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Arbeitsrecht
23.06.2022
Arbeitsrecht
EuGH: Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer – Art. 7 Abs. 1

EuGH, Urteil vom 9.12.2021 – C-217/20, XXXX gegen Staatssecretaris van Financiën

ECLI:EU:C:2021:987

Volltext: BB-Online BBL2022-1527-1

Tenor

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen, wenn ein Arbeitnehmer, der wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, sein Recht auf bezahlten Jahresurlaub ausübt, die sich aus der Arbeitsunfähigkeit ergebende Kürzung des Entgelts, das er während des Arbeitszeitraums, der dem Zeitraum der Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs vorausgeht, erhalten hat, zur Bestimmung des Entgelts, das er im Rahmen seines bezahlten Jahresurlaubs erhalten wird, berücksichtigt wird.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) über die Höhe des Entgelts, auf das der Kläger im Rahmen des bezahlten Jahresurlaubs Anspruch hat.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 2 und 4 bis 6 der Richtlinie 2003/88 heißt es:

„(2) Nach Artikel 137 [EG] unterstützt und ergänzt die Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten, um die Arbeitsumwelt zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu verbessern. …

(4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.

(5) Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. …

(6) Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen; dies betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze.“

4          Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) … der Mindestjahresurlaub, …

…“

5          Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

 

Niederländisches Recht

6          Nach Art. 22 Abs. 1 des Algemeen Rijksambtenarenreglement (Allgemeines Statut der Staatsbediensteten) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ARAR) haben Staatsbedienstete einen jährlichen Anspruch auf Urlaub unter Beibehaltung ihrer vollen Besoldung.

7          Art. 37 ARAR bestimmt:

„(1) Im Falle einer Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit, hat ein Staatsbediensteter Anspruch auf Fortzahlung seiner Besoldung für einen Zeitraum von 52 Wochen. Im Falle fortdauernder Arbeitsunfähigkeit hat er Anspruch auf Fortzahlung von 70 % seiner Besoldung.

(5) Abweichend von Absatz 1 hat der Staatsbedienstete auch nach Ende des in Abs. 1 genannten Zeitraums von 52 Wochen Anspruch auf Fortzahlung seiner Besoldung für die Anzahl gearbeiteter Stunden oder der Stunden, die von ihm geleistet worden wären, wenn ihm eine passende Arbeit angeboten worden wäre.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8          Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist beim Belastingdienst (Steuerverwaltung, Niederlande) beschäftigt. Seit dem 24. November 2015 wurde er wegen Krankheit länger für teilweise arbeitsunfähig erklärt und nimmt an einer Wiedereingliederungsmaßnahme teil.

9          Gemäß Art. 37 Abs. 1 ARAR wurde die reguläre Besoldung des Klägers im ersten Jahr der Arbeitsunfähigkeit zu 100 % fortgezahlt, nämlich bis zum 24. November 2016, dann wurden 70 % dieser Summe fortgezahlt. Für die Stunden, in denen der Kläger als arbeitsfähig angesehen wurde, wurde die Besoldung gemäß Art. 37 Abs. 5 ARAR zu 100 % fortgezahlt.

10        Während des Jahresurlaubs des Klägers des Ausgangsverfahrens vom 25. Juli bis zum 17. August 2017 wurde ihm ein Entgelt in Höhe der seit dem 24. November 2016 bezogenen Besoldung gezahlt, d. h. 70 % seiner Besoldung für die seiner Arbeitsunfähigkeit entsprechenden Stunden und 100 % für die Stunden, während deren er als arbeitsfähig angesehen wurde.

11        Mit einem beim Staatssekretär für Finanzen eingelegten Widerspruch wandte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen die Höhe dieses Entgelts und machte geltend, dass er während dieses Urlaubs seine volle Besoldung hätte erhalten müssen. Nachdem der Staatssekretär für Finanzen diesen Widerspruch mit Entscheidung vom 13. Oktober 2017 zurückgewiesen hatte, erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens dagegen Klage bei der Rechtbank Overijssel (Bezirksgericht Overijssel, Niederlande), dem vorlegenden Gericht.

12        Dieses Gericht führt aus, dass der Staatsbedienstete nach Art. 22 Abs. 1 ARAR jährlich Anspruch auf bezahlten Urlaub unter Fortzahlung seiner „vollen Besoldung“ habe. Dieser Begriff „volle Besoldung“ beziehe sich auf das Arbeitsentgelt, das in dem Zeitraum geschuldet werde, der dem Zeitraum der Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs vorausgehe (im Folgenden: Bezugszeitraum), d. h. im Ausgangsverfahren die in Rn. 10 des vorliegenden Urteils genannte Besoldung. Der Standpunkt des Staatssekretärs für Finanzen stehe daher im Einklang mit der nationalen Regelung.

13        Im Übrigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Richtlinie 2003/88 zwar den Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen auch im Fall vollständiger Arbeitsunfähigkeit garantiere, dass sie aber keine Angaben zur Höhe des während des Jahresurlaubs zu zahlenden Entgelts enthalte.

14        Es macht darauf aufmerksam, dass der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177), sowie vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), festgestellt habe, dass der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs das „gewöhnliche“ Arbeitsentgelt erhalten müsse. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Höhe des Entgelts, das der Kläger des Ausgangsverfahrens während seines Jahresurlaubs erhalten habe, die gleiche sei wie die Höhe des Entgelts, das er im Bezugszeitraum erhalten habe.

15        Der Gerichtshof habe jedoch in Rn. 25 des Urteils vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), klargestellt, dass der Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub vom Zweck des Anspruchs auf Krankheitsurlaub abweiche.

16        In Anbetracht dieser Erwägung fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Anspruch des betreffenden Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub dadurch beeinträchtigt wird, dass bei der Bestimmung der Höhe des Entgelts, das während eines bezahlten Jahresurlaubs geschuldet wird, die sich aus einer Arbeitsunfähigkeit ergebende Kürzung des Entgelts berücksichtigt wird.

17        Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Overijssel (Bezirksgericht Overijssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass der Arbeitnehmer sein Entgelt oder einen Teil davon nicht wegen der Ausübung seines Rechts auf Jahresurlaub verliert? Oder ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass der Arbeitnehmer sein Entgelt während der Ausübung seines Rechts auf Jahresurlaub ungeachtet der Ursache für sein Nichtarbeiten während des Urlaubs behält?

2. Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen ein Arbeitnehmer, der wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, zu Beginn seines Urlaubs sein Entgelt auf der Höhe seines unmittelbar vor Beginn seines Urlaubs erhaltenen Entgelts behält, auch wenn dieses Entgelt durch die lange Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit niedriger ist als das Entgelt bei vollständiger Arbeitsfähigkeit?

3. Ist das Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub aufgrund von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und gefestigter Unionsrechtsprechung dahin auszulegen, dass es dagegen verstößt, bei Arbeitsunfähigkeit das Entgelt während des Urlaubs zu kürzen?

 

Zu den Vorlagefragen

18        Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen, wenn ein Arbeitnehmer, der wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, sein Recht auf bezahlten Jahresurlaub ausübt, die sich aus der Arbeitsunfähigkeit ergebende Kürzung des Entgelts, das er während des Bezugszeitraums erhalten hat, zur Bestimmung des Entgelts, das er im Rahmen seines bezahlten Jahresurlaubs erhalten wird, berücksichtigt wird.

19        Erstens ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt, diese Bestimmung jedem Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen verleiht. Dieser Anspruch ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, dessen Umsetzung durch die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen erfolgen kann, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

20        Zweitens ist, da der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 verankert ist, festzustellen, dass deren Bestimmungen, wie sich aus ihrem vierten Erwägungsgrund ergibt, auf eine Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit abzielen.

21        Darüber hinaus heißt es im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass „[a]lle Arbeitnehmer … angemessene Ruhezeiten erhalten [sollten]“.

 

22        Folglich enthält diese Richtlinie nach ihrem Art. 1 Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung und hat u. a. den Mindestjahresurlaub zum Gegenstand.

23        Im Hinblick auf diese Ziele steht fest, dass mit dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verankerten Anspruch auf Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

24        Der Arbeitnehmer muss nämlich normalerweise über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen können, um seine Sicherheit und seine Gesundheit zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 23).

25        Im Übrigen beruht der Zweck des in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 verankerten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, durch den sich dieser Urlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, wie der Anspruch auf Krankheitsurlaub, der dem Arbeitnehmer die Genesung von einer Krankheit ermöglichen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 25), auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit zu verfügen, setzt nämlich voraus, dass dieser Arbeitnehmer zuvor eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es rechtfertigt, dass ihm ein solcher Zeitraum gewährt wird. Daher sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich anhand der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeitszeiträume zu berechnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

26        Drittens hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang klargestellt, dass der Ausdruck „bezahlter Jahresurlaub“ in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 bedeutet, dass das Arbeitsentgelt für die Dauer des „Jahresurlaubs“ im Sinne dieser Richtlinie weiter zu gewähren ist und dass der Arbeitnehmer mit anderen Worten für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten muss (Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein, C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27        Der Arbeitnehmer soll nämlich, wenn er sein Recht auf bezahlten Jahresurlaub ausübt, in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein, C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

28        Demnach unterliegt die Struktur des gewöhnlichen Entgelts eines Arbeitnehmers zwar als solche den Vorschriften und Gepflogenheiten nach dem Recht der Mitgliedstaaten, kann jedoch keinen Einfluss auf den Anspruch des Arbeitnehmers haben, während des ihm für Erholung und Entspannung zur Verfügung stehenden Zeitraums in den Genuss wirtschaftlicher Bedingungen zu kommen, die mit denen vergleichbar sind, die die Ausübung seiner Arbeit betreffen (Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein, C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Außerdem kann ein Mitgliedstaat in bestimmten besonderen Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

30        Dies ist insbesondere bei Arbeitnehmern der Fall, die während des Bezugszeitraums krankgeschrieben sind. Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, werden diese Arbeitnehmer hinsichtlich des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub solchen gleichgestellt, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet haben (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31        Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, dass das Eintreten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nicht vorhersehbar und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist. Dies folgt im Wesentlichen auch aus dem Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung), dessen Grundsätze nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 bei deren Auslegung beachtet werden müssen. Wie nämlich aus Art. 5 Abs. 4 dieses Übereinkommens hervorgeht, sind Fehlzeiten infolge einer Krankheit den Arbeitsversäumnissen „aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen“, zugeordnet, die „als Dienstzeit anzurechnen“ sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Dicu, C‑12/17, EU:C:2018:799, Rn. 32).

 

32        Daraus folgt, dass der unionsrechtlich gewährleistete Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht dadurch eingeschränkt werden kann, dass der Arbeitnehmer seiner Arbeitspflicht wegen einer Erkrankung im Bezugszeitraum nicht nachkommen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33        So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Erhalt des gewöhnlichen Arbeitsentgelts während des bezahlten Jahresurlaubs es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, die Urlaubstage, auf die er Anspruch hat, tatsächlich zu nehmen. Ist das aufgrund des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gezahlte Entgelt geringer als das gewöhnliche Entgelt, das der Arbeitnehmer in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung erhält, könnte dieser aber veranlasst sein, seinen bezahlten Jahresurlaub nicht zu nehmen (Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein, C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 44).

34        Im vorliegenden Fall steht fest, dass nach den auf das Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten das dem Kläger des Ausgangsverfahrens während seines bezahlten Jahresurlaubs gezahlte Arbeitsentgelt genauso hoch ist wie das Entgelt, das er während des Bezugszeitraums erhalten hat. Die niederländische Regierung hat daraus in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen den Schluss gezogen, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens während der Dauer des Jahresurlaubs in eine wirtschaftliche Lage versetzt worden sei, die mit derjenigen vergleichbar sei, in der er sich während des Bezugszeitraums befunden habe.

35        Zwar ist unstreitig, dass für den Kläger des Ausgangsverfahrens während des Jahresurlaubs wirtschaftliche Bedingungen galten, die mit denen vergleichbar waren, die für ihn während der Zeiten geleisteter Arbeit im Sinne der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung galten.

36        Es ist jedoch erstens festzustellen, dass eine nationale Regelung oder Praxis, nach der das Entgelt, das ein Arbeitnehmer während seines bezahlten Jahresurlaubs erhält, genauso hoch ist wie während des Bezugszeitraums, ohne dass der Umstand berücksichtigt wird, dass dieses Entgelt aufgrund einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gekürzt wurde, im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass der durch die Richtlinie 2003/88 verliehene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von der Verpflichtung zur Vollzeitbeschäftigung während dieses Zeitraums abhängig gemacht wird.

 

37        Zweitens würde, wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Umstand, dass ein Arbeitnehmer, der sein Recht auf bezahlten Jahresurlaub ausübt, ein höheres oder niedrigeres Entgelt erhält, je nachdem, ob er bei der Ausübung dieses Rechts arbeitsunfähig ist oder nicht, den Wert dieses Rechts von dem Zeitpunkt abhängig machen, zu dem es ausgeübt wird.

38        Drittens hat der Kläger des Ausgangsverfahrens zwar, wie die niederländische Regierung ausführt, während seines bezahlten Jahresurlaubs ein Entgelt erhalten, das dem entspricht, das ihm im Bezugszeitraum gezahlt wurde, doch ist dieses Entgelt niedriger als dasjenige, das er erhalten hätte, wenn er nicht während dieses Zeitraums wegen Krankheit arbeitsunfähig gewesen wäre.

39        Wie sich aus der in den Rn. 25 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist aber, da der Eintritt einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nicht vorhersehbar und vom Willen des betroffenen Arbeitnehmers unabhängig ist, im Hinblick auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub davon auszugehen, dass Arbeitnehmer, die wegen Krankheit während des Bezugszeitraums arbeitsunfähig sind, denjenigen gleichgestellt werden, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Daher sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub in einem solchen Fall grundsätzlich anhand der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeitszeiträume zu bestimmen, ohne dass der Umstand berücksichtigt wird, dass das Arbeitsentgelt wegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gekürzt worden ist.

40        Darüber hinaus kann in Anbetracht des in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführten Zwecks des bezahlten Jahresurlaubs der Umstand, dass der Grund für die Arbeitsunfähigkeit während des bezahlten Jahresurlaubs des Arbeitnehmers fortbesteht, keinen Einfluss auf seinen Anspruch auf ein ungekürztes Entgelt während dieses Urlaubs haben.

41        Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen, wenn ein Arbeitnehmer, der wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, sein Recht auf bezahlten Jahresurlaub ausübt, die sich aus der Arbeitsunfähigkeit ergebende Kürzung des Entgelts, das er während des Bezugszeitraums erhalten hat, zur Bestimmung des Entgelts, das er im Rahmen seines bezahlten Jahresurlaubs erhalten wird, berücksichtigt wird.

 

 

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