LAG Nürnberg: Wahlvorstand – Prüfung einer Vorschlagsliste – Anfechtbarkeit einer Betriebsratswahl
LAG Nürnberg, Beschluss vom 7.3.2022 – 1 TaBV 23/21
Volltext: BB-Online BBL2022-1140-2
Leitsätze
1. Prüft der Wahlvorstand eine eingegangene Vorschlagsliste nicht unverzüglich, sondern stellt er erst nach Ablauf der Einreichungsfrist fest, dass sie einen nicht wählbaren Kandidaten enthält, macht allein dies die Wahl anfechtbar. Erst recht gilt dies, wenn der Wahlvorstand in Absprache mit dem Listenvertreter den nicht wählbaren Kandidaten nachträglich streicht und die Liste zulässt.
2. Die Nichteinhaltung der Mindestfrist von sechs Wochen zwischen Aushang des Wahlausschreibens und Wahltag nach § 3 Abs. 1 WO macht die Wahl anfechtbar. Bei ausschließlicher Briefwahl müssen mindestens sechs Wochen zwischen Aushang des Wahlausschreibens und Abgabefrist für die Briefwahlunterlagen liegen.
3. Wahlniederschrift nach § 16 WO und Bekanntgabe der Gewählten nach § 18 WO sind unterschiedliche Dokumente. Wird allein die Wahlniederschrift durch Aushang bekannt gemacht, ist dies aber ausreichend, wenn in diesem Aushang die Namen der Gewählten nach deren Entscheidung über die Annahme oder Nichtannahme der Wahl deutlich erkennbar sind.
4. In Einzelfällen erscheint es als zulässig, wenn der Wahlvorstand auf die Aufstellung einer Urne verzichtet und für alle Beschäftigten Briefwahl anordnet. Es spricht viel dafür, dass im Hinblick auf die Pandemie im Sommer 2020 nicht davon ausgegangen werden konnte, dass einer Urnenwahl Hindernisse entgegenständen.
5. Der Wahlvorstand ist nicht verpflichtet, für eingehende Briefwahlstimmen einen Briefkasten oder eine Urne bereitzustellen. Werden die Briefwahlstimmen in der Poststelle in einer offenen Box aufbewahrt, die täglich von einem Mitglied des Wahlvorstands geleert wird, ist dies unschädlich, wenn die Poststelle durchgehend mit hierfür vorgesehenen Mitarbeitern besetzt ist. Erst anschließend sind die Briefwahlstimmen an einem sicheren Ort verschlossen aufzubewahren.
6. Macht eine Vorschlagsliste, in der Wahlvorstandsmitglieder auch kandidieren, Werbung für diese Liste unter der Verwendung der Bezeichnung „Euer Wahlvorstand“, kann dies die Arbeitnehmer beeinflussen; der Wahlvorstand ist gehalten, unverzüglich alles zu tun, um die Weiterverwendung der Werbung zu stoppen. Unternimmt er nichts, macht dies die Wahl anfechtbar.
7. Wendet sich der Wahlvorstand als solcher in einer Mail an die Arbeitnehmer, darf diese Mail keine Tendenz enthalten, die als Ablehnung einer Liste verstanden werden kann. Daher sind Erläuterungen, nur wegen der Liste XY sei „der Normalfall“ der Personenwahl nicht möglich, und, man solle bedenken, dass der Betriebsrat nicht nur für einzelne da sei – weil die Bewerber der zweiten Liste vorrangig aus einem bestimmten Kreis von Beschäftigten stammen –, geeignet, die Wähler zu beeinflussen. Auch dieser Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Wahlvorstands begründet für sich die Anfechtung der Wahl
Sachverhalt
I.
Die Beteiligten streiten über die Anfechtung einer Betriebsratswahl.
Die Beteiligte zu 1.) führt einen Betrieb in B. In diesem Betrieb wurde im August 2020 erstmalig ein Betriebsrat gewählt, der Beteiligte zu 6.). Die Beteiligten zu 2.) bis 5.) sind bzw. waren im Betrieb beschäftigte wahlberechtigte Arbeitnehmer.
Der zur Betriebsratswahl gebildete Wahlvorstand erließ am 09.07.2020 ein am 10.07.2020 ausgehängtes Wahlausschreiben, dessen genauen Wortlauts wegen auf die mit der Antragsschrift vorgelegte Ablichtung Bezug genommen wird (Bl. 15 f. d.A.). Danach sollte die Wahl „aufgrund der unabwägbaren Corona-Situation“ ausschließlich im Wege der Briefwahl erfolgen, Briefwahlunterlagen konnten bis 21.08., 11.00 Uhr, an der Poststelle abgegeben werden. Die Frist zur Einreichung von Vorschlagslisten war auf 24.07.2020 festgelegt. Der Betriebsrat sollte aus neun Mitgliedern bestehen, auf das in der Minderheit befindliche Geschlecht der Männer sollten zwei Mindestsitze entfallen.
Die Initiatoren der Betriebsratswahl, die auch im Wahlvorstand vertreten sind, kandidierten auf der Liste „Ver.di und Kollegen“, die nach einem entsprechenden Losentscheid als Liste 2 geführt wurde. Außer dieser Liste ging noch eine zweite Liste mit dem Kennwort „Für die Praxen“ beim Wahlvorstand ein, nach dem durchgeführten Losentscheid Liste 1.
Die Liste 2 machte unter anderem folgende Werbung (Anlage zur Antragsschrift, Bl. 28 d.A.): „Liste 2. VER.DI UND KOLLEGEN. Wir sind u.a. die Initiatoren der Betriebsratswahl - Euer Wahlvorstand. Wir stehen für eine gewerkschaftliche Stärke im Betriebsrat - z.B. für tarifliche Lösungen. Wir sind das Sprachrohr der KOLLEGEN und nicht der Profitcenter Praxen!“
Mit Mail vom 03.08.2020 (ebenda, Bl. 29 d.A.) wandte sich der Wahlvorstand an die Mitarbeiter mit folgendem Wortlaut:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, krankheitsbedingt hat das Versenden der Wahlunterlagen an Sie noch nicht begonnen. Das wird ab Montag, 03.08.2020 der Fall sein.
Noch einige Informationen zur Wahl! Normalerweise tragen sich alle Interessenten*innen in einer Vorschlagsliste ein, aus der Sie dann mit 9 Stimmen sich Ihre Favoriten auswählen hätten können.
Das ist jetzt durch die Liste von Frau Z… in eine Listenwahl geändert worden.
Sie haben nur Eine Stimme.
Sie müssen sich nun für eine Liste entscheiden. Die Reihenfolge der Listen wurde durch Losentscheid festgelegt.
Bedenken Sie bitte:
Der Betriebsrat ist das Sprachrohr der Angestellten.
Er stellt den Vermittler für die Anliegen und Wünsche der Mitarbeiter gegenüber der Geschäftsführung dar, erst an zweiter Stelle ist er für eine konstruktive Zusammenarbeit der Ä… mit der Geschäftsführung zuständig.
In der Anlage erhalten Sie den Entwurf des Stimmzettels.
Am 07.08.2020 wurde die Liste 1 mit dem Kennwort „Für die Praxen“ vom Wahlvorstand mit dem Einverständnis der Listenvertreterin abgeändert, weil die Bewerberin Ba… noch keine sechs Monate im Betrieb gewesen sei. Der Wahlvorstand machte die Streichung dieser Bewerberin kenntlich.
Spätestens am 04.09.2020 brachte der Wahlvorstand die fünfseitige Wahlniederschrift vom 31.08.2020 zum Aushang (ebenda, Bl. 18 f. d.A.). Darin sind die Zahl der abgegebenen und gültigen Stimmen aufgeführt, eine auf einzelne Bewerber bezogene Höchstzahlenberechnung bis zum letzten - jeweils 16. - Bewerber auf den jeweiligen Listen sowie der Vermerk, dass eine Bewerberin „durch Rücktritt“ nicht berücksichtigt werde, und eine Aufstellung der Gewählten, wobei bei den Bewerbern der Liste 1 eine vierstellige Zahl vor der Art der Beschäftigung im Betrieb enthalten ist, die bei den gewählten Bewerbern der Liste 2 fehlt. In dieser Niederschrift wurden die Ordnungsnummern der Listen vertauscht, so dass die Liste 1 durchgängig als Liste 2 und die Liste 2 durchgängig als Liste 1 bezeichnet wurde.
Mit am 11.09.2020 beim Arbeitsgericht Bamberg eingegangenem Schriftsatz hat die Beteiligte zu 1.) die Wahl angefochten. Sie hat die Auffassung vertreten, es sei noch keine ordnungsgemäße Bekanntmachung des Wahlergebnisses erfolgt. Der Aushang der Wahlniederschrift genüge hierfür nicht. Daher sei die Anfechtungsfrist noch nicht angelaufen. Der Wahlvorstand habe gesetzwidrig für alle Mitarbeiter Briefwahl angeordnet. Nach BetrVG und Wahlordnung sei dies aber nur für Betriebsteile möglich, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt lägen. Dabei sei der Betrieb durchgehend geöffnet gewesen, ein geeigneter Raum zur Aufstellung der Urne hätte zur Verfügung gestanden. Die Anordnung allgemeiner Briefwahlen sei unter diesen Umständen unzulässig. Sie sei auch nicht durch die pandemische Lage gerechtfertigt. Der Gesetzgeber habe diese Möglichkeit nur für die Personalratswahlen geschaffen, trotz einiger durch die Pandemie veranlasste Gesetzesänderungen aber gerade nicht auch für die Betriebsratswahlen. Weiterer Anfechtungsgrund sei, dass in der Vorschlagsliste „Für die Praxen“ die nicht wählbare Kandidatin Ba… aufgeführt gewesen sei. Der Wahlvorstand habe den Listenvertreter daraufhin aufgefordert, den Namen der Kandidatin zu streichen. Die Liste sei allerdings erst am 05.08. abgeändert worden; dies sei erst zwei Tage vor der Versendung der Briefwahlunterlagen am 07.08.2020 erfolgt. Zwischen dieser Änderung und dem Beginn der Stimmabgabe hätten demzufolge nur zwei Tage gelegen. Damit sei die Wochenfrist zur Bekanntgabe gültiger Vorschlagslisten nicht eingehalten. Schließlich habe der Wahlvorstand seine Pflicht zur sorgfältigen und sicheren Aufbewahrung eingegangener Briefwahlumschläge verletzt. Eingegangene Freiumschläge seien bis zum Abschluss der Stimmabgabe unverschlossen in einer grauen Box in der Poststelle gelagert worden. Dieser Bereich könne von etwa einhundert Berechtigten betreten werden, darunter auch von betriebsfremden Personen. Manipulationen seien nicht auszuschließen. Schließlich habe der Wahlvorstand durch die Werbung für die Liste Ver.di und die Mail vom 03.08.2020 Stimmung gegen die Liste „Für die Praxen“ gemacht und damit seine Neutralitätspflichten verletzt. Jeder dieser Sachverhalte mache die Wahl ungültig.
Die Beteiligten zu 2.) bis 4.) haben sich dem Antrag durch Beitrittserklärungen vom 14.09.2020, beim Arbeitsgericht eingegangen am selben Tag, angeschlossen. Die Beteiligte zu 5.) hat sich dem Verfahren mit am 10.02.2021 beim Arbeitsgericht Bamberg eingegangenem Schreiben vom 04.02.2021 angeschlossen. Der Beteiligte zu 2.) ist im Laufe des Verfahrens aus dem Betrieb ausgeschieden.
Die Antragstellerin und Beteiligte zu 1.) hat erstinstanzlich beantragt,
Die Betriebsratswahl am/bis einschließlich Freitag, 21.08.2020 wird für unwirksam erklärt.
Die Antragsteller und Beteiligten zu 2.) bis 5.) haben sich diesem Antrag angeschlossen.
Der Beteiligte zu 6.) hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Der Beteiligte zu 6.) hat die Auffassung vertreten, Fehler, die die Anfechtung der Wahl rechtfertigten, lägen nicht vor. Der Aushang der Wahlniederschrift enthalte im Punkt 6 auch die Namen der Gewählten. Der Wahlvorstand habe im Hinblick auf die unsichere Lage während der Pandemie und das Risiko für die Gesundheit das Recht gehabt, die Wahl vollständig als Briefwahl durchzuführen. Weder Kurzarbeit noch ein Lockdown hätten ausgeschlossen werden können. Im vorhandenen großen Raum wäre die Sicherstellung der Einhaltung von Abständen und von Desinfektionsmitteln schwierig gewesen. Dies habe umso mehr gegolten, als damals im gesamten Betrieb ein Abstandsgebot gegolten habe. Die für das Bundespersonalvertretungsrecht geschaffene Ausnahmemöglichkeit besage nichts über die Berechtigung zur allgemeinen Briefwahl für die Betriebsratswahlen. Ausweislich der Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber die damals anstehenden Wahlen zu Personalräten im Auge gehabt; auch der Gesetzgeber sei damals aber davon ausgegangen, dass sich die pandemische Lage bis zu den regelmäßigen Betriebsratswahlen beruhigt haben würde. Es sei zwar zutreffend, dass der Wahlvorstand den unheilbaren Mangel einer nicht wählbaren Bewerberin auf der Vorschlagsliste 1 erst am 05.08.2020 dem Listenvertreter mitgeteilt habe; dies sei dem Umstand geschuldet gewesen, dass zwei der drei Wahlvorstandsmitglieder im Urlaub gewesen seien. Die Streichung dieser Bewerberin führe aber nicht dazu, dass die Stimmabgabe beeinflusst worden sei, weil der Wahlvorstand zusammen mit den Briefwahlunterlagen ein Schreiben versandt habe, in dem die Wähler auf diese Streichung hingewiesen worden seien. Hinsichtlich der eingegangenen Briefwahlumschläge habe der Wahlvorstand zwei Urnen verwendet. Soweit Briefwahlstimmen in der Poststelle eingegangen seien, seien diese in einer offenen Box aufbewahrt worden; diese Box sei jedoch von einem Wahlvorstandsmitglied mindestens täglich, zum Teil mehrmals täglich, geleert worden. Anschließend seien die Umschläge in die hierfür vorgesehene Urne eingeworfen worden. Die Urne sei im Wahlvorstandsbüro verschlossen worden. Die Poststelle stehe ständig unter der Aufsicht der dort beschäftigten Mitarbeiter, so dass eine Manipulation ausgeschlossen sei. Grobe Verstöße gegen seine Neutralitätspflicht habe der Wahlvorstand nicht begangen. Die Mail vom 07.08.2020 mit dem darin enthaltenen Flyer habe der Beschäftigte H. in seiner Funktion als Wahlbewerber, nicht in derjenigen als Wahlvorstandsmitglied versandt. Der Flyer drücke lediglich aus, dass die Bewerber der bevorzugten Liste sowohl die Initiatoren der Betriebsratswahl gewesen seien und dass sie auch im Wahlvorstand aktiv seien. Diese Information habe nicht der Wahlvorstand versandt. Auch die Information des Wahlvorstands vom 03.08.2020 stelle keine Verletzung des Neutralitätsgebotes dar. Die Mail sei von juristischen Laien verfasst worden, für die es eine Selbstverständlichkeit gewesen sei, dass die Wahl in Form der Personenwahl stattfinden würde. Eine negative Beeinflussung sei hierin nicht zu sehen.
Die Beteiligte zu 1.) hat eingewandt, die Bekanntmachung setze die Veröffentlichung der Gewählten voraus und sei mit einer Wahlniederschrift nicht identisch. Die Anordnung der generellen Briefwahl sei nicht erforderlich gewesen, weil Kurzarbeit nicht zu erwarten gewesen sei, erst recht - immerhin handle es sich um ein medizinisches Versorgungszentrum - kein Lockdown. Im Sommer seien Treffen unter Einhaltung der Abstandsregeln wieder erlaubt gewesen. Für die Wahl hätte ein großer Raum zur Verfügung gestanden, Desinfektionsmittel und Plexiglasscheiben wären von ihr, der Beteiligten zu 1.), zur Verfügung gestellt worden. Ein Versammlungsverbot habe es im Betrieb nicht gegeben. Mit Nichtwissen werde bestritten, dass sich der Wahlvorstand über die Möglichkeit, eine Urne aufzustellen, Gedanken gemacht habe und dass ein Beschluss zur Abhaltung einer generellen Briefwahl gefasst worden sei. Der Wahlvorstand sei offenbar rechtsirrig von der Möglichkeit einer generellen Briefwahl ausgegangen. Hinsichtlich der Streichung der Bewerberin habe der mit den Wahlunterlagen versandte Hinweis auf diese Streichung nicht ausgereicht, zumal aufgrund dieser Streichung die nötige Wochenfrist für die Bekanntgabe der Vorschlagslisten nicht eingehalten worden sei. Der Wahlvorstand habe sich nicht darum gekümmert, einen eigenen Briefkasten zu beantragen. Dies habe zur Folge gehabt, dass eine Vielzahl abgegebener Briefwahlstimmen nicht bei der zentralen Poststelle eingegangen sei, sondern in Praxen der Sozialstiftung und des medizinischen Versorgungszentrums. Es sei mehr als fraglich, ob diese Stimmen tatsächlich noch den Weg zum Wahlvorstand gefunden hätten. Sie bestreite, dass die Verteilungsbox in der zentralen Poststelle täglich oder noch öfter geleert worden sei.
Das Arbeitsgericht Bamberg hat mit Beschluss vom 16.03.2021 wie folgt erkannt:
Die Betriebsratswahl am / bis einschließlich Freitag, 21.08.2020 wird für unwirksam erklärt.
Das Arbeitsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, zunächst liege keine wirksame Bekanntgabe des Wahlergebnisses vor. Die Gewählten seien an nachrangiger Stelle erst auf Seite 5 der Wahlniederschrift aufgeführt. Damit habe die zweiwöchige Frist für den Anfechtungsantrag nicht zu laufen begonnen. Der Anfechtungsantrag sei begründet. Die Anordnung genereller Briefwahl sei ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Die Mehrzahl der Mitarbeiter sei im Betrieb anwesend gewesen; ihre Anwesenheit sei zur Aufrechterhaltung des medizinischen Betriebs auch erforderlich gewesen. Dies habe auch dem Wahlvorstand klar sein müssen. Gerade weil es sich um medizinisches Personal handele, seien die Mitarbeiter mit Hygienemaßnahmen vertraut. Die Anfechtung sei unabhängig hiervon auch gerechtfertigt, weil nicht gesichert sei, dass tatsächlich alle Wahlberechtigten die Briefwahlunterlagen erhalten hätten. Die Beteiligte Z. habe in der Anhörung erklärt, es seien bei der Auszählung noch Wähler eingetragen worden, von denen Briefwahlunterlagen eingegangen seien, die aber nicht auf der Liste gestanden hätten. Die Betriebsratsvorsitzende habe demgegenüber erklärt, dies sei nur bei Mitarbeitern erfolgt, die keine Briefwahlunterlagen bekommen hätten. Diesen seien Wahlbriefe zugeleitet worden; sie seien handschriftlich noch auf die Liste gesetzt worden, allerdings nicht erst bei der Auszählung. All dies zeige Unklarheiten auf. Die Wahl sei auch anfechtbar, weil der Wahlvorstand nicht für einen Briefkasten gesorgt habe, in den die rücklaufenden Freiumschläge der Briefwähler hätten eingeworfen werden können. Damit sei ein vollständiger Rücklauf der Freiumschläge an den Wahlvorstand nicht gesichert gewesen. Schließlich ergebe sich die Anfechtbarkeit auch daraus, dass im Hinblick auf die Streichung einer Kandidatin auf einer Vorschlagsliste die Wochenfrist, in der die Wahlvorschläge bekannt gemacht sein müssten, nicht eingehalten worden sei. Dies sei jedenfalls bei denjenigen Briefwählern der Fall, die sofort nach Erhalt der Unterlagen gewählt hätten. Dazu komme, dass der Wahlvorstand mit der Mail vom 03.08.2020 gegen seine Neutralitätspflicht verstoßen habe. Schon der Hinweis, dass im Normalfall eine Personenwahl stattfinde, sei falsch. Die Angabe, dass die damit einhergehende „Verkürzung“ des Stimmrechts wegen der Einreichung der weiteren Liste erfolge, sei geeignet, Vorbehalte gegen diese Liste zu erwecken. Dazu komme die Erklärung, der Betriebsrat sei das Sprachrohr der Angestellten, er sei erst in zweiter Linie für die konstruktive Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung zuständig, die ebenfalls erkennbar gegen die weitere Liste gerichtet sei. Insgesamt könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Wahl anders ausgegangen wäre, wären diese Verstöße gegen das Wahlrecht nicht erfolgt.
Der arbeitsgerichtliche Beschluss ist dem Beteiligten zu 6.) ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses seiner Verfahrensbevollmächtigten am 22.10.2021 zugestellt worden. Diese haben namens und im Auftrag des Beteiligten zu 6.) mit Schriftsatz vom 15.09.2021, eingegangen beim Landesarbeitsgericht am selben Tag, Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt. Sie haben die Beschwerde - nach Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist aufgrund am 12.10.2021 eingegangenen Antrags bis 15.11.2021 - mit am 15.11.2021 eingegangenem Schriftsatz vom selben Tag begründet.
Zur Begründung seiner Beschwerde trägt der Beteiligte zu 6.) vor, die Anträge der Beteiligten zu 2.) bis 4.) seien unzulässig, weil der Beteiligte zu 2.) inzwischen aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sei. Der Antrag der Beteiligten zu 5.) sei verspätet. Die Bekanntgabe der Gewählten sei mit dem Aushang der Wahlniederschrift ordnungsgemäß erfolgt. Ein Verstoß gegen § 24 WO sei nicht gegeben. Im Zeitpunkt des Erlasses des Wahlausschreibens habe der Wahlvorstand durchaus davon ausgehen dürfen, dass im Hinblick auf die Pandemie im Sommer eine Urnenwahl in Präsenz nicht möglich sein würde. Gesellschaftspolitisch sei überall gewünscht worden, dass Kontakte so weit wie möglich beschränkt sein sollten, um die Gesundheit der Mitbürger - hier der Belegschaft - wo immer möglich zu schützen. Die Wahlvorstandsvorsitzende habe von Anfang an vorgetragen, dass während der Auszählung keine Ergänzungen in der Wählerliste mehr vorgenommen worden seien. Es sei falsch, dass nicht allen Wahlberechtigten auch die Briefwahlunterlagen übersandt worden seien. Es sei auch falsch, dass es hinsichtlich des Rücklaufs der Briefwahlstimmen zu Manipulationsmöglichkeiten gekommen wäre. Vielmehr seien die Umschläge verschlossen in einem Behältnis in der Poststelle aufbewahrt worden. Die Streichung der Kandidatin aus der Vorschlagsliste 1 sei den Briefwählern im Anschreiben zu den Briefwahlunterlagen mitgeteilt worden, so dass auch insoweit kein Missverständnis habe bestehen können. Ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot sei nicht erkennbar. Die Mail des Bewerbers H… könne dem Wahlvorstand nicht zugerechnet werden. Die laienhafte Ausdrucksweise des Wahlvorstands in der Mail vom 03.08.2020, wonach „im Normalfall“ Personenwahl stattfinde, sei nicht als Beeinflussung zu werten. Der Hinweis, dass der Betriebsrat Sprachrohr der Angestellten sei, sei zwar etwas polemisch, könne aber für sich die Anfechtung nicht rechtfertigen.
Der Beteiligte zu 6.) und Beschwerdeführer stellt im Beschwerdeverfahren folgenden Antrag:
Der Beschluss des Arbeitsgerichts Bamberg vom 16.03.2021 zum Aktenzeichen 5 BV 7/20 wird abgeändert und der Antrag der Beteiligten zu 1.) bis 5.), die Betriebsratswahl im Betrieb der Beteiligten zu 1.) am/bis einschließlich 21.08.2021 für unwirksam zu erklären, wird zurückgewiesen.
Die Beteiligte zu 1.) und Beschwerdegegnerin hat beantragt,
Die Beschwerde der Beteiligten zu 6.) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Bamberg vom 16.03.2021 - 5 BV 7/20 - wird zurückgewiesen.
Die Beteiligte zu 1.) schließt sich den Ausführungen des Arbeitsgerichts an. Sie meint, in der Wahlordnung werde ausdrücklich zwischen Wahlniederschrift und Bekanntgabe der Gewählten unterschieden. Sie bleibe dabei, dass auch im Zeitpunkt des Erlasses des Wahlausschreibens im Juli davon auszugehen gewesen sei, dass einer Urnenwahl in Präsenz nichts entgegengestanden hätte. Die erste Welle der Infektionen sei bereits im Frühjahr 2020 abgeebbt gewesen. Es sei vom Wahlvorstand offenbar nicht überprüft worden, ob alle Wahlberechtigten Briefwahlunterlagen bekommen hätten. Sie bleibe dabei, dass auch der Rücklauf der Freiumschläge nicht ausreichend organisiert gewesen sei. Der Wahlvorstand hätte als richtige Adresse einen Briefkasten in der B. Straße 82 anbringen müssen; er hätte sich nicht darauf verlassen dürfen, dass die Post in die Poststelle in der B. Straße 80 abgegeben würde.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Darstellung des Sachverhalts in den Gründen der arbeitsgerichtlichen Entscheidung, die Niederschrift über die Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht vom 07.03.2022 (Bl. 270 ff. d.A.) sowie auf die von den Beteiligten eingereichten und gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Aus den Gründen
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht beim Landesarbeitsgericht eingereichte und auch begründete Beschwerde ist in der Sache nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die durchgeführte Wahl an erheblichen Fehlern leidet, so dass sie für unwirksam zu erklären ist. Im Einzelnen gilt Folgendes:
1. Die Anfechtung der Beteiligten zu 1.) ist form- und fristgerecht erfolgt. Dies gilt selbst dann, wenn die Wahlniederschrift eine ausreichende Bekanntmachung der Gewählten darstellen und wenn sie noch am 31.08.2020 ausgehängt worden sein sollte. Die Einreichung des von der Beteiligten zu 1.) gestellten Antrags am 11.09.2020 wahrt in jedem Fall die Anfechtungsfrist.
2. Aus diesem Grund kann vorliegend dahinstehen, ob die Anfechtungsbefugnis der Beteiligten zu 2.) bis 5.) im Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens noch gegeben ist, nachdem der Beteiligte zu 2.) inzwischen aus dem Betrieb ausgeschieden ist.
a. Die Anfechtungsanträge der Beteiligten zu 3.) und 4.) sind am 14.09.2020 und damit rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangen, ebenso die Anfechtungserklärung des Beteiligten zu 2.).
b. Der Antrag der Beteiligten zu 5.) ist als verspätet anzusehen. Die Beschwerdekammer geht davon aus, dass die Bekanntgabe der Wahlniederschrift, die die Auflistung der Gewählten enthält, für den Beginn der Frist noch ausreichend ist. Es trifft zwar zu, dass der Wahlvorstand die nach § 16 WO erstellte Wahlniederschrift durch Aushang bekanntgegeben hat, nicht auch noch die Gewählten, wie in § 18 WO vorgeschrieben. Dies schadet jedoch nicht. Die Gewählten sind auf Seite 5 der Wahlniederschrift gesondert aufgeführt. Auch wenn es nötig war, hierfür bis auf die fünfte Seite des Aushangs zu blicken - die Gewählten stehen auf einer gesonderten Seite und sind nicht in einem längeren Text „verborgen“. Erkennbar ist auch - wenn auch die Bezeichnung „Rücktritt“ anstelle von „Nichtannahme der Wahl“ nicht zutrifft -, dass es sich im Verhältnis zum Stimmenergebnis um die endgültige Besetzung des Betriebsrats handeln soll. Für die Belegschaft war aus dem Aushang - noch - erkennbar, welche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nunmehr den Betriebsrat bilden sollten und bildeten. Dies gilt trotz des Umstands, dass der Wahlvorstand heruntergerechnete Teilzahlen für jeden Gewählten hinter dessen Namen aufgeführt hat. Dies ist überflüssig und nicht vorgesehen - und stimmt in der vorliegenden Form auch nicht ganz, weil die Teilzahlen den einzelnen Listen zugerechnet werden und nicht gleichzeitig den Kandidaten. Dies ist dennoch unschädlich, weil für die Belegschaft erkennbar bleibt, wie sich der gewählte Betriebsrat nunmehr zusammensetzt. Allein dies ist entscheidend.
c. Auf die rechtlich höchst umstrittene Frage, ob im Zeitpunkt der Anhörung in der Beschwerdeinstanz noch drei wahlberechtigte Arbeitnehmer, die zudem das Verfahren innerhalb der Anfechtungsfrist eingeleitet haben müssen, die Anfechtung betreiben müssen, kommt es im Hinblick auf die wirksame Anfechtung der Beteiligten zu 1.) nicht an. Es braucht daher auch nicht geprüft zu werden, ob der Beteiligte zu 2.) trotz seines Ausscheidens aus dem Betrieb das Verfahren noch weiter betreibt - was nach der Rechtsprechung wohl möglich wäre - und ob ein Eintreten eines anderen wahlberechtigten Arbeitnehmers - hier der Beteiligten zu 5.) - wirksam zum Ersatz eines das Verfahren nicht mehr betreibenden Arbeitnehmers führen könnte, was eher zu verneinen ist. Die Beteiligten zu 2.) bis 5.) haben sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert, haben keine Anträge gestellt. Es kann daher dahinstehen, ob auch sie noch irgendwelche Beteiligungsrechte im vorliegenden Verfahren gehabt hätten (zum Ganzen vgl. z.B. Fitting, BetrVG, 30. Aufl. 2020, § 19 Rn. 29 f.; Homburg in Däubler/Klebe/Wedde, BetrVG, 18. Auflage 2022, § 19 Rn. 25 f.; Kreutz in GK-BetrVG, 12. Aufl. 2022, § 19 Rn. 74 ff., jeweils mit umfangreichen Nachweisen).
3. Die durchgeführte Wahl ist anfechtbar. Die Beteiligte zu 1.) hat in der Anfechtungsschrift mehrere Anfechtungsgründe schlüssig behauptet. Anfechtbar ist die Wahl aus folgenden Gründen, wobei sich die Beschwerdekammer den von der Beteiligten zu 1.) vorgetragenen und vom Arbeitsgericht für zutreffend gehaltenen Gründen nur zum Teil anschließt:
a. Die Anfechtung ist schon deswegen begründet, weil der Wahlvorstand die in § 3 Abs. 1 WO vorgeschriebene Frist von sechs Wochen zwischen dem Erlass des Wahlausschreibens und dem Wahltag nicht eingehalten hat. Vorliegend erfolgte der Aushang des Wahlausschreibens am 10.07.2020, wie sich aus dem Aushang selbst ergibt (Anlage 1 zur Antragsschrift, Bl. 15 d.A.), also einem Freitag. Als Frist bis zur Abgabe der Briefwahlunterlagen war Freitag, der 21.08.2020, angeführt. Dieser Zeitpunkt tritt bei allgemeiner Briefwahl an die Stelle des Wahltages. Die Briefwahlunterlagen können bis zum Ende der Wahlzeit beim Wahlvorstand eingereicht werden. Da für die Fristberechnung der Wahlordnung nach § 41 das Fristenregime der §§ 187 ff. BGB gilt, ist der 10.07.2020 für die Berechnung nicht mitzuzählen (§ 187 Abs. 1 BGB), weil es sich beim Aushang um ein „Ereignis“ im Sinne des § 187 Abs. 1 BGB handelt. Die in § 3 Abs. 1 WO vorgeschriebene sechswöchige Mindestfrist begann also am 11.07.2020 und endete am 21.08.2020, 24.00 Uhr. Die im Wahlausschreiben angegebene Abgabefrist für die Briefwahlstimmen endete aber bereits am 21.08.2020, 11.00 Uhr. Dieser Zeitpunkt liegt offensichtlich innerhalb der Arbeitszeit der Mehrheit der wahlberechtigten Arbeitnehmer. Damit ist die gesetzlich vorgeschriebene Mindestfrist nicht eingehalten. Bei der genannten Mindestfrist handelt es sich um eine wesentliche Vorschrift für das Wahlverfahren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Nichteinhaltung auf das Ergebnis ausgewirkt haben kann, weil möglicherweise noch Briefwahlunterlagen nach 11.00 Uhr abgegeben wurden und weil ein potentieller Wähler seine Unterlagen möglicherweise deswegen nicht mehr abgegeben hat, weil er geglaubt hatte, am Nachmittag des 21.08.2020 sei es schon zu spät. Die Anfechtung ist schon wegen dieses Fehlers begründet (vgl. z.B. LAG Hessen, 14.04.2011, 9 TaBV 198/10, zitiert nach juris; Jacobs in GK-BetrVG, a.a.O., § 3 WO Rn. 2 ff.; Fitting, a.a.O., § 3 WO Rn. 4).
b. Die Anfechtung ist auch deswegen begründet, weil der Wahlvorstand die Prüfung der Liste mit dem Kennwort „Für die Praxen“ nicht unverzüglich nach § 7 Abs. 1 WO geprüft hat (vgl. hierzu etwa BAG vom 18.07.2012, 7 ABR 21/11, zitiert nach juris). Der Beteiligte zu 6.) trägt selbst vor, dass diese Prüfung wegen des Urlaubs von Wahlvorstandsmitgliedern erst Anfang August erfolgt war, während die Einreichungsfrist für die Listen bereits am 24.07.2020 geendet hat. Vorliegend ist nicht bekannt, wann die Liste eingereicht worden ist. Dies ist nach der Angabe der Beteiligten jedenfalls rechtzeitig erfolgt. Hätte der Wahlvorstand die Liste rechtzeitig geprüft, hätte er dem Listenvertreter oder der Listenvertreterin mitteilen müssen, dass die Liste eine nicht wählbare Kandidatin enthalte und insgesamt ungültig sei. Eine Streichung eines nicht wählbaren Kandidaten durch den Wahlvorstand nach Einreichung der Liste ist in der Wahlordnung nicht vorgesehen (vgl. hierzu etwa Jacobs in GK-BetrVG, a.a.O., § 8 WO Rn. 9; Fitting, a.a.O., § 8 WO Rn. 3, jeweils mit umfangreichen Nachweisen). Dies ist konsequent: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterzeichner der Liste diese Liste auch wegen der später gestrichenen Kandidatin unterstützt hatten. Aus diesem Grund ist jede Veränderung der Liste nach Unterzeichnung unzulässig - mit Ausnahme des Ausscheidens oder Verzichts eines Bewerbers nach Einreichung der Liste beim Wahlvorstand. Dies hat der Wahlvorstand verkannt. Er hat nachträglich - nach Ablauf der Einreichungsfrist - eine Änderung der Liste veranlasst. Dies ist nach dem Gesetz nicht erlaubt. Der Wahlvorstand hätte die Liste unverzüglich prüfen und gegenüber dem Listenvertreter beanstanden müssen, hätte die Wahl entweder als Personenwahl ohne die Liste „Für die Praxen“ durchführen müssen, falls innerhalb der Frist keine neue Liste eingereicht worden wäre, oder er hätte eine neu eingereichte Liste mit neuen Unterstützern unverzüglich prüfen und diese neue Liste mit durchweg wählbaren Kandidaten abweisen oder zulassen müssen. Die gewählte Handhabung mag zwar „vernünftig“ sein, ist aber vom Gesetz in keiner Weise gedeckt. Es liegt ein schwerwiegender Fehler vor, der das Wahlergebnis offensichtlich auch beeinflusst hat und die Anfechtbarkeit begründet.
c. Auch die Beschwerdekammer geht davon aus, dass im vorliegenden Fall vieles für die Begründung der Anfechtung deswegen spricht, weil der Wahlvorstand trotz der Möglichkeit der Durchführung einer Präsenzwahl in einem großen Raum Briefwahl für alle Beschäftigten veranlasst hat. Der Wahlvorstand hat damit den Grundsatz des Vorrangs der Urnenwahl verletzt. Obligatorische Briefwahl ist nach dem Gesetz nur für räumlich weit entfernte Betriebsteile möglich (§ 24 Abs. 3 WO). Zwar hält die Beschwerdekammer Ausnahmen für möglich, etwa wenn bei einem Filialbetrieb ohne Hauptstelle durchweg Briefwahl angeordnet wird, um eine Vielzahl von Präsenzwahlen für jeweils nur ganz wenige Mitarbeiter zu vermeiden, die doch - der Wahlvorstand kann sinnvollerweise nicht in mehreren Dutzend oder sogar Hunderten von Filialen Urnen aufstellen - nur einen gewissen Teil der über die Vielzahl von Filialen verstreuten Mitarbeiter abdecken kann. Die Beschwerdekammer hält die Anordnung genereller Briefwahl auch für zulässig, wenn kein geeigneter Raum im Betrieb zur Verfügung steht. Vieles spricht dafür, dass dies in der vorliegenden Konstellation nicht der Fall war, so dass dennoch eine Präsenzwahl hätte durchgeführt werden müssen. Wegen der ohnehin gegebenen Begründung der Anfechtung hat die Beschwerdekammer darauf verzichtet, im Einzelnen zu prüfen, wie die Verhältnisse im Juli 2020 waren und ob der Wahlvorstand berechtigterweise davon ausgehen durfte, dass der Präsenzwahl erhebliche Probleme entgegenstehen würden.
d. Die Anfechtbarkeit rechtfertigt sich auch im Hinblick auf den Verstoß des Wahlvorstands gegen seine Neutralitätspflicht. Dies gilt zunächst deswegen, weil der Wahlvorstand die Werbung durch die Gewerkschaftsliste mit der Aufschrift „Euer Wahlvorstand“ nicht verhindert hat. Durch diese Werbung entsteht in der Tat der Eindruck, der Wahlvorstand unterstütze diese Liste. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Werbung durch einen Bewerber dieser Liste - gleichzeitig Ersatzmitglied des Wahlvorstands - und nicht durch den Wahlvorstand als solchem veranlasst und betrieben wurde. Der Wahlvorstand hätte die Werbung für die Liste unter Inanspruchnahme seines Namens und seiner Autorität, die sich als missbräuchlich darstellt, unverzüglich abstellen oder dies zumindest versuchen müssen.
Eine weitere Verletzung der Neutralitätspflicht liegt in der durch den Wahlvorstand versandten Mail vom 03.08.2020. Zunächst ist die Information des Wahlvorstands falsch. Es trifft nicht zu, dass sich „normalerweise“ alle „Interessenten“ in einer Vorschlagsliste eintragen, aus der die Wahlberechtigten dann ihre Favoriten auswählen könnten. Vielmehr werden Vorschlagslisten durch Wahlberechtigte nach ihrem Belieben aufgestellt, die dann die genügende Anzahl von Unterstützern tragen müssen. Hier wurde die spätere Liste 2 offenbar durch die Gewerkschaft ver.di aufgestellt oder zumindest unterstützt - war dies nicht der Fall, hätte das Kennwort „ver.di“ nicht verwendet werden dürfen, auch nicht im Zusammenhang mit der Bezeichnung „ver.di und Kollegen“. Ob allein dies zur Anfechtbarkeit führen kann, kann hier dahinstehen. Denn der Wahlvorstand hat mit dem Zusatz „dies ist jetzt durch die Liste von Frau Z… in eine Listenwahl geändert worden“ eine negative Bewertung dieser Liste abgegeben. Allein diese Wertung - die andere Liste sei „schuld“ daran, dass die Mitarbeiter weniger Demokratie ausüben könnten - würde die Anfechtung rechtfertigen. Vorliegend hat der Wahlvorstand allerdings mit dem Zusatz „Bedenken Sie bitte“ eine eindeutig negative Bewertung der Liste „Für die Praxen“ angefügt. Ein solcher Hinweis mit der Autorität des Wahlvorstands ist in keiner Weise gestattet. Er stellt eine eindeutige Parteinahme des Wahlvorstands für die eine und gegen die andere Liste dar und damit einen klaren Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Wahlvorstands. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Wähler sich hierdurch haben beeinflussen lassen. Auch dieser Verstoß führt zur Anfechtbarkeit der Wahl.
e. Dagegen sieht die Beschwerdekammer keinen Anfechtungsgrund im Verstoß gegen die Frist zum Aushang der gültigen Vorschlagslisten. Auch dann, wenn Präsenzwahlen mit Urne stattfinden, können und müssen die Briefwahlunterlagen vorweg versandt werden. Es ist geradezu typisch, dass die Briefwähler die Vorschlagslisten nicht eine Woche vorher im Aushang betrachten können, sondern dass sie die Briefwahlunterlagen so bald wie möglich erhalten. Ausreichend ist der einwöchige Abstand zum Beginn der Stimmabgabe in Präsenzwahl, der hier mit der Versendung mehr als eine Woche vor Abschluss der Stimmabgabe erfüllt ist.
f. Auch die Anfechtbarkeit wegen der Behandlung der eingehenden Briefwahlunterlagen steht nicht fest. Die Beschwerdekammer hält das Vorhalten einer Box für die Aufbewahrung eingehender Briefwahlunterlagen für zulässig, wenn diese in der Poststelle aufbewahrt wird und unter Beobachtung der Mitarbeiter der Poststelle steht. Voraussetzung ist, dass diese Box mindestens täglich geleert wird und dass Vorkehrungen getroffen werden für Zeiträume, in denen eine Besetzung durch Mitarbeiter der Poststelle nicht garantiert ist. Insoweit steht nicht fest, ob der Wahlvorstand einen Fehler gemacht hat. Ob die Adressierung der Rückumschläge durch den Wahlvorstand im Hinblick auf die angegebene Hausnummer nicht ausreichend oder eindeutig war, ob der Wahlvorstand alles getan hat, um allen Wahlberechtigten die Briefwahlunterlagen zuzusenden, ob er die aus der Poststelle abgeholten Rückkuverts ordnungsgemäß verwahrt hat, was genau bei den „nachträglichen Ergänzungen“ passiert ist, wäre nach § 83 Abs. 1 ArbGG durch die Arbeitsgerichte aufzuklären gewesen, wenn es auf diese Fragen ankäme. Dies ist aber angesichts dessen, dass sich die Anfechtbarkeit aus anderen Umständen ergibt, nicht nötig.
g. Auf eine weitere Prüfung des Wahlverfahrens hat die Beschwerdekammer angesichts dessen verzichtet, dass sich die Begründetheit der Anfechtung schon aus den bereits feststehenden Tatsachen ergibt.
4. Nach alldem ist die Anfechtung begründet. Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend entschieden. Die Beschwerde der Beteiligten zu 6.) ist zurückzuweisen.
5. Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde besteht kein gesetzlich begründeter Anlass.