und zu vermutenden Verluste berücksichtigt werden, die in dem Geschäftsjahr oder einem früheren Geschäftsjahr entstanden sind, selbst wenn diese Risiken oder Verluste erst zwischen dem Bilanzstichtag und dem Tag der Aufstellung der Bilanz bekanntgeworden sind.

cc) Wertminderungen sind unabhängig davon zu berücksichtigen, ob das Geschäftsjahr mit einem Gewinn oder einem Verlust abschließt.

d) Aufwendungen und Erträge für das Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluss bezieht, müssen berücksichtigt werden, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Ausgabe oder Einnahme dieser Aufwendung oder Erträge.

e) Die in den Aktiv- und Passivposten enthaltenen Vermögensgegenstände sind einzeln zu bewerten.

…“

6          Art. 32 der Richtlinie lautet:

„Für die Bewertung der Posten im Jahresabschluss gelten die Artikel 34 bis 42, die die Anschaffungs- und Herstellungskosten zur Grundlage haben.“

7          Art. 35 der Richtlinie 78/660 bestimmt:

„(1)       a) Die Gegenstände des Anlagevermögens sind unbeschadet der Buchstaben b) und c) zu den Anschaffungs- oder Herstellungskosten zu bewerten.

b) Bei den Gegenständen des Anlagevermögens, deren wirtschaftliche Nutzung zeitlich begrenzt ist, sind die Anschaffungs- und Herstellungskosten um Wertberichtigungen zu vermindern, die so berechnet sind, dass der Wert des Vermögensgegenstandes während dieser Nutzungszeit planmäßig zur Abschreibung gelangt.

c)         aa) Bei Finanzanlagen können Wertberichtigungen vorgenommen werden, um sie mit dem niedrigeren Wert anzusetzen, der ihnen am Bilanzstichtag beizulegen ist.

bb) Bei einem Gegenstand des Anlagevermögens sind ohne Rücksicht darauf, ob seine Nutzung zeitlich begrenzt ist, Wertberichtigungen vorzunehmen, um ihn mit dem niedrigeren Wert anzusetzen, der ihm am Bilanzstichtag beizulegen ist, wenn es sich voraussichtlich um eine dauernde Wertminderung handelt.

cc) Die unter den Unterabsätzen aa) und bb) genannten Wertberichtigungen sind in der Gewinn- und Verlustrechnung aufzuführen und gesondert im Anhang anzugeben, wenn sie nicht gesondert in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen sind.

dd) Der niedrigere Wertansatz nach den Unterabsätzen aa) und bb) darf nicht beibehalten werden, wenn die Gründe der Wertberichtigungen nicht mehr bestehen.

d) Wenn bei einem Gegenstand des Anlagevermögens allein für die Anwendung von Steuervorschriften außerordentliche Wertberichtigungen vorgenommen werden, ist der Betrag dieser Wertberichtigungen im Anhang zu erwähnen und hinreichend zu begründen.

(2) Zu den Anschaffungskosten gehören neben dem Einkaufspreis auch die Nebenkosten.

(3)        a) Zu den Herstellungskosten gehören neben den Anschaffungskosten der Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe die dem einzelnen Erzeugnis unmittelbar zurechenbaren Kosten.

b) Den Herstellungskosten dürfen angemessene Teile der dem einzelnen Erzeugnis nur mittelbar zurechenbaren Kosten, welche auf den Zeitraum der Herstellung entfallen, hinzugerechnet werden.

(4) Zinsen für Fremdkapital, das zur Finanzierung der Herstellung von Gegenständen des Anlagevermögens gebraucht wird, dürfen in die Herstellungskosten einbezogen werden, sofern sie auf den Zeitraum der Herstellung entfallen. Ihre Aktivierung ist im Anhang zu erwähnen.“

Belgisches Recht

8          Art. 24 des Arrêté royal du 30 janvier 2001, portant exécution du code des sociétés (Königlicher Erlass vom 30. Januar 2001 zur Ausführung des Gesellschaftsgesetzbuchs) (Moniteur belge vom 6. Februar 2001, S. 3008, im Folgenden: Königlicher Erlass vom 30. Januar 2001) bestimmt:

„Der Jahresabschluss hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.

Reicht die Anwendung der Bestimmungen dieses Titels nicht aus, um diese Vorschrift einzuhalten, sind im Anhang zusätzliche Angaben zu machen.“

9          Kapitel II („Bewertungsregeln“) Art. 29 Abs. 1 dieses Erlasses lautet:

„Sollte in Ausnahmefällen die Anwendung der in diesem Kapitel bestimmten Bewertungsregeln nicht zur Einhaltung der Vorschrift in Art. 24 [Abs. 1] führen, muss in Anwendung von Art. 24 davon abgewichen werden.“

10        Art. 35 dieses Königlichen Erlasses lautet:

„Unbeschadet der Art. 29, 57, 67, 69, 71, 73 und 77 werden Vermögensgegenstände mit ihrem Anschaffungswert bewertet und mit diesem Wert in die Bilanz eingestellt, wobei für zugehörige Abschreibungen und Wertminderungen Abzüge vorzunehmen sind.

Unter Anschaffungswert ist entweder der in Art. 36 definierte Erwerbspreis oder der in Art. 37 definierte Herstellungspreis oder der in Art. 39 definierte Einbringungswert zu verstehen.“

11        Art. 67 Abs. 2 des Königlichen Erlasses vom 30. Januar 2001 lautet:

„Bei Ausweisung der Forderungen zu ihrem Nennwert in der Bilanz werden als passive Rechnungsabgrenzungsposten aufgenommen und in der Ergebnisrechnung auf der Grundlage der Zinseszinsen pro rata temporis ausgewiesen:

c) der Skonto auf unverzinsliche oder außergewöhnlich niedrig verzinsliche Forderungen, wenn diese Forderungen

1. nach mehr als einem Jahr ab dem Zeitpunkt ihrer Aufnahme in das Gesellschaftsvermögen rückzahlbar sind und

2. sich auf Beträge, die in der Ergebnisrechnung als Erträge ausgewiesen sind, oder auf den Preis für die Veräußerung von Gegenständen des Anlagevermögens oder Teilbetrieben beziehen.

…“

12        Art. 67 des Königlichen Erlasses ist nach dessen Art. 77 auf Verbindlichkeiten entsprechender Art und Laufzeit entsprechend anwendbar.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13        Durch eine Vereinbarung vom 10. Januar 1997 erwarb Wagram Invest, die ihren Gesellschaftssitz in Belgien hat und in dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum den Namen „SCRL HDB de promotion et de gestion“ trug, von ihrem Geschäftsführer Aktien der IENA SA zu einem Preis von 24 000 000 belgischen Franken (BEF) (594 944,45 Euro), zahlbar zinsfrei in 16 halbjährlichen Raten von 1 500 000 BEF (37 184,02 Euro) mit einer am 10. Juli 2004 fälligen Schlussrate.

14        Durch eine zweite Vereinbarung vom 10. März 1999 erwarb Wagram Invest von ihrem Geschäftsführer weitere Aktien der IENA zum Preis von 31 760 400 BEF (787 319,75 Euro), zahlbar zinsfrei in zwölf halbjährlichen Raten von 2 646 700 BEF (65 609,97 Euro).

15        Der Preis, der diesen beiden Vereinbarungen über den Verkauf von Aktien der IENA zugrunde gelegt wurde, entspricht dem Preis, den die Aktionäre von IENA gezahlt hatten, als sie kurze Zeit zuvor eine Kapitalerhöhung gezeichnet hatten.

16        Diese Aktienkäufe wurden von Wagram Invest wie folgt verbucht:

– Ausweisung der Verbindlichkeit gegenüber dem Geschäftsführer auf der Passivseite der Bilanz unter den Verbindlichkeiten mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr zu ihrem Nennwert, nämlich 24 000 000 BEF (594 944,45 Euro) und 31 760 400 BEF (787 319,75 Euro);

– Ausweisung der am 10. Januar 1997 erworbenen 2 005 Aktien zu einem aktualisierten Wert von 18 233 827 BEF (452 004,76 Euro) und der am 10. März 1999 erworbenen 1 993 Aktien zu einem aktualisierten Wert von 25 871 302 BEF (641 332,82 Euro) auf der Aktivseite;

– Ausweisung des Skontos, der im Unterschied zwischen dem Nennwert der Verbindlichkeit und dem aktualisierten Wert der Anlage, nämlich 5 766 173 BEF (142 939,69 Euro) und 5 889 098 BEF (145 986,93 Euro), besteht, als Rechnungsabgrenzungsposten (Konto 4901);

– am Ende jedes Steuerjahres Ausweisung eines Pro-rata-Teils der vorzutragenden Aufwendungen, die dem Skonto auf die Verbindlichkeit entsprechen, als Finanzaufwendungen.

17        Am Ende des Steuerjahrs 2000 verbuchte Wagram Invest anteilig Aufwendungen in Höhe von 1 970 339 BEF (48 843,42 Euro), nämlich 1 000 506 BEF (24 801,89 Euro) für die im Jahr 1997 und 969 833 BEF (24 041,53 Euro) für die im Jahr 1999 erworbenen Aktien.

18        Am Ende des Steuerjahrs 2001 verbuchte Wagram Invest anteilig Aufwendungen in Höhe von 2 676 318 BEF (66 344,19 Euro), nämlich 843 090 BEF (20 899,65 Euro) für die im Jahr 1997 und 1 833 228 BEF (45 444,53 Euro) für die im Jahr 1999 erworbenen Aktien.

19        Für die Aktualisierung wurde der Abzinsungssatz herangezogen, der zum Zeitpunkt des Übergangs in das Vermögen für solche Verbindlichkeiten marktüblich war, nämlich 8 %.

20        Nach einer Prüfung vertrat die belgische Steuerverwaltung die Auffassung, dass der für die Steuerjahre 2000 und 2001 verbuchte und in Abzug gebrachte Skontoaufwand zurückzuweisen sei, und erließ gegenüber Wagram Invest, obwohl diese damit nicht einverstanden war, am 28. Oktober 2002 einen Steuerbescheid.

21        Auf dieser Grundlage erließ die belgische Steuerverwaltung gegenüber Wagram Invest zwei weitere Bescheide über Körperschaftsteuer für die Steuerjahre 2000 und 2001, und zwar am 20. bzw. am 18. November 2002.

22        Nachdem der Direktor der Steuerverwaltung über den von Wagram Invest am 18. Februar 2003 eingelegten Einspruch nicht innerhalb der geltenden Frist von sechs Monaten entschieden hatte, erhob Wagram Invest am 10. März 2005 Klage beim Tribunal de première instance de Namur (Gericht erster Instanz Namur, Belgien).

23        Mit Urteil vom 20. Dezember 2007 erklärte dieses Gericht die Klage auf Aufhebung der Entscheidung der Steuerverwaltung für unbegründet und bestätigte die Rechtmäßigkeit der beanstandeten Steuernacherhebung.

24        Wagram Invest legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour d’appel de Liège (Berufungsgericht Lüttich, Belgien) ein, die das erstinstanzliche Urteil mit Urteil vom 14. Oktober 2011 bestätigte.

25        Wagram Invest legte am 2. Juli 2014 Kassationsbeschwerde ein. Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Belgien) hob mit Urteil vom 11. März 2016 das Urteil der Cour d’appel de Liège (Berufungsgericht Lüttich) auf und verwies die Sache an die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons, Belgien) zurück.

26        Die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) räumt zwar ein, dass die von Wagram Invest angewandte Buchungsmethode mit den Vorschriften des belgischen Rechts, insbesondere Art. 77 des Königlichen Erlasses vom 30. Januar 2001, im Einklang stehe. Es fragt sich jedoch, ob diese Methode mit Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Richtlinie 78/660 in Verbindung mit deren Art. 32 vereinbar ist.

27        Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Lässt der Begriff „ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild“ in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660 in Anbetracht der in Art. 32 der Richtlinie genannten Bewertungskriterien zu, dass beim Erwerb einer Finanzanlage durch eine Aktiengesellschaft ein Skonto für eine unverzinsliche Verbindlichkeit mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr in der Gewinn- und Verlustrechnung als Aufwendung und die Anschaffungskosten der Anlage auf der Aktivseite der Bilanz unter Abzug des Skontos ausgewiesen werden?

2. Ist die Wendung „in Ausnahmefällen“, die Voraussetzung für eine Anwendung von Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 78/660 ist und es erlaubt, von einer (anderen) Bestimmung dieser Richtlinie abzuweichen, dahin auszulegen, dass diese Bestimmung nur anwendbar ist, wenn festgestellt wird, dass der Grundsatz der Bilanzwahrheit durch die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie, gegebenenfalls ergänzt durch zusätzliche Angaben in den Anhängen nach Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie, nicht gewahrt werden kann?

3. Ist vorrangig Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 78/660 anzuwenden, so dass von der in Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, von einer Bestimmung der Richtlinie abzuweichen, nur dann Gebrauch gemacht werden kann, wenn sich auch durch zusätzliche Angaben eine effektive Anwendung des in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie verankerten Grundsatzes der Bilanzwahrheit nicht sicherstellen lässt, und auch dann nur in Ausnahmefällen?

Zu den Vorlagefragen

Jahresabschlüsse als maßgebliche Grundlage für steuerliche Zwecke

28        Vorab ist festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit steuerlicher Natur ist. Die Richtlinie 78/660, um deren Auslegung vorliegend ersucht wird, ist allerdings nicht darauf gerichtet, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse von Gesellschaften bei der Festsetzung der Besteuerungsgrundlage und der Höhe von Steuern wie der im Ausgangsverfahren fraglichen Körperschaftsteuer zugrunde legen können oder müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 28 [EWS 2013, 478]).

29        Der Gerichtshof hat jedoch bereits anerkannt, dass die Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse als maßgebliche Grundlage für steuerliche Zwecke verwenden können, was im belgischen Recht der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 27 und 28 [EWS 2013, 478], sowie vom 15. Juni 2017, Immo Chiaradia und Docteur De Bruyne, C-444/16 und C-445/16, EU:C:2017:465, Rn. 33 [BB 2017, 1777 Tenor m. BB-Komm. Kleinmanns, RIW 2017, 513]).

Zur ersten Frage

Auslegung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit

30        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660 aufgestellte Grundsatz der Bilanzwahrheit in dem Fall, in dem eine Aktiengesellschaft eine Finanzanlage erwirbt, deren Bezahlung über einen längeren Zeitraum gestaffelt und zinsfrei unter Bedingungen, die denen eines Darlehens gleichen, vorgesehen ist, dahin auszulegen ist, dass er der Verwendung einer Buchungsmethode entgegensteht, bei der ein Skonto für eine unverzinsliche Verbindlichkeit in Bezug auf diesen Erwerb mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr in der Gewinn- und Verlustrechnung als Aufwendung und die Anschaffungskosten dieser Anlage auf der Aktivseite der Bilanz unter Abzug des Skontos ausgewiesen werden.

31        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 78/660 nach ihrem dritten Erwägungsgrund nur Mindestbedingungen hinsichtlich des Umfangs der zu veröffentlichenden finanziellen Angaben aufstellen soll (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung [EWS 2013, 478]).

Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit stellt die Hauptzielsetzung der Richtlinie 78/660 dar

32        Die Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit stellt die Hauptzielsetzung der Richtlinie 78/660 dar. Nach diesem in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie genannten Grundsatz muss der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung [EWS 2013, 478]).

33        Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet dieser Grundsatz, dass zum einen die Jahresabschlüsse die Tätigkeiten und Vorgänge wiedergeben, die sie beschreiben sollen, und dass zum anderen die Buchführungsangaben so erfolgen, dass sie möglichst verlässlich und in möglichst geeigneter Weise das Informationsbedürfnis Dritter befriedigen, ohne die Interessen der betroffenen Gesellschaft zu beeinträchtigen (Urteil vom 14. September 1999, DE + ES Bauunternehmung, C-275/97, EU:C:1999:406, Rn. 27 [BB 1999, 2291 m. Anm. Moxter, EWS 1999, 385 m. Anm. Peter/Eichhoff, EWS 1999, 436, RIW 1999, 884]).

Möglichst weitgehende Orientierung an den in Art. 31 der Richtlinie 78/660 enthaltenen allgemeinen Grundsätzen

34        Der Gerichtshof hat außerdem bereits klargestellt, dass sich die Anwendung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit möglichst weitgehend an den in Art. 31 der Richtlinie 78/660 enthaltenen allgemeinen Grundsätzen zu orientieren hat, wobei dem in Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie vorgesehenen Grundsatz der Vorsicht besondere Bedeutung zukommt (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung [EWS 2013, 478]).

35        Nach Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 78/660 gestattet es die Berücksichtigung aller Faktoren – realisierte Gewinne, Aufwendungen, Erträge, Risiken und Verluste –, die sich tatsächlich auf das betreffende Geschäftsjahr beziehen, die Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit sicherzustellen (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung [EWS 2013, 478]).

Grundsatz der Bilanzwahrheit ist auch im Licht des in Art. 32 der Richtlinie 78/660 genannten Grundsatzes zu verstehen

36        Des Weiteren ist der Grundsatz der Bilanzwahrheit auch im Licht des in Art. 32 der Richtlinie 78/660 genannten Grundsatzes zu verstehen, wonach der Bewertung der Posten im Jahresabschluss der Grundsatz der Anschaffungs- und Herstellungskosten zugrunde gelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 34 [EWS 2013, 478]).

37        Nach diesem Artikel stützt sich das den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Bild, das der Jahresabschluss einer Gesellschaft vermitteln muss, auf eine Bewertung der Vermögensgegenstände nicht aufgrund ihres tatsächlichen Werts, sondern aufgrund ihrer ursprünglichen Kosten (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C-322/12, EU:C:2013:632, Rn. 35 [EWS 2013, 478]).

Nennwert des für den Erwerb der Finanzanlage gezahlten Preises umfasst im Streitfall zwei Elemente: den aktualisierten Wert der Anschaffungskosten der Anlage, der dem Kaufpreis bereinigt um die impliziten Darlehenszinsen entspricht, und einen Betrag, der den impliziten Darlehenszinsen entspricht

38        Vorliegend hat der belgische Gesetzgeber in dem Fall, in dem ein Vertrag über den Erwerb einer Finanzanlage die Zahlung des Preises über einen längeren Zeitraum gestaffelt und zinslos vorsieht, den formal einheitlichen Erwerb als einen Vorgang angesehen, der sich in Wirklichkeit aus zwei Teilen zusammensetzt, nämlich zum einen aus dem Erwerb der Finanzanlage im eigentlichen Sinne und zum anderen aus einem impliziten Darlehensgeschäft.

39        Unter diesen Umständen umfasst der Nennwert des für den Erwerb der Finanzanlage gezahlten Preises, der ihren ursprünglichen Kosten entspricht, in Wirklichkeit zwei Elemente, nämlich zum einen den aktualisierten Wert der Anschaffungskosten der Anlage, der dem Kaufpreis bereinigt um die impliziten Darlehenszinsen entspricht, und zum anderen einen Betrag, der den impliziten Darlehenszinsen entspricht.

Grundsatz der Bilanzwahrheit steht der Verwendung einer Buchungsmethode nicht entgegen, bei der ein Skonto zum marktüblichen Zinssatz für eine unverzinsliche Verbindlichkeit i. B. a. diesen Erwerb mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr in der GuV als Aufwendung und die Anschaffungskosten dieser Anlage auf der Aktivseite der Bilanz unter Abzug des Skontos ausgewiesen werden

40        Somit bietet die im Ausgangsverfahren fragliche Buchungsmethode, die zum einen die Ausweisung des aktualisierten Werts des für die Finanzanlage gezahlten Preises, nämlich des um implizite Zinsen bereinigten Nennwerts, auf der Aktivseite, und zum anderen die Ausweisung eines Skontos als Rechnungsabgrenzungsposten in Höhe der impliziten Zinsen, deren Betrag dem Unterschied zwischen dem Nennwert der Verbindlichkeit für den Erwerb der Anlage und dem aktualisierten Wert der Verbindlichkeit entspricht, vorsieht, ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der beiden Teile des Vorgangs.

41        Wie die Europäische Kommission ausführt, gibt diese Buchungsmethode, wenn sie unter normalen Marktbedingungen angewandt wird, dem Wesen der Transaktion den Vorrang vor deren Form, so dass der Wert des Anlagevermögens unter Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit auf der Grundlage einer Bewertung berücksichtigt wird, die alle maßgeblichen Faktoren, im vorliegenden Fall insbesondere die finanziellen Belastungen, einbezieht, auch wenn sich diese Belastungen, da sie implizit sind, formal nicht aus dem Nominalwert des Anschaffungspreises für den betreffenden Vermögensgegenstand ergeben.

42        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660 aufgestellte Grundsatz der Bilanzwahrheit in dem Fall, in dem eine Aktiengesellschaft eine Finanzanlage erwirbt, deren Bezahlung über einen längeren Zeitraum gestaffelt und zinsfrei unter Bedingungen, die denen eines Darlehens gleichen, vorgesehen ist, dahin auszulegen ist, dass er der Verwendung einer Buchungsmethode nicht entgegensteht, bei der ein Skonto zum marktüblichen Zinssatz für eine unverzinsliche Verbindlichkeit in Bezug auf diesen Erwerb mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr in der Gewinn- und Verlustrechnung als Aufwendung und die Anschaffungskosten dieser Anlage auf der Aktivseite der Bilanz unter Abzug des Skontos ausgewiesen werden.

Zur zweiten und zur dritten Frage

43        Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht mehr zu beantworten.

Kosten

44        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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