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Bilanzrecht und Betriebswirtschaft
04.04.2013
Bilanzrecht und Betriebswirtschaft
BFH: Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen

BFH, Beschluss vom 31.1.2013 - GrS 1/10

Volltext des Beschlusses: //BB-Online BBL2013-873-1 unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Das Finanzamt ist im Rahmen der ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz (und deren einzelnen Ansätzen) zugrunde liegt, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war.


Sachverhalt

A. Vorgelegte Rechtsfrage, Sachverhalt und Ausgangsverfahren, Anrufungsbeschluss, Stellungnahmen der Beteiligten

I. Vorgelegte Rechtsfrage

Der I. Senat des BFH hat durch Beschluss vom 7.4.2010 - I R 77/08 (BFHE 228, 533, BStBl. II 2010, 739, BB 2010, 1400 m. BB-Komm. A. Schmid) dem Großen Senat gemäß § 11 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Ist das Finanzamt im Rahmen der ertragsteuerlichen Gewinnermittlung in Bezug auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte bilanzrechtliche Rechtsfragen an die Auffassung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz zugrunde liegt, wenn diese Rechtsauffassung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbar war?

II. Sachverhalt und Ausgangsverfahren

Die Klägerin ist eine GmbH, die die Konstruktion, die Herstellung und den Betrieb eines mobilen Zellularfunknetzes (Mobilfunknetzes) zum Gegenstand hat. Im Streitjahr (1996) bot sie ihren Kunden den verbilligten Erwerb von Mobiltelefonen für den Fall an, dass diese mit ihr einen Mobilfunkdienstleistungsvertrag (MFD-Vertrag) mit einer Laufzeit von mindestens 24 Monaten abschlossen oder einen bestehenden Vertrag entsprechend verlängerten.

Das FA war der Auffassung, die durch die verbilligte Abgabe der Mobiltelefone entstandene Betriebsvermögensminderung stelle einen Aufwand dar, der sich im Streitjahr nicht in vollem Umfang gewinnmindernd auswirken dürfe. Vielmehr müsse der Aufwand gemäß § 5 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 EStG, (hier und im Folgenden i. V. m. § 8 Abs. 1 S. 1 des Körperschaftsteuergesetzes) durch Ansatz eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens (RAP) periodengerecht über die Laufzeit des MFD-Vertrags verteilt werden. Dementsprechend legte es der Steuerfestsetzung für das Streitjahr abweichend von der Bilanz, die die Klägerin eingereicht hatte, einen um einen entsprechenden aktiven RAP erhöhten Bilanzgewinn zugrunde.

Die Klage blieb erfolglos. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 1607 abgedruckt.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 5  Abs. 5 S. 1 Nr. 1 EStG. Die Voraussetzungen für die Bildung des aktiven RAP lägen nicht vor. Sehe man dies anders, sei das FA dennoch unter Berücksichtigung des subjektiven Fehlerbegriffs an die in der eingereichten Bilanz zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung gebunden, der RAP sei nicht zu bilden. Diese Rechtsauffassung habe nämlich bei der Aufstellung der Bilanz wegen der seinerzeit ungeklärten Rechtslage der kaufmännischen Sorgfalt nicht widersprochen. Die angefochtenen Bescheide seien daher entsprechend zu ändern.

III. Vorlagebeschluss des I. Senats

Der I. Senat teilt die Auffassung von FA und FG zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Bildung des RAP. Er ist ferner der Ansicht, der RAP sei bei der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen, obwohl die Entscheidung der Klägerin, den RAP in der von ihr eingereichten Bilanz zum 31.12.1996 nicht zu bilden, zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung der kaufmännischen Sorgfalt entsprochen habe und somit subjektiv nicht fehlerhaft gewesen sei. Da diese Ansicht von der bisherigen Rechtsprechung des BFH zum subjektiven Fehlerbegriff abweiche und es sich um eine zentrale und umstrittene, alle mit Bilanzrecht befassten Senate des BFH betreffende Grundfrage des Bilanzsteuerrechts mit großer praktischer Bedeutung handele, sei die Vorlage an den Großen Senat gemäß § 11 Abs. 4 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung geboten.

IV. Stellungnahmen der Beteiligten

1. Die Klägerin hält die Vorlage für unzulässig. Die vorgelegte Rechtsfrage sei nicht entscheidungserheblich, da im Streitfall offensichtlich kein aktiver RAP zu bilden sei.

Im Übrigen müsse hinsichtlich der Beurteilung von Rechtsfragen durch den bilanzierenden Steuerpflichtigen am subjektiven Fehlerbegriff festgehalten werden, der zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) gehöre und auch bei der Abschlussprüfung und Bilanzkontrolle angewendet werde. Er sei daher für das Steuerrecht ebenfalls verbindlich, zumal aufgrund der "Zweischneidigkeit der Bilanz" eine zutreffende Totalgewinnermittlung gewährleistet sei. Darin unterscheide sich die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich (§ 4 Abs. 1, § 5 EStG) von der Ermittlung des Gewinns als Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 3 EStG) und von der Ermittlung der Einkünfte als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§ 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 i. V. m. §§ 8 bis 9a EStG). Eine Änderung des ursprünglichen Jahresabschlusses sei zudem zeit- und kostenaufwendig, könne eine Nachtragsprüfung gemäß § 316 Abs. 3 HGB sowie eine erneute Feststellung und Offenlegung (§ 325 Abs. 1 S. 6 HGB) notwendig machen und auf der Grundlage des Jahresabschlusses gefasste Gewinnverwendungsbeschlüsse infrage stellen. Dem sorgfältig Bilanzierenden dürften aus späterer besserer Tatsachen- oder Rechtserkenntnis keine Nachteile erwachsen. Dem subjektiven Fehlerbegriff komme deshalb eine Schutzfunktion zugunsten des Steuerpflichtigen zu. Es dürfe sich nicht zu seinen Lasten auswirken, wenn er sich bei der Bilanzierung an später aufgegebener höchstrichterlicher Rechtsprechung orientiert habe. Wenn sich die Rechtsprechung aber zugunsten des Steuerpflichtigen ändere, müsse er zu einer rückwirkenden Bilanzberichtigung berechtigt sein.

2. Das FA sieht die Vorlage als zulässig an. Der Große Senat habe die Rechtmäßigkeit der Bildung des RAP nicht zu prüfen. Die Vorlagefrage sei zu verneinen.

3. Das BMF, das dem Verfahren nach § 122 Abs. 2 FGO beigetreten ist, bejaht ebenfalls die Zulässigkeit der Vorlage. Über die Rechtmäßigkeit der Bildung des RAP habe der Große Senat nicht zu entscheiden.

Zur Vorlagefrage selbst vertritt das BMF die Auffassung, am subjektiven Fehlerbegriff könne bezogen auf die Beurteilung von Rechtsfragen nicht mehr uneingeschränkt festgehalten werden. Das Finanzamt habe die Richtigkeit der Bilanz auf der Grundlage der maßgeblichen Vorschriften zu prüfen und könne und müsse bei einem Verstoß gegen diese Vorschriften bei der Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung der allgemeinen verfahrensrechtlichen Bestimmungen zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen von der Bilanz abweichen. Es komme dabei nicht darauf an, ob die Voraussetzungen für eine Berichtigung der Bilanz durch den Steuerpflichtigen selbst erfüllt seien. Bei der Steuerfestsetzung könne es kein auf die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich beschränktes Wahlrecht zwischen subjektiver und objektiver Rechtmäßigkeit geben. Dies folge insbesondere auch aus der verfassungsrechtlichen Bindung der Finanzverwaltung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Es könne sich dabei nur um das "objektiv richtige" Recht handeln, und zwar auch bei einer im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung noch ungeklärten Rechtslage.

Am subjektiven Fehlerbegriff müsse hinsichtlich der Beurteilung von Rechtsfragen auch nicht im Hinblick auf den Schutz des Vertrauens auf eine zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung geltende, für den Steuerpflichtigen steuerlich günstige Verwaltungsauffassung oder Rechtsprechung festgehalten werden. Ändere sich die Verwaltungsauffassung oder Rechtsprechung nach diesem Zeitpunkt zulasten des Steuerpflichtigen, sei ihm entsprechend der bisherigen Praxis unabhängig vom subjektiven Fehlerbegriff Vertrauensschutz zu gewähren.

Falls sich der Große Senat der Auffassung des I. Senats anschließe, solle er im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Übergangsregelungen zugunsten der Finanzverwaltung treffen, und zwar vor allem hinsichtlich der bisher mit Hinweis auf den subjektiven Fehlerbegriff abgelehnten Passivierung von den Steuerpflichtigen materiell-rechtlich zustehenden Rückstellungen.

B. Entscheidung des Großen Senats zu Verfahrensfragen

I. Keine mündliche Verhandlung

Der Große Senat entscheidet gemäß § 11 Abs. 7 S. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung, weil eine weitere Förderung der Entscheidung durch eine mündliche Verhandlung nicht zu erwarten ist. Die Vorlagefrage und die unterschiedlichen Auffassungen, die dazu in Rechtsprechung, Schrifttum und Verwaltungsanweisungen vertreten werden, sind im Vorlagebeschluss eingehend dargestellt worden. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zu der Vorlagefrage Stellung zu nehmen.

Aus den Gründen

23        II. Zulässigkeit der Vorlage

24        Die Vorlage ist zulässig.

25        1. Vorlagegrund

26        Die vorgelegte Frage ist gemäß § 11 Abs. 4 FGO von grundsätzlicher Bedeutung. Ob an der bisherigen Rechtsprechung des BFH zum subjektiven Fehlerbegriff festzuhalten ist, ist für die Bilanzierungspraxis von großer Tragweite und in der Literatur umstritten (BFH-Beschluss in BFHE 228, 533, BStBl. II 2010, 739, Rz 36 ff., und unten C.I.3.). Die vorgelegte Frage kann sich bei allen Senaten des BFH stellen, die mit Bilanzierungsfragen befasst sind. Im Übrigen entscheidet der vorlegende Senat, ob die Anrufung des Großen Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (BFH-Beschluss vom 7.8.2000 - GrS 2/99, BFHE 192, 339, BStBl. II 2000, 632, BB 2000, 2247 m. BB-Komm. Herzig, unter B.II.1., m. w. N.).

27        2. Entscheidungserheblichkeit

28        Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung des I. Senats rechtserheblich. Je nach ihrer Beantwortung hat die Revision der Klägerin nach der der Vorlage zugrunde liegenden, die Bildung des RAP betreffenden Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch den I. Senat Erfolg oder nicht. Der Große Senat hat die vom I. Senat vertretene Ansicht zur Bildung des RAP nicht auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Er hat nach § 11 Abs. 7 S. 1 FGO nur über die ihm vorgelegte Rechtsfrage, nicht aber über Vorfragen (wie diejenige nach der Rechtmäßigkeit der Bildung des RAP) zu entscheiden. Die Entscheidung über solche Vorfragen ist ausschließlich Sache des vorlegenden Senats. Aus der Verpflichtung des Großen Senats, die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage zu prüfen, ergibt sich nichts anderes. Der Große Senat muss über die Entscheidungserheblichkeit einer vorgelegten Frage auf der Grundlage der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats zu den Vorfragen befinden (BFH-Beschlüsse in BFHE 192, 339, BStBl. II 2000, 632, unter B.II.2.; vom 3.9.2001 - GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl. II 2001, 802, BB 2002, 770 m. BB-Komm. Rüping, unter B.II.2.b; vom 10. Dezember 2001 GrS 1/98, BFHE 197, 240, BStBl. II 2002, 291, unter B.II.; vom 12.5.2003 - GrS 1/00, BFHE 202, 464, BStBl. II 2004, 95, BB 2003, 2158, unter B.II.; vom 12.5.2003 - GrS 2/00, BFHE 202, 477, BStBl. II 2004, 100, BB 2003, 2163, unter B.II.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz 31; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO Rz 12; Müller-Horn in Beermann/Gosch, FGO § 11 Rz 20; kritisch Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 11 FGO Rz 105 f.).

29        Der von der Klägerin angeführte BFH-Beschluss vom 17.7.1967 - GrS 3/66 (BFHE 91, 213, BStBl. II 1968, 285) führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Große Senat hat in diesem Beschluss zwar ausgeführt, bei Rechtsfragen, die offensichtlich nicht entscheidungserheblich sein könnten, müsse der Große Senat wegen des Fehlens der nach § 11 Abs. 4 FGO erforderlichen Voraussetzungen eine Anrufung als unzulässig verwerfen. Die vom I. Senat zur Bildung des RAP vertretene Ansicht ist aber nicht offensichtlich unzutreffend. Der I. Senat hat diese Ansicht unter Heranziehung der bisherigen BFH-Rechtsprechung sowie eines Schreibens des BMF und von Literatur eingehend begründet. Sie wird zudem vom BMF und vom FA geteilt.

30        C. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage

31        Der Große Senat entscheidet die vorgelegte Rechtsfrage im Wesentlichen im Sinne der Auffassung des vorlegenden Senats.

32        I. Bisher in der Rechtsprechung, in Verwaltungsvorschriften und im Schrifttum vertretene Auffassungen

33        1. Höchstrichterliche Rechtsprechung

34        a) Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH)

35        Der RFH hat - abgesehen von den Fällen, in denen Bilanzansätze auf Schätzungen oder Prognosen beruhen (vgl. dazu RFH-Urteile vom 13.11.1930 - VI A 844/30, RStBl 1931, 110; vom 15.1.1931 - VI A 31/31, RStBl 1931, 201; vom 22.4.1931 - VI A 743/31, RFHE 28, 289, RStBl 1931, 384; vom 17.6.1931 - VI A 533/31, RStBl 1931, 813; vom 1.12.1931 - I A 325/31, RStBl 1932, 145; vom 2.3.1932 - VI A 381/31, RStBl 1932, 510; vom 2.6.1932 - VI A 797/32, RStBl 1932, 824; vom 14.7.1932 - I A 81/30, RStBl 1932, 737; vom 19.8.1942 - VI 280/42, RStBl 1942, 934) - soweit ersichtlich der subjektiven Beurteilung durch den Steuerpflichtigen keine Bedeutung beigemessen. Im Urteil vom 4.9.1934 - I A 97/34 (RStBl 1934, 1366) führte er im Rahmen der Darlegungen zur grundsätzlichen Bindung der Steuerbilanz an die Handelsbilanz aus, die steuerlichen Vorschriften strebten objektiv richtige Bilanzansätze in den Steuerbilanzen an und schlössen es daher in aller Regel aus, dass der Besteuerung zugunsten des Steuerpflichtigen andere Werte als die in der Handelsbilanz ausgewiesenen zugrunde gelegt würden.

36        b) Rechtsprechung des BFH

37        aa) Der BFH entschied mit Urteil vom 11.10.1960 - I 56/60 U (BFHE 72, 8, BStBl. III 1961, 3), dass bei der Bewertung einer Forderung zum Bilanzstichtag auch bis zur Bilanzaufstellung erworbene Kenntnisse zu berücksichtigen seien. Nachträglich erworbene Kenntnisse, die der Steuerpflichtige bei der Bilanzaufstellung nicht gehabt habe und die sich ein sorgfältiger Kaufmann bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht hätte verschaffen können, könnten eine spätere Bilanzberichtigung oder Bilanzänderung nach § 4 Abs. 2 EStG nicht rechtfertigen. Zur Begründung führte der BFH aus, Handelsrecht und Steuerrecht könnten von dem Kaufmann nicht mehr verlangen, als dass er bei der Aufstellung der Bilanz seine bis dahin erlangte Kenntnis von dem am Bilanzstichtag vorliegenden Sachverhalt pflichtgemäß und gewissenhaft verwerte. Erfahre er erst nach der Aufstellung der Bilanz von Tatsachen, die eine bilanzierte Forderung als nicht vollwertig erscheinen ließen, sei er weder verpflichtet noch berechtigt, die von ihm nach bestem Wissen aufgestellte Bilanz zu berichtigen.

38        bb) Mit Urteil vom 14.8.1975 - IV R 30/71 (BFHE 117, 44, BStBl. II 1976, 88, unter 3.c) hat der BFH die Maßgeblichkeit der Erkenntnismöglichkeiten des Bilanzierenden bei der Aufstellung der Bilanz über die Beurteilung von Tatsachen hinaus auch auf die rechtlichen Verhältnisse ausgedehnt. Eine Bilanz sei danach nicht stets falsch, wenn sich nach ihrer Aufstellung herausstelle, dass bestimmte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse am Bilanzstichtag objektiv anders gewesen seien, als bei der Aufstellung der Bilanz angenommen worden sei. Vielmehr sei eine Bilanz in einem solchen Fall richtig und daher nicht zu berichtigen, wenn sie den im Zeitpunkt ihrer Aufstellung bestehenden Erkenntnismöglichkeiten über die am Bilanzstichtag objektiv bestehenden Verhältnisse entspreche, d. h. wenn sie subjektiv richtig sei. In der Entscheidung ging es allerdings nicht um die Auslegung von Rechtsvorschriften, sondern um die Frage, ob die seinerzeitige Klägerin ihre Bilanz habe berichtigen können, weil vereinbarte Pachtzinsen objektiv zu niedrig gewesen seien und deshalb verdeckte Gewinnausschüttungen vorgelegen hätten. Der IV. Senat verneinte diese Frage mit der Begründung, die Klägerin habe die unangemessene Höhe der Pachtzinsen bei der Aufstellung der Bilanz weder gekannt noch bei entsprechender Sorgfalt ohne weiteres erkennen können.

39        cc) Nach dem BFH-Urteil vom 25.4.1990 - I R 78/85 (BFH/NV 1990, 630) ist eine zu Unrecht gebildete Rückstellung rückwirkend in der Schlussbilanz des ersten Jahres, dessen Veranlagung noch geändert werden kann, aufzulösen, und zwar auch dann, wenn die frühere Bilanzierung infolge Rechtsunkenntnis oder -irrtums subjektiv richtig gewesen und vom Finanzamt auch nach einer Außenprüfung nicht beanstandet worden ist. Dies folge aus dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung, nach dem die Besteuerungsgrundlagen für jeden Veranlagungszeitraum selbständig festzustellen und der Sachverhalt und die Rechtslage neu zu prüfen seien.

40        dd) Ein Bilanzansatz ist nach dem BFH-Urteil vom 12.11.1992 - IV R 59/91 (BFHE 170, 217, BStBl. II 1993, 392, BB 1993, 830) nicht fehlerhaft, wenn er den im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung objektiv bestehenden Erkenntnismöglichkeiten entspricht und somit subjektiv richtig ist. Ein Bilanzansatz, der im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspreche, sei deshalb nicht fehlerhaft. Komme es nach der Bilanzaufstellung zu einer Änderung der Rechtsprechung, werde der (fortbestehende) Bilanzansatz erst in der Bilanz fehlerhaft, in der die Änderung der Rechtsprechung erstmals hätte berücksichtigt werden können.

41        ee) Nach dem BFH-Urteil vom 5.9.2001 - I R 107/00 (BFHE 196, 515, BStBl. II 2002, 134, BB 2002, 1143) ist eine sachlich richtige Bilanz der Besteuerung zugrunde zu legen (§ 158 AO). Die "Richtigkeit" einer Bilanz könne nicht nur an objektiven Kriterien gemessen werden. Sachlich richtig sei eine Bilanz vielmehr schon dann, wenn sie denjenigen Kenntnisstand widerspiegele, den der Kaufmann im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung hätte haben können. Dieser Grundsatz könne jedoch im Zusammenhang mit Umständen, die steuerlich in die Vergangenheit zurückwirkten (z. B. Nichteinhaltung der gesetzlich angeordneten zeitlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Steuervergünstigung), nicht uneingeschränkt gelten.

42        ff) Eine Rückstellung, die nach dem Kenntnisstand des sorgfältigen Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung nicht zu bilden war, kann nach dem BFH-Urteil vom 5.4.2006 - I R 46/04 (BFHE 213, 326, BStBl. II 2006, 688, BB 2006, 1626) auch dann nicht nachträglich im Wege einer Bilanzberichtigung gebildet werden, wenn sie bei objektiver Beurteilung hätte gebildet werden müssen und die auf der Bilanz beruhende Steuerfestsetzung verfahrensrechtlich noch geändert werden könnte; die Bilanz sei in einem solchen Fall trotz objektiver Fehlerhaftigkeit im Hinblick auf § 4 Abs. 2 S. 1 EStG als "richtig" anzusehen. Dies gelte zum einen dann, wenn die Bilanz der zur Zeit der Bilanzaufstellung vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprochen habe. Zum anderen müsse jede der kaufmännischen Sorgfalt entsprechende Bilanzierung als "richtig" angesehen werden, wenn es in diesem Zeitpunkt noch keine Rechtsprechung zu der in Rede stehenden Bilanzierungsfrage gegeben habe.

43        Der BFH hat diese Rechtsprechung durch das Urteil vom 5.6.2007 - I R 47/06 (BFHE 218, 221, BStBl. II 2007, 818, BB 2007, 2237) bestätigt (ebenso BFH-Urteile vom 23.1.2008 - I R 40/07, BFHE 220, 361, BStBl. II 2008, 669, BB 2008, 1446 m. BB-Komm. Bergemann; vom 17.7.2008 - I R 85/07, BFHE 222, 418, BStBl. II 2008, 924, BB 2008, 2398 m. BB-Komm. Ortmann-Babel/Bolik; vom 16.12.2008 - I R 54/08, BFH/NV 2009, 746, und vom 16.12.2009 - IV R 18/07, BFH/NV 2010, 1419).

44        gg) In anderen Entscheidungen hat der I. Senat des BFH allerdings die Abweichung von Bilanzansätzen des Steuerpflichtigen zu dessen Lasten aufgrund der objektiven Rechtslage gebilligt, ohne zu prüfen, ob die der Bilanz zugrunde liegende Rechtsauffassung des Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbar war (so etwa in den Urteilen vom 30.11.2005 - I R 110/04, BFHE 212, 83, BStBl. II 2007, 251, BB 2006, 765; vom 25.8.2010 - I R 103/09, BFHE 231, 57, BStBl. II 2011, 215, BB 2011, 241 m. BB-Komm. Hahne; vom 21.9.2011 - I R 89/10, BFHE 235, 263; vom 30.11.2011 - I R 100/10, BFHE 235, 476, BStBl. II 2012, 332, BB 2012, 764 m. BB-Komm. Mihm).

45        2. Verwaltungsauffassung

46        Die Finanzverwaltung wendet den subjektiven Fehlerbegriff im Bereich der Bilanzberichtigung durch den Steuerpflichtigen gemäß § 4 Abs. 2 S. 1 EStG grundsätzlich so an, wie er vom BFH entwickelt wurde; eine Bilanzberichtigung sei unzulässig, wenn der Bilanzansatz im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung subjektiv richtig gewesen sei (R 4.4 Abs. 1 S. 1 bis 5 der Einkommensteuer-Richtlinien). Die Frage, ob die Finanzbehörden an eine der Bilanz zugrunde liegende objektiv unrichtige, zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aber subjektiv vertretbare Rechtsauffassung gebunden seien, ist in Verwaltungsvorschriften nicht ausdrücklich geregelt.

47        3. Schrifttum

48        a) Die dem subjektiven Fehlerbegriff allgemein zukommende Bedeutung ist im Schrifttum umstritten.

49        aa) Im Bereich des Handelsrechts folgt das Schrifttum grundsätzlich dem subjektiven Fehlerbegriff (Grottel/Schubert in Beck Bil-Komm., 8. Aufl., § 253 HGB Rz 805; Adler/Düring/ Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., AktG § 172 Rz 43; Stellungnahme des IDW vom 12.4.2007, Fachnachrichten IDW 2007, 265, 267, Rz 14; Welf Müller in H.P. Westermann/ Rosener [Hrsg.], Festschrift Quack, 1991, S. 359, 367; Schön in Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Widmaier [Hrsg.], 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, Bd. II, S. 153, 155 f., 162; Schulze-Osterloh, BB 2007, 2335). Unterschiedliche Auffassungen bestehen zu der Frage, ob die Erkenntnismöglichkeiten des gewissenhaften und pflichtgemäß handelnden Kaufmanns zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung (so hinsichtlich der vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, der Wortlaut des § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) oder zum (späteren) Zeitpunkt der Feststellung der Bilanz maßgeblich sein sollen (zum Diskussionsstand Küting/ Kaiser, Die Wirtschaftsprüfung 2000, 577, und Hüttemann in Hommelhoff/Rawert/K. Schmidt [Hrsg.], Festschrift Priester, 2007, S. 301, 331 ff.).

50        bb) Für die Steuerbilanz werden in der Literatur unterschiedliche Positionen vertreten.

51        (1) Ein Teil der Literatur folgt der Rechtsprechung des BFH zum subjektiven Fehlerbegriff in vollem Umfang (Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl., § 9 Rz 32 ff.) oder für Bilanzansätze, die wie etwa die Bewertung von Forderungen von Prognosen und Schätzungen abhängen (Grottel/Schubert, a. a. O., § 253 HGB Rz 805; Ritzrow in Federmann/Kußmaul/Müller, Handbuch der Bilanzierung, Nr. 26 Rz 46 ff.; Frotscher in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 4 Rz 434 ff.; Crezelius in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 4 Rz 116 f.; Bode in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 4 Rz 116 f.; Schmidt/Heinicke, EStG, 31. Aufl., § 4 Rz 681, 687; Hennrichs, DStR 2009, 1446, 1448; Günther, StBp 1963, 63; Hoffmann, DStR 2011, 88).

52        (2) Einzelne Autoren lehnen die Rechtsprechung des BFH zum subjektiven Fehlerbegriff - mit teilweise unterschiedlicher Beurteilung von Einzelfragen - ab (Weber-Grellet, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rz C 106 ff.; Schmidt/ Weber-Grellet, a. a. O., § 5 Rz 81; Stapperfend in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz 411; ders., Bilanzberichtigung und Bindung der Finanzverwaltung an die eingereichte Bilanz - Subjektiver Fehlerbegriff auf dem Prüfstand, Institut Finanzen und Steuern e.V., IFSt-Schrift Nr. 464, 2010, S. 26 ff.; ders., DStR 2010, 2161, 2162 ff.; Kühnen in Bordewin/Brandt, § 4 EStG Rz 1040, 1046; Meurer in Lademann, EStG, § 4 EStG Rz 815; Sauer, StBp 1963, 93, 95 ff., und StBp 1977, 173, 175; Flume, DB 1981, 2505, 2507; von Beckerath in Doralt [Hrsg.], Probleme des Steuerbilanzrechts, DStJG, Bd. 14, 1991, S. 65, 113 ff.; ders., FR 2011, 349; Schuhmann, StBp 1996, 1; Tetzlaff/Schallock, StBp 2007, 148, 150 f.; Rätke, Steuern und Bilanzen 2010, 528, 531 f.; Hey in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., § 17 Rz 37; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl., § 3 V, S. 61; Knobbe, Der Grundsatz der subjektiven Richtigkeit im Handels- und Steuerbilanzrecht, 2009, S. 85 ff.). Diese Autoren sehen die Funktion der Steuerbilanz als Mittel zur Gewinnermittlung und damit zur gesetzmäßigen und gleichmäßigen Besteuerung nur auf der Grundlage von objektiv richtigen Ansätzen als gewährleistet an. Dabei wird allerdings der Beurteilungsspielraum, welcher dem Steuerpflichtigen bei Bilanzansätzen, die eine Schätzung oder Prognose erfordern, im Rahmen einer vernünftigen, sorgfältigen kaufmännischen Beurteilung zusteht, nicht infrage gestellt (Weber-Grellet, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, a. a. O., § 4 Rz C 112; Stapperfend in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz 411; ders., IFSt-Schrift Nr. 464, S. 26, 47; ders., DStR 2010, 2161, 2166; von Beckerath, DStJG, Bd. 14, 1991, S. 65, 117 f.; ders., FR 2011, 349, 355 ff.). Hennrichs (DStR 2009, 1446, 1447, m. w. N.) weist darauf hin, dass solche Bilanzansätze stets mit Unsicherheiten behaftet und Wertansätze innerhalb eines Korridors vertretbarer Werte daher insoweit rechtlich fehlerfrei seien. Teilweise wird zumindest die Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs auf die Beurteilung von Rechtsfragen abgelehnt (U. Prinz, DB 2010, 2634; M. Prinz, FR 2010, 803).

53        (3) Ferner wird die Ansicht vertreten, der Maßstab der subjektiven Richtigkeit dürfe sich immer nur zugunsten des Bilanzierenden auswirken, schließe also eine freiwillige Berichtigung oder Änderung der objektiv fehlerhaften Bilanz und somit insbesondere die Berücksichtigung einer nachträglich ergangenen, für den Steuerpflichtigen günstigeren Rechtsprechung des BFH nicht aus (Hüttemann in Hommelhoff/Rawert/K. Schmidt [Hrsg.], a. a. O., S. 310; U. Prinz/Schulz, DStR 2007, 776, 778 f.; Schön, Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 20, 22 f.; ebenso bereits Sauer, StBp 1963, 93, 96 f.).

54        b) Schließlich wird teilweise auch eine Bindung der Finanzverwaltung an eine der Bilanz zugrunde liegende objektiv unzutreffende, aber bei der Aufstellung der Bilanz vertretbare und somit subjektiv richtige Rechtsauffassung des Steuerpflichtigen für zutreffend gehalten (Rödder/Hageböke, Die Unternehmensbesteuerung 2008, 401, 406; kritisch Tetzlaff/Schallock, StBp 2007, 148, 151; Gosch, BFH/PR 2008, 336, und BFH/PR 2010, 282). Überwiegend wird eine solche Bindung aber als "zu weitgehend" (Werra/Rieß, DB 2007, 2502, 2506) oder unter Hinweis auf die Gesetzesbindung der Finanzverwaltung nach § 85 S. 1 AO und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Besteuerung abgelehnt (Schulze-Osterloh, BB 2007, 2335, 2336; von Beckerath, FR 2011, 349, 356 f.; Pohl, FR 2009, 279, 282 f.; Söhn in HHSp, § 85 AO Rz 31; Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz 219, und in Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2008, 1224; Kühnen in Bordewin/Brandt, § 4 EStG Rz 1040).

55        II. Auffassung des Großen Senats

56        Der Große Senat teilt die Ansicht des vorlegenden Senats. Das Finanzamt ist im Rahmen der ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz (und deren einzelnen Ansätzen) zugrunde liegt, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war. Das gilt auch für eine in diesem Zeitpunkt von Verwaltung und Rechtsprechung praktizierte, später aber geänderte Rechtsauffassung.

57        1. Eine Bindung des Finanzamts an eine objektiv unzutreffende, aber im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbare rechtliche Beurteilung, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Handels- oder Steuerbilanz oder deren einzelnen Ansätzen zugrunde liegt, lässt sich weder aus § 5 Abs. 1 S. 1 EStG noch aus § 4 Abs. 2 EStG ableiten.

58        a) Gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 EStG ist bei buchführenden bzw. buchführungspflichtigen Gewerbetreibenden für den Schluss des Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen GoB auszuweisen ist. Dem vergleichbar schreibt § 243 Abs. 1 HGB vor, dass Kaufleute den Jahresabschluss nach den GoB aufzustellen haben. Neben den speziellen Regelungen des § 5 Abs. 2 bis Abs. 5 EStG sind nach § 5 Abs. 6 EStG die Vorschriften über die Entnahmen und die Einlagen, über die Zulässigkeit der Bilanzänderung, über die Betriebsausgaben, über die Bewertung und über die Absetzung für Abnutzung oder Substanzverringerung zu befolgen.

59        Die GoB sind entweder ausdrücklich kodifiziert (vgl. etwa § 252 Abs. 1 HGB zur Bewertung) oder sie haben mittelbar eine Ausprägung in konkreten Bilanzierungsnormen des Handelsrechts gefunden. Sie haben normativen Charakter und sind revisibel. Handelsrechtliche GoB sind insbesondere der Grundsatz der Bilanzwahrheit, der Grundsatz der Bilanzkontinuität, das Vorsichtsprinzip und das Stichtagsprinzip.

60        b) Es kann offenbleiben, ob entsprechend der Auffassung der Klägerin und von Teilen der Literatur auch der subjektive Fehlerbegriff zu den GoB gehört (vgl. Grottel/Schubert, a. a. O., § 253 HGB Rz 805; Adler/Düring/Schmaltz, a. a. O., AktG § 172 Rz 43; Knobbe, a. a. O., S. 149; Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, 11. Aufl., 2011, S. 673). Denn ein solcher handelsrechtlicher GoB könnte eine Steuerfestsetzung auf der Grundlage der jeweils maßgebenden steuerrechtlichen Vorschriften nicht verhindern.

61        aa) Verwaltung und Gerichte sind verpflichtet, ihrer Entscheidung die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem in Art. 20 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Rechtsstaatsprinzip sowie für die Gerichte ergänzend aus Art. 97 Abs. 1 GG, wonach die Richter dem Gesetz unterworfen sind. An der gesetzmäßigen, d.h. insbesondere gleichmäßigen Besteuerung besteht ein hohes öffentliches Interesse, das in diesen grundlegenden verfassungsrechtlichen Garantien verankert ist und deshalb einen Rang hat, der über das nur fiskalische Interesse an der Sicherung des Steueraufkommens hinausgeht (Urteil des BVerfG vom 27.6.1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl. II 1991, 654, BB 1991, 1, unter C.I.1., II.2.c; BFH-Urteil vom 18.1.2012 - II R 49/10, BFHE 235, 151, BStBl. II 2012, 168, Rz 47). Im Steuerrecht müssen von Verfassungs wegen die steuerbegründenden Vorschriften dem Prinzip einer möglichst gleichmäßigen Belastung der Steuerpflichtigen besonders sorgfältig Rechnung tragen (BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, BStBl. II 1991, 654, unter C.I.1.a; BVerfG-Beschluss vom 17.11.2009 - 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1, BB 2010, 870 m. BB-Komm. Balmes, unter B.I.1.). Dies ist auch bei der Auslegung steuerrechtlicher Vorschriften zu beachten.

62        bb) Für die Besteuerung ist danach abgesehen von im Einzelfall gebotenen Billigkeitsmaßnahmen (§§ 163, 227 AO) generell die objektive Rechtslage maßgebend. Den vom Steuerpflichtigen vertretenen Rechtsansichten kommt auch dann keine Bedeutung zu, wenn sie bei der Aufstellung der Bilanz vertretbar waren oder der damals herrschenden Auffassung entsprachen. Die Besteuerung knüpft an den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt an (§ 38 AO), nicht aber an Rechtsansichten des Steuerpflichtigen, und erfolgt materiell-rechtlich ohne Rücksicht auf deren Vertretbarkeit oder Verschulden des Steuerpflichtigen.

63        cc) Dies gilt auch bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich, und zwar sowohl hinsichtlich der Anwendung spezieller bilanzsteuerrechtlicher Vorschriften (insbesondere § 5 Abs. 2 bis 6 EStG) als auch bei der Heranziehung der handelsrechtlichen GoB. Mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Besteuerung nicht vereinbar wäre eine Auslegung des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG, nach der bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen der subjektive Fehlerbegriff zu beachten sei. Die Verwirklichung eines bestimmten Sachverhalts könnte ansonsten je nach der subjektiven Beurteilung der Rechtslage durch den Steuerpflichtigen bei der Aufstellung der Bilanz trotz vergleichbarer Sachverhalte zu unterschiedlichen steuerlichen Belastungen führen. Dies würde gegen das Gebot der gesetz- und gleichmäßigen Besteuerung verstoßen.

64        (1) Nach der Rechtsprechung des BFH steht es dementsprechend nicht im Belieben des Kaufmanns, durch handelsbilanzrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit steuerrechtlicher Wirkung unzutreffend darzustellen. So hat etwa der Große Senat mit Beschluss vom 3.2.1969 - GrS 2/68 (BFHE 95, 31, BStBl. II 1969, 291) ausgesprochen, dass seinerzeit bestehende handelsrechtliche Bilanzierungswahlrechte nicht ohne ausdrückliche steuerrechtliche Regelung als Grundlage der Besteuerung berücksichtigt werden konnten (ebenso BFH-Urteil vom 21.10.1993 - IV R 87/92, BFHE 172, 462, BStBl. II 1994, 176, BB 1994, 113). Mit diesen Grundsätzen ist es nicht vereinbar, dem Kaufmann hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen bei der Gewinnermittlung mit für das Finanzamt bindender Wirkung faktisch ein Wahlrecht zwischen mehreren vertretbaren Rechtsansichten einzuräumen. Es ist vielmehr Zweck der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, grundsätzlich den Periodengewinn so zu erfassen, wie er sich aus den steuerrechtlich maßgeblichen Vorschriften ergibt. Damit wird eine den Gesetzen entsprechende gleichmäßige Besteuerung gewährleistet.

65        (2) Die Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs auf bilanzielle Rechtsfragen würde darüber hinaus dem Zeitpunkt der Bilanzaufstellung eine materiell-rechtliche Bedeutung für die Besteuerung beimessen. Die Beurteilung, ob ein objektiv fehlerhafter Bilanzansatz zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war, kann sich nämlich je nach der Entwicklung der Verwaltungsauffassung, der Rechtsprechung und der Literatur ändern. Eine solche materiell-rechtliche Bedeutung kommt dem Zeitpunkt der Bilanzaufstellung indes nicht zu; denn dieser Zeitpunkt gehört nicht zu dem im jeweiligen Veranlagungszeitraum verwirklichten Lebenssachverhalt und somit nicht zu dem Tatbestand, an den das Einkommensteuergesetz oder Körperschaftsteuergesetz die Leistungspflicht knüpft (§ 38 AO).

66        (3) Auf die objektive Rechtslage kommt es auch dann an, wenn die vom Steuerpflichtigen einem Bilanzansatz zugrunde gelegte Rechtsauffassung der seinerzeit von der Finanzverwaltung und/ oder Rechtsprechung gebilligten Bilanzierungspraxis entsprach. Auch in einem solchen Fall ist allein die im Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung maßgebliche, objektiv zutreffende Rechtslage zugrunde zu legen. Der Große Senat geht insoweit über die vom I. Senat vorgelegte Frage hinaus. § 11 Abs. 7 S. 1 FGO, dem zufolge der Große Senat nur über die Rechtsfrage entscheidet, steht der Erstreckung der vom I. Senat vorgelegten Frage, die sich nur auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte bilanzielle Rechtsfragen bezieht, auf alle bilanziellen Rechtsfragen nicht entgegen. Die Erweiterung der Vorlagefrage und ihre Beantwortung dienen der Fortbildung des Rechts und der Rechtseinheitlichkeit.

67        Eine lediglich vertretbare Rechtsansicht des Steuerpflichtigen kann daher weder die Finanzverwaltung noch - nachfolgend - die Gerichte bei der Steuerfestsetzung binden. Soweit es einem Bilanzierenden erlaubt sein sollte, die subjektiv richtige Handelsbilanz nicht korrigieren zu müssen, wenn er bei ihrer Aufstellung die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns an den Tag gelegt hat, könnte dies nicht auf die Besteuerung übertragen werden.

68        (4) Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich aus der sog. Zweischneidigkeit der Bilanz (und den Grundsätzen des formellen Bilanzzusammenhangs) nichts anderes. Mit dem Begriff der Zweischneidigkeit der Bilanz wird umschrieben, dass die Bilanz Bestandteil der Gewinnermittlung für zwei Wirtschaftsjahre ist, in denen sich gegenläufige Gewinnauswirkungen ergeben können. Dies ist eine Folge des Grundsatzes der Bilanzidentität, nach der das Endvermögen des laufenden Wirtschaftsjahres zugleich das Anfangsvermögen des folgenden Wirtschaftsjahres ist (§ 4 Abs. 1 S. 1 EStG). Danach können sich Fehler bei der Bilanzierung später wieder ausgleichen, so etwa wenn eine zu Unrecht gebildete Rückstellung später aufgelöst wird.

69        Dass sich in einem solchen Fall der Bilanzierungsfehler nicht auf den während des Bestehens des Unternehmens entstehenden Gesamtgewinn auswirkt, bedeutet nicht, dass auch die Steuer in diesem Zeitraum in identischer Höhe entsteht. Dies wird vielmehr häufig nicht der Fall sein, z.B. wegen des progressiven Einkommensteuertarifs (§ 32a EStG), der in § 16 Abs. 4 und § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 EStG vorgesehenen Vergünstigungen bei der Besteuerung von Betriebsveräußerungs- und Betriebsaufgabegewinnen sowie möglichen Änderungen des Steuersatzes in diesem Zeitraum. Zudem kann eine zu niedrige Steuerfestsetzung in einem Veranlagungszeitraum u. U. erhebliche Liquiditäts- und Zinsvorteile zur Folge haben.

70        Bilanzierungsfehler gleichen sich überdies trotz der Zweischneidigkeit der Bilanz nicht in jedem Fall in späteren Wirtschaftsjahren aus. Zu einem solchen Ausgleich kommt es beispielsweise dann nicht, wenn zu Unrecht als Betriebsvermögen behandeltes Privatvermögen endgültig an Wert verliert und dies zu einer Gewinnminderung im Betriebsvermögen führt.

71        c) § 4 Abs. 2 EStG verlangt ebenfalls nicht die Bindung des Finanzamts an subjektiv vertretbare Bilanzansätze. Gemäß § 4 Abs. 2 S. 1 EStG in der für das Streitjahr (1996) geltenden Fassung darf der Steuerpflichtige die Vermögensübersicht (Bilanz) auch nach ihrer Einreichung beim Finanzamt ändern, soweit sie den GoB unter Befolgung der Vorschriften dieses Gesetzes nicht entspricht. Nach der aktuell geltenden Fassung der Vorschrift ist diese Änderung nicht zulässig, wenn die Vermögensübersicht (Bilanz) einer Steuerfestsetzung zugrunde liegt, die nicht mehr aufgehoben oder geändert werden kann. Darüber hinaus ist eine Änderung der Vermögensübersicht (Bilanz) gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 EStG nur zulässig, wenn sie in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer Änderung nach S. 1 steht und soweit die Auswirkung der Änderung nach S. 1 auf den Gewinn reicht.

72        Das sich aus § 4 Abs. 2 EStG ergebende Recht des Steuerpflichtigen zur Änderung der Vermögensübersicht (Bilanz) steht der Pflicht des Finanzamts zur Steuerfestsetzung nach Maßgabe der objektiv richtigen Rechtslage nicht entgegen. Entsprechen Bilanzansätze objektiv nicht den jeweils maßgebenden speziellen bilanzsteuerrechtlichen Vorschriften oder den handelsrechtlichen GoB, ist das Finanzamt unabhängig von einem Recht oder einer Pflicht des Steuerpflichtigen zur Berichtigung der Bilanz gemäß § 4 Abs. 2 S. 1 EStG zu einer eigenständigen Gewinnermittlung berechtigt und verpflichtet.

73        Zwar kann nur der Steuerpflichtige selbst die Bilanz nach § 4 Abs. 2 S. 1 EStG berichtigen (BFH-Urteile vom 4.11.1999 - IV R 70/98, BFHE 190, 404, BStBl. II 2000, 129, BB 2000, 560; vom 13.6.2006 - I R 84/05, BFHE 214, 178, BStBl. II 2007, 94, BB 2006, 2633, unter II.3.b bb). Indes ist die Abweichung von der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen im Rahmen der Steuerfestsetzung keine Bilanzberichtigung, sondern eine eigenständige Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen durch das Finanzamt, der § 4 Abs. 2 EStG nicht entgegensteht.

74        d) Der Rechtsprechung des I. Senats, wie sie insbesondere in den Entscheidungen in BFHE 218, 221, BStBl. II 2007, 818 und in BFHE 222, 418, BStBl. II 2008, 924 zum Ausdruck kommt (Maßgeblichkeit der subjektiven Richtigkeit), kann sich der Große Senat daher nicht anschließen. Das Finanzamt hat vielmehr bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich ebenso wie auch sonst bei der Steuerfestsetzung unabhängig von den Rechtsansichten des Steuerpflichtigen zu prüfen, ob bei der Gewinnermittlung die Rechtslage zutreffend beurteilt worden ist. Spezielle steuerrechtliche Vorschriften sind dabei auch dann eigenständig auszulegen und anzuwenden, wenn sie im Handelsrecht eine Entsprechung finden (vgl. BFH-Urteil vom 15.7.1998 - I R 24/96, BFHE 186, 388, BStBl. II 1998, 728, BB 1999, 45, unter II.4.), und zwar unter Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs, in dem sie im Steuerrecht stehen (BFH-Beschluss in BFHE 228, 533, BStBl. II 2010, 739, Rz 13).

75        Ist eine Rechtsansicht, die der Steuerpflichtige der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich zugrunde gelegt hat, mit speziellen steuerrechtlichen Vorschriften oder den handelsrechtlichen Bestimmungen für die Handelsbilanz nicht vereinbar, darf das Finanzamt die Gewinnermittlung insoweit der Besteuerung nicht zugrunde legen. Es muss vielmehr eine eigene Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich mit gegenüber der Handels- oder Steuerbilanz abgeänderten Werten vornehmen (BFH-Urteil in BFHE 190, 404, BStBl. II 2000, 129). Ob die Handelsbilanz trotz eines Verstoßes gegen die GoB unter Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs handelsrechtlich als richtig anzusehen ist oder nicht, ist unerheblich. Maßgebend sind vielmehr die für den Bilanzstichtag geltenden Vorschriften in objektiv zutreffender Auslegung.

76        Die Verpflichtung des Finanzamts, die Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen ausschließlich auf der Grundlage des für den Bilanzstichtag objektiv geltenden Rechts ohne Rücksicht auf Rechtsansichten des Steuerpflichtigen zu prüfen und ggf. zu korrigieren, besteht unabhängig davon, ob sich die unzutreffende Rechtsansicht des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten oder zu seinen Lasten ausgewirkt hat.

77        2. Das Finanzamt hat einen Bilanzierungsfehler des Steuerpflichtigen grundsätzlich bei der Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung für den Veranlagungszeitraum zu berichtigen, in dem der Fehler erstmals aufgetreten ist und steuerliche Auswirkungen hat. Das gilt auch dann, wenn die Bilanzierung auf einer später geänderten Rechtsprechung beruht. Liegt die fehlerhafte Bilanz einem Steuer- oder Feststellungsbescheid zugrunde, der aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht mehr geändert werden kann, so ist nach dem Grundsatz des formellen Bilanzzusammenhangs der unrichtige Bilanzansatz grundsätzlich bei der ersten Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung richtigzustellen, in der dies unter Beachtung der für den Eintritt der Bestandskraft und der Verjährung maßgeblichen Vorschriften möglich ist (vgl. BFH-Urteile vom 8.12.1988 - IV R 33/87, BFHE 155, 532, BStBl. II 1989, 407, BB 1989, 809; vom 11.2.1998 - I R 150/94, BFHE 185, 565, BStBl. II 1998, 503, BB 1998, 1684; vom 19.7.2011 - IV R 53/09, BFHE 234, 221, BStBl. II 2011, 1017, BB-Entscheidungsreport Hilgert, BB 2011, 2930).

78        3. Über die Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs auf Fälle, in denen der Steuerpflichtige bei der Bilanzierung von unzutreffenden Tatsachen (Prognosen oder Schätzungen) ausgegangen ist, ohne dabei gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen zu haben, ist aufgrund der vom I. Senat vorgelegten Rechtsfrage im vorliegenden Verfahren nicht zu befinden.

79        4. Eine Übergangsregelung ist nicht zu treffen. Da sowohl die Finanzverwaltung als auch die Rechtsprechung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an die Gesetze gebunden sind, kann der Große Senat nur ausnahmsweise eine Übergangsregelung zugunsten der Steuerpflichtigen treffen (vgl. BFH-Beschluss vom 17.12.2007 - GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608, BB 2008, 1038 m. BB-Komm. Schulte/Knief, unter D.IV.2.b).

80        Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Zu der vom Großen Senat entschiedenen Frage gibt es keine langjährige gefestigte Rechtsprechung des BFH zugunsten der Steuerpflichtigen. Es kann nur Vertrauensschutz gemäß § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO zu gewähren sein (§§ 163, 227 AO i. V. m. Art. 108 Abs. 7 GG; vgl. BFH-Beschlüsse vom 4.7.1990 - GrS 2-3/88, BFHE 161, 290, BStBl. II 1990, 817, BB 1990, 2080, unter C.II.8.; vom 26.9.2007 - V B 8/06, BFHE 219, 245, BStBl. II 2008, 405, BB 2008, 1434 m. BB-Komm. Balmes; BFH-Urteile vom 12.1.1989 - IV R 87/87, BFHE 155, 487, BStBl. II 1990, 261, BB 1989, 1609; vom 7.11.1996 - IV R 69/95, BFHE 182, 56, BStBl. II 1997, 245, BB 1997, 1619).

81        Eine Übergangsregelung zugunsten der Finanzverwaltung scheidet wegen deren Bindung an die Gesetze von vornherein aus (vgl. BFH-Urteile vom 17.7.2008 - I R 77/06, BFHE 222, 402, BStBl. II 2009, 464, BB 2008, 2452, unter B.III.3.b ee; vom 11.3.2009 - XI R 71/07, BFHE 227, 200, BStBl. II 2010, 209, Rz 23).

82        III. Entscheidung der Vorlagefrage

83        Der Große Senat des BFH beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage danach wie folgt:

84        Das Finanzamt ist im Rahmen der ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz (und deren einzelnen Ansätzen) zugrunde liegt, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war.

BB-Kommentar

„Keine Änderungsbeschränkungen des Finanzamts aufgrund der Rechtsprechung zum "subjektiven" Fehlerbegriff" in der Steuerbilanz"

Problem

Steuerfestsetzungen können vom FA nach allgemeinen abgabenrechtlichen Vorschriften geändert werden. Dies betrifft insbes. Festsetzungen, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 AO stehen. Ob diese Änderungsbefugnis auch bei bilanzierenden Steuerpflichtigen (uneingeschränkt) gilt, war umstritten.

Der Steuerpflichtige darf gem. § 4 Abs. 2 S. 1 EStG seine Bilanz auch nach Einreichung beim FA ändern, soweit sie nicht den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) bzw. den einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlungsvorschriften entspricht (objektiver Fehler). Eine solche Bilanzberichtigung ist nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. z. B. BFH, 5.4.2006 - I R 46/04, BB 2006, 1626; 5.6.2007 - I R 47/06, BB 2007, 2337) jedoch ausgeschlossen, wenn die Bilanz zwar objektiv falsch, aus Sicht des Steuerpflichtigen jedoch richtig ist, weil sie die im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung objektiv bestehenden Erkenntnismöglichkeiten zutreffend widerspiegelt (subjektiver Fehlerbegriff). Dies schränkt die Möglichkeit des Steuerpflichtigen ein, nachträglich von einer für ihn positiven Rechtsentwicklung, z. B. aufgrund einer begünstigend wirkenden Änderung der Rechtsprechung, zu profitieren (vgl. auch BFH, 12.11.1992 - IV R 59/91, BStBl. II 1993, 392, BB 1993, 830).

Der GrS hatte zu entscheiden, ob die vorstehenden Änderungsbeschränkungen auch für das FA gelten (vgl. BFH-Vorlagebeschluss v. 7. 4. 2010 - I R 77/08, BB 2010, 1400). Dies würde bedeuten, dass bilanzielle Änderungen aufgrund von Feststellungen einer Betriebsprüfung nur dann vorgenommen werden könnten, wenn die zugrunde liegende Bilanz im Zeitpunkt ihrer Aufstellung oder Einreichung beim FA subjektiv (aus Sicht des Steuerpflichtigen) fehlerhaft war.

Zusammenfassung

Nach Auffassung des GrS des BFH unterliegt das FA bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nicht den Beschränkungen des § 4 Abs. 2 EStG. Eine Änderung der Steuerfestsetzung ist danach auch dann möglich, wenn die zugrunde liegende Gewinnermittlung "subjektiv" richtig war.

Zugrunde lag der Fall eines Mobilfunkunternehmens. Der Aufwand aus einer vergünstigten Abgabe von Mobiltelefonen bei gleichzeitigem Abschluss eines Mobilfunkvertrags wurde in voller Höhe im Jahr der Abgabe der Telefone erfasst. Dies sei nach Auffassung des Unternehmens zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung eine vertretbare Bilanzierung gewesen. Demgegenüber ist der Aufwand nach übereinstimmender Ansicht von FA, FG und dem vorlegenden Senat als aktiver Rechnungsabgrenzungsposten (RAP) über die Laufzeit des Mobilfunkvertrags zu verteilen. Die Einschränkungen des § 4 Abs. 2 EStG stünden einer Änderung der Steuerfestsetzung nicht entgegen.

Der GrS hat seine Entscheidung vor allem aus den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung heraus abgeleitet. Danach sei es erforderlich, die Steuerfestsetzung zu ändern, wenn die zugrunde liegende Gewinnermittlung nach objektiver Rechtslage fehlerhaft ist, obwohl sie nach Ansicht des Steuerpflichtigen ("subjektiv") richtig oder zulässig gewesen sein mag. Auch führe das FA bei einer Abweichung von der Gewinnermittlung keine Bilanzberichtigung i. S. d. § 4 Abs. 2 EStG durch; eine solche könne nur von dem Steuerpflichtigen selbst vorgenommen werden. Somit entfalten die regelungsimmanenten Änderungsbeschränkungen für das FA auch keine Wirkung.

Praxisfolgen

Die vorliegende Entscheidung durfte vom Ergebnis her so erwartet werden. Jede andere Entscheidung hätte vermutlich eine unmittelbare Reaktion des Gesetzgebers nach sich gezogen, da andernfalls die Möglichkeiten einer Überprüfung und Änderung der Steuerfestsetzung durch das zuständige FA substanziell eingeschränkt worden wären.

An dem bisherigen Status quo der Abwicklung von Betriebsprüfungen dürfte sich auf Grundlage der vorliegenden Entscheidung somit wenig ändern. Das FA kann danach eine Gewinnermittlung, die auf einer objektiv fehlerhaften Bilanz beruht, im Rahmen der allg. verfahrensrechtlichen Grenzen ändern und die entsprechenden Steuerfolgen aus diesen Änderungen ziehen. Dies gilt grds. selbst dann, wenn diese Änderungen auf einer erstmaligen oder geänderten Rechtsprechung beruhen, ohne dass der Steuerpflichtige einwenden könnte, die entsprechende Bilanz sei im Zeitpunkt ihrer Aufstellung subjektiv richtig gewesen.

Die vorstehend skizzierte Korrekturbefugnis des FA gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Insbesondere bei einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) sowie bei einer Bilanzierung in Übereinstimmung mit geltenden Verwaltungsanweisungen, die sich im Nachhinein als rechtwidrig erweisen (§ 176 Abs. 2 AO), bestehen allgemeine Änderungsverbote zuungunsten des Steuerpflichtigen. Diese Vertrauensschutzbestimmungen gelten jedoch ausdrücklich nicht bei möglichen Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen.

Darüber hinaus ist m. E. zu berücksichtigen, dass die vom GrS bestätigten weitreichenden Änderungsmöglichkeiten des FA nicht nur eindimensional zugunsten des FA anzuwenden sind. Denn nach allg. Grundsätzen muss das FA besteuerungsrelevante Sachverhalte auch zugunsten des Steuerpflichtigen ermitteln (§ 88 Abs. 2 AO). Für die Ermittlung des Gewinns eines bilanzierenden Steuerpflichtigen gilt nichts Gegenteiliges. Kann somit der Steuerpflichtige eine Bilanzänderung i. S. des § 4 Abs. 2 EStG nicht erreichen, da die betreffende Bilanz subjektiv richtig war, muss das FA dennoch objektive Fehler im Rahmen seiner Überprüfung zugunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigen (vgl. i. d. S. auch Tz. 76 des Beschlusses). Auf dieser Grundlage entfalten die Beschränkungen des § 4 Abs. 2 EStG nur eine eingeschränkte Wirkung.

Die vorliegende Entscheidung betrifft ausdrücklich nur objektive Fehler aufgrund ungeklärter bilanzrechtlicher Rechtsfragen (z. B. wie die streitgegenständliche Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines RAP erfüllt sind); vgl. bereits den BFH-Vorlagebeschluss v. 7.4.2010 - I R 77/08 (BB 2010, 1400, Tz. 46). Offen gelassen sind dagegen mögliche Fehler bei Prognosen und Schätzungen über unsichere - zukünftige - Vorgänge (z. B. die Höhe einer anzusetzenden Rückstellung oder einer Teilwertabschreibung). Hier gilt weiterhin, dass Abweichungen von der eingereichten Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen nur dann zulässig sind, wenn der Bilanzansatz außerhalb des sachlich gerechtfertigten Beurteilungsspielraums des Steuerpflichtigen liegt.

Dipl.-Volksw. Klaus D. Hahne, StB, ist Counsel bei Allen & Overy LLP., Frankfurt a. M. Er berät Unternehmen, Banken und Finanzdienstleister zu allen Fragen des nationalen und internationalen Steuerrechts, der Ausgestaltung von Finanzprodukten und zur Umsatzsteuer.

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