LAG Berlin-Brandenburg: außerordentliche betriebsbedingte Kündigung als soziale Abwägung
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.8.2015 – 15 Sa 587/15
Volltext: BB-ONLINE BBL2015-3059-4
unter www.betriebs-berater.de
Amtliche Leitsätze
Werden im Sekretariatsbereich mehrere Personen eingesetzt, dann ist eine außerordentliche Kündigung unwirksam, wenn Personen weiterbeschäftigt werden, die ordentlich kündbar sind
Sachverhalt
Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit Auslauffrist, hilfsweise aufgrund einer ordentlichen Kündigung zum 30.06.2015 beendet worden ist.
Die am …..1957 geborene Klägerin ist seit dem 15.01.1992 bei der Beklagten ursprünglich als Sekretärin und seit 1999 als Chefsekretärin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten in der Wohnungswirtschaft Anwendung. Das Bruttomonatsentgelt der Klägerin betrug zuletzt 3.540,00 EUR.
Die Beklagte, eine kommunale Wohnungsgesellschaft, beschäftigt insgesamt 32 Arbeitnehmer (davon 13 Hauswarte). Seit Februar 2014 ist eine neue Geschäftsführerin tätig. Unter dem 28.05.2014 erhielt die Klägerin eine Abmahnung (Kopie Bl. 44 ff d. A.). Am selben Tag unterzeichneten die Parteien einen Änderungsvertrag (Kopie Bl. 47 d. A.), wonach die Klägerin nicht mehr als Chefsekretärin beschäftigt wird, sondern im Bereich Schreib-, Telefon- und Empfangsdienst tätig ist. Vom 29.05.2014 bis 11.11.2014 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Ab dem 12.11.2014 erhielt sie ihren Jahresurlaub. Mit Schreiben vom 28.11.2014 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist zum 30.06.2015, hilfsweise ordentlich zum selben Datum. Gleichzeitig wurde die Klägerin von der Arbeit freigestellt. Ihr wurde eine Abfindung in Höhe von 47.790,00 EUR angeboten.
Die Beklagte beschäftigt im Bereich Sekretariat die folgenden weiteren Arbeitnehmerinnen: Frau W., geb. 23.07.1954 und seit 1993 beschäftigt; Frau L., geb. am 07.12.1951 und seit dem 01.09.2001 bei der Beklagten als Teilzeitkraft (25 Stunden) ursprünglich ausschließlich im Bereich Finanzbuchhaltung, Betriebskostenabrechnung tätig; Frau Z., geb. am 15.07.1966 und seit 1993 bei der Beklagten angestellt.
Hinsichtlich des Vorbringens der Parteien in der ersten Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.
Die Klägerin hat beantragt, festzustellen,
dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28.11.2014 nicht aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 19.03.2015 hat das Arbeitsgericht Frankfurt (Oder) der Klage stattgegeben. Es liege kein wichtiger Grund im Sinne § 626 Abs. 1 BGB vor. Hierbei werde zu Gunsten der Beklagten unterstellt, dass Arbeitsaufgaben im Bereich Sekretariat entfallen sind. Die Beklagte hätte aber in gesteigerten Maß überprüfen müssen, ob Beschäftigungsmöglichkeiten für die Klägerin vorhanden sind. Sie habe nicht erläutert, aufgrund welcher konkreten Umstände Frau L. ihren Arbeitsbereich Finanzbuchhaltung aufgeben und in den Schreib-, und Telefondienst geholt werden konnte. Zum andern sei zumindest bei Frau W. (63 Jahre) das Rentenalter absehbar, sodass die Beklagte lediglich ein Zeitraum von 2 Jahren überbrücken müsse. Auch sehe die Kammer ein mögliches Betätigungsfeld in der Bearbeitung der Urlaubsanträge und Krankmeldungen. Weiterhin könne die Klägerin mit der Verwaltung der Ferienwohnung und anderen Tätigkeiten aus der Stellenbeschreibung betraut werden. Die ordentliche Kündigung sei unwirksam, da sie gegen § 15 Ziffer 4 des Manteltarifvertrages verstoße.
Hiergegen wendet sich die Berufung der Beklagten. Nachdem die Beklagte erstinstanzlich vorgetragen hatte, die Position der Klägerin solle nach deren Versetzung nicht mehr neu besetzt werden, behauptet sie nunmehr, Frau Z. sei direkt der Geschäftsführung unterstellt. Die Beklagte wiederholt ihren erstinstanzlichen Vortrag, wonach Frau Z. bei vertraulichen Angelegenheiten das volle Vertrauen der Geschäftsführung genieße. Sie sei unabkömmlich, da sie seit 15 Jahren die Gestaltung und Reinschrift der gesamten Jahres- und langfristigen Pläne übernehme. Das mangelnde Vertrauen in die Loyalität der Klägerin ergebe sich aus der Abmahnung vom 28.05.2014 und ihrer grundlosen Beschwerde beim Bürgermeister. Eine Weiterbeschäftigung der Klägerin sei ihr nicht zuzumuten, da dadurch die Rationalisierungsmaßnahmen zunichte gemacht würden. Die ordentliche Kündigung sei ebenfalls wirksam, da wesentliche Unternehmensaufgaben weggefallen seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichtes aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass Grundlage für die Kündigung im Grunde eine Störung des Vertrauensverhältnisses zur neuen Geschäftsführerin sei. Die Beklagte habe nicht dargelegt, dass eine andere Beschäftigungsmöglichkeit nicht mehr bestehe. Es sei davon auszugehen, dass Frau W. mit 63 Jahren ausscheide, sodass nur noch 2 Jahre zu überbrücken seien. Frau L. könne schon 2017 (ebenfalls mit 63 Jahren) das Arbeitsverhältnis beenden. Sie selbst habe vor Frau Z. die Jahres- und langfristigen Pläne in Reinschrift gebracht.
Aus den Gründen
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Arbeitsgericht entschieden, dass die Kündigung vom 28.11.2014 unwirksam ist. Daher war die Berufung zurückzuweisen.
1. Die Kündigung vom 28.11.2014 ist als außerordentliche Kündigung unwirksam.
1.1 § 5 des anzuwendenden Manteltarifvertrages der Wohnungswirtschaft lautet:
„4.
Beschäftigte, die mindestens 10 Jahre dem Betrieb angehören und 55 Jahre alt sind oder die 15 Jahre dem Betrieb angehören und 50 Jahre alt sind, sind nur aus wichtigem Grund kündbar. Ausgenommen sind zumutbare Änderungskündigungen und Kündigungen als Folge erheblicher Einschränkung durch Fortfall wesentlicher Unternehmensaufgaben.“
Zum Kündigungszeitpunkt war die Klägerin 57 Jahre alt und gehörte seit 22 Jahren dem Unternehmen an. Daher war Sie nur noch aus wichtigem Grund kündbar.
Das Bundesarbeitsgericht (26.03.2015 – 2 AZR 783/13 – NZA 2015, 866 Rn 39) hat hierzu ausgeführt:
„Eine auf betriebliche Gründe gestützte außerordentliche Kündigung kommt – unter Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist – dann in Betracht, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung nicht besteht und dies dazu führt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer anderenfalls trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit noch für Jahre vergüten müsste, ohne das dem eine entsprechende Arbeitsleistung gegenüber stünde (…). Der Arbeitgeber ist in diesem Fall allerdings wegen des Ausschlusses der ordentlichen Kündigungen in einem besonderen Maß verpflichtet zu versuchen, die Kündigung durch geeignete andere Maßnahmen zu vermeiden. Besteht irgendeine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis sinnvoll fortzusetzen, wird er den Arbeitnehmer in der Regel entsprechend einzusetzen haben. Erst wenn alle denkbaren Alternativen ausscheiden, kann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vorliegen.“
Die entsprechende Darlegungslast liegt beim Arbeitgeber (aaO Rn 40). Die Überbrückung eines Zeitraums von einem Jahr ist einem Arbeitgeber grundsätzlich nicht unzumutbar. Die Grenze zum wichtigen Grund sei allenfalls dann überschritten, wenn ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis über deutlich längere Zeiträume fortgeführt werden müsste. (BAG 23.01.2014 – 2 AZR 372/13 – NZA 2014, 895 Rn 20). Das Fehlen jeglicher Beschäftigungsmöglichkeit zähle bei der außerordentlichen Kündigung zum „wichtigem Grund“. Das Vorbringen des Arbeitgebers müsse deutlich machen, dass er alles zumutbare unternommen habe, um die durch sein (neues) unternehmerisches Konzept notwendig werdenden Anpassungen der Vertragsbedingungen auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken (aaO Rn 22).
Soweit in der Literatur kritisiert wird, dass bezogen auf die „unternehmerische Entscheidung“ das Bundesarbeitsgericht nicht genügender Weise eine Interessenabwägung vornehme (Stein AuR 2013, 343ff) kann im hiesigen Fall offen bleiben, ob dies zutrifft.
1.2 Bei Anwendung dieser Kriterien kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte sich zur Begründung der von ihr vorgenommenen Kündigung auf einen „wichtigen Grund“ berufen kann. Es besteht vielmehr eine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin sinnvoll fortzusetzen. Werden –wie hier– im Sekretariatsbereich mehrere Personen eingesetzt, dann ist eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung unwirksam, wenn Personen weiterbeschäftigt werden, die ordentlich kündbar sind. Dies ist hier mit Frau Z. der Fall, da diese zum Kündigungszeitpunkt erst 48 Jahre alt war und sich somit nicht auf den erhöhten Kündigungsschutz nach dem Manteltarifvertrag berufen kann.
Die Beklagte hat insofern vorgetragen, dass der Klägerin –im Gegensatz zu Frau Z.– nicht Aufgaben übertragen werden könnten, bei denen es um vertrauliche Daten gehe. Es kann offen bleiben, ob eine solche Annahme der Beklagten schon auf Basis der erteilten Abmahnung und der Beschwerde der Klägerin gegenüber dem Bürgermeister gerechtfertigt ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte die weiterbeschäftigte Frau W. die nunmehrigen Aufgaben von Frau Z. übernehmen, sodass die Klägerin anstelle von Frau W. treten könnte.
Die Beklagte hat ferner vorgetragen, Frau Z. sei unabkömmlich, da sie seit 15 Jahren für die Reinschriften der gesamten Jahres- und langfristigen Plänen zuständig sei. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass innerhalb der sozialen Auflauffrist gegenüber der Klägerin (7 Monate) nicht eine andere Person diese Fertigkeit hätte erlernen können, zumal die Klägerin in dieser Zeit nicht hätte freigestellt werden müssen. Im Berufungstermin war zwischen den Parteien auch unstreitig, dass diese Pläne auf Basis von im Computer hinterlegten Vorlagen erstellt werden.
Da die Klägerin, Frau W., und Frau L. nach den tarifvertraglichen Reglungen alle nur noch außerordentlich kündbar waren, hätte – bei unterstelltem Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses für eine Arbeitskraft – allenfalls Frau Z. vorrangig gekündigt werden können. Schon aus diesem Grunde ist die hiesige außerordentliche Kündigung unwirksam.
2. Die von der Beklagten hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 28.11.2014 ist ebenfalls unwirksam. Nach § 15 Ziffer 4 Satz 2 MTV sind ordentliche Kündigungen unter den dort genannten Voraussetzungen zulässig (BAG 05.02.1998 – 2 AZR 227/97 – Rn 18).
Die Beklagte ist der Ansicht, dass durch ihre Rationalisierungsmaßnahmen wesentliche Unternehmensaufgaben fortgefallen seien. Zu ihren Gunsten mag dieses unterstellt werden. Dies reicht jedoch nach den tariflichen Reglungen nicht aus. Es muss vielmehr zusätzlich zu einer erheblichen Einschränkung kommen. Bei der Kündigung von einer Person von insgesamt 32 Arbeitnehmern kann dies jedoch nicht angenommen werden.
3. Es kann offenbleiben, ob die beiden Kündigungen rechtsmissbräuchlich (§ 242 BGB) sind.
Von Arbeitgeberseite wird geraten, statt einer verhaltensbedingten Kündigung eine deutlich erfolgversprechendere Gestaltungsmöglichkeit zu wählen, nämlich die betriebsbedingte Kündigung. Bei ihr sei generell die unternehmerische Entscheidung zu respektieren. Der Abbau eines Arbeitsplatzes, zum Beispiel im Fall eines betrügerischen Arbeitnehmers, könne so zur Trennung führen, gegebenenfalls unter Zahlung einer moderaten Abfindung (Lipinski, NZA 2015, Heft 6 Editorial). Hierin wird ein Aufruf zum Rechtsmissbrauch gesehen (Voigt, AuA 2015, 192).
Auch die Klägerin vermutet, dass es der Beklagten eigentlich um die Störung des Vertrauensverhältnisses gegangen sei.
4. Die Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 ZPO).
Die Voraussetzung für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs. 2 ArbGG) liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung, wobei von den Grundsätzen der Rechtsprechung des BAG nicht abgewichen wird. Insofern ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.