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Arbeitsrecht
02.11.2023
Arbeitsrecht
LAG Nürnberg: Tatkündigung – Verdachtskündigung – Täuschung – Impfpflicht – Immunitätsbescheinigung

LAG Nürnberg, Urteil vom 18.4.2023 – 7 Sa 348/22

Volltext: BB-Online BBL2023-2611-3

 

Leitsätze

Ein wichtiger Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung liegt vor, wenn der Arbeitnehmer in einer Pflegeeinrichtung nach § 20a Abs. 1 IfSG aufgefordert wird, einen Nachweis über eine Impfung oder den Genesenenstatus oder ein ärztliches Zeugnis über eine medizinische Kontraindikation zu erbringen und er den Arbeitgeber durch Vorlage einer aus dem Internet heruntergeladenen Bescheinigung ohne Untersuchung des Einzelfalles  durch den Bescheinigenden über das Vorliegen einer der drei Alternativen zu täuschen versucht. Hier lag ein Täuschungsversuch nicht vor. Der Bescheinigung lag ein Laborbefund über eine Blutuntersuchung des Arbeitnehmers vor.

IfSG § 20 a, BGB § 626, BGB § 241

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung und um den Anspruch des Klägers auf Weiterbeschäftigung.

Der am ... 1969 geborene, verheiratete und zwei Kindern unterhaltsverpflichtete Kläger ist bei der Beklagten seit 09.03.1988 beschäftigt in Vollzeit mit einem jährlichen Bruttoarbeitsentgelt von ca. 67.000,00 €, zuletzt als Führungskraft im technischen Dienst. In den letzten Jahren war er tätig als Abteilungsleiter bei der Servicegesellschaft S… B… mbH, einer Tochtergesellschaft der Beklagten, über einen Personalgestellungsvertrag. Bei dieser Tochtergesellschaft ist der Kläger Mitglied des dort bestehenden Betriebsrates. Die Beklagte betreibt Krankenhäuser. Es handelt sich um eine Pflegeeinrichtung iSd § 20a IfSG. Bei der Beklagten besteht ein Personalrat.

Mit Laborbefund des MVZ am B., Bu… Str. ..., … B., vom 16.11.2021 (Bl. 118 der Akte) wurde für „Sc…, G… ... ., M PNR: …“ für eine am 11.11.2021 eingegangene Blutprobe der Titer der Antikörper festgestellt und für SARS-CoV-2 ein Wert von 163.0 festgestellt. In den Bemerkungen zu diesem Testergebnis wird ausgeführt:

„Ein positives Ergebnis zeigt das Vorhandensein von IgG-Antikörpern gegen das Spike-Protein von SARS-CoV-2 an. Eine Unterscheidung zwischen durchgemachter natürlicher Infektion oder Impftiter ist nicht möglich.

Die Werte werden unter Berücksichtigung des WHO-Standards für die Anti-SARS-CoV-2-Immunglobulin-Bindungsaktivität gemäß Herstellervorgabe angegeben (DiaSorin).

Namentlich meldepflichtig an das Gesundheitsamt nach § 6 IfSG. Zur Meldung verpflichtet ist der behandelnde Arzt.

Die Meldung nach § 7 IfSG (Nachweis von Krankheitserregern) erfolgte bereits durch das Labor.“

Der Kläger wurde mit Schreiben vom 03.01.2022 (Bl. 49 der Akte) auf die eingeführte Impfpflicht gem. § 20a IfSG hingewiesen und gebeten, bis zum 15.03.2022 einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis oder eine ärztliche Bescheinigung über eine medizinische Kontraindikation vorzulegen. Er wurde gebeten, dieser Verpflichtung zur vollständigen Impfung umgehend nachzukommen, da der Beklagten bislang keine entsprechende Dokumentation im Mitarbeiterportal vorliege und der vollständige Impfschutz bis 15.03.2022 bestehen müsse.

Am 10.01.2022 erstellte Dr. A…, Be…, für den Kläger eine Immunitätsbescheinigung (Bl. 54 der Akte) nach Übersendung des Berichtes des Labors vom 16.11.2021 durch den Kläger wie folgt:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit E-Mail vom 20.01.2022 (Bl. 52 der Akte) wurde eine Vielzahl von Arbeitnehmern, darunter auch der Kläger, noch einmal aufgefordert, die entsprechenden Unterlagen zur Überprüfung vorzulegen. Mit weiterer E-Mail vom 26.01.2022 (Bl. 51 der Akte) wurde an die Erledigung erinnert.

Mit E-Mail vom 28.01.2022 legte der Kläger die Bescheinigung von Dr. A… bei der Beklagten vor. Mit Schreiben vom 04.02.2022 (Bl. 104 der Akte) teilte die Beklagte dem Kläger mit, es bestehe die Vermutung, dass dieser sich im Rahmen des Arbeitsverhältnisses einer schwerwiegenden Pflichtverletzung und der Begehung einer Straftat schuldig gemacht habe. Sie führt weiter aus, dass sie davon ausgehe, sie habe über eine bestehende medizinische Kontraindikation des Klägers getäuscht werden sollen mit dieser Immunitätsbescheinigung. Die Beklagte hält dem Kläger konkret vor:

„Am 28. Januar 2022 erhielten wir von Ihnen eine so bezeichnete „Immunitäts-Bescheinigung “(s. Anlage). Die Bescheinigung wies aus, dass Sie am 16.11.2021 von Frau Dr. med. E. A., tätig in … Be…, in der K… ..., basierend auf der ärztlichen Einschätzung und Bewertung von Frau Dr. E. A., einen Nachweis einer gesicherten, durchgemachten SARS-CoV-2 Infektion erhielten.

Bei der so bezeichneten „Immunitäts-Bescheinigung“ handelt es sich um ein allgemein verfasstes Schreiben, welches durch das Einsetzen Ihrer persönlichen Daten und durch abhaken einer vorgefertigten Begründung, den Anschein erwecken sollte, dass es sich um ein individuell erstelltes Gutachten handelt.

In Ihrem Fall bestünde demnach die konkrete Gefahr, dass alle diese schweren Impfwirkungen eintreten könnten.

Unserer Erkenntnis nach handelt es sich bei dem von Ihnen vorgelegten Gutachten, um ein Schriftstück, dass von jedermann zugänglich im Internet erworben werden kann, auf keinerlei medizinischen Grundlagen für Sie individuell erstellt wurde und damit jegliche Voraussetzungen eines ärztlichen Zeugnisses über eine medizinische Kontraindikation entbehrt.“

Sie teilte ferner mit, sie beabsichtige die Kündigung des Arbeitsverhältnisses und wolle eine Anhörung des Klägers am 08.02.2022 durchführen, sehe ersatzweise einer schriftlichen Stellungnahme bis 09.02.2022 entgegen.

Da der Kläger in Urlaub war, kam dieser Anhörungstermin kurzfristig nicht zustande. Der Kläger führte mit E-Mail vom 05.02.2022 (Bl. 113 der Akte) an die Beklagte aus:

„Sehr geehrter Herr P…, da Sie mir das telefonisch am 04.02.2022 ca. 14:00 Uhr besprochene Vorgehen nicht schriftlich mitgeteilt haben, möchte ich hier unsere Vereinbarung niederschreiben:

- Da ich mich im Moment im Urlaub befinde findet die Anhörung frühestens ab 18.02.2021 statt.

- Sie schicken mir eine neuen Termin zu Vielleicht kann ich auch auf diesem Wege die Sachlage klären und somit die Anhörung überflüssig machen.

Mein eingereichtes Schreiben der „immunitäts-Bescheinigung“ weist nur darauf hin, dass ich Antikörper gegen SARS-CoV-2 besitze und die ausstellende Ärztin attestiert, dass eine Impfung oder Wiederholungsimpfung nicht geboten ist.

Sollten Sie diesen Hinweis anzweifeln, sind die Kontaktdaten der Internistin aufgeführt. Sie können gerne Kontakt mit der Ärztin aufnehmen.“

Mit Schreiben vom 14.02.2022 (Bl. 114 ff. der Akten), das dem Personalrat am gleichen Tag zuging, hörte die Beklagte durch die Personalleitung und die stellvertretende Personalleitung den Personalrat unter Bezug auf die in Kopie beigefügte Bescheinigung von Dr. A… zu einer beabsichtigten außerordentlichen und fristlosen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung aus verhaltensbedingten Gründen an.

Der Personalrat erklärte mit Schreiben vom 16.02.2022 (Bl. 117 ff. der Akte), sich nicht zu dem Vorgang zu äußern. Der Kläger übersandte der Beklagten ebenfalls am 16.02.2022 den Laborbefund vom 16.11.2021.

Mit Schreiben vom 17.02.2022 (Bl. 11 der Akte) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis verhaltensbedingt außerordentlich fristlos.

Der Kläger wandte sich gegen diese Kündigung mit Kündigungsschutzklage vom 03.03.2022, bei Gericht eingegangen am 09.03.2022.

Der Kläger machte vor dem Arbeitsgericht geltend:

Er habe nicht versucht, die Beklagte zu täuschen. Die Bescheinigung der Ärztin vom 10.01.2022 beruhe auf dem Laborbericht vom 16.11.2021 über seinen in einem Labor der Beklagten festgestellten Antikörperwert. Dieser Laborwert sei Grundlage der ärztlichen Bescheinigung und des dort festgestellten Immunstatus gewesen. Das sei aus der Bescheinigung auch ersichtlich. Als Tatkündigung sei die Kündigung nicht innerhalb von zwei Wochen nach Kenntniserlangung erfolgt. Als Verdachtskündigung ermangele die Kündigung einer vorherigen Anhörung des Klägers und Konfrontation mit den Verdachtsmomenten. Der Personalrat bei der Beklagten sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Der Betriebsrat der Servicegesellschaft S… B… mbH habe der Kündigung nicht zugestimmt.

Die Beklagte machte vor dem Arbeitsgericht geltend:

Der Kläger habe mit der Bescheinigung der Ärztin vom 10.01.2022 einen ungültigen Immunitätsnachweis vorgelegt und damit versucht, die Beklagte über seinen Immunstatus zu täuschen. Die Kündigung sei auch als Verdachtskündigung möglich. Der Kläger habe sich mit E-Mail vom 05.02.2022 zu den Verdachtsmomenten geäußert. Der Personalrat bei der Beklagten sei ordnungsgemäß beteiligt worden, auf den Betriebsrat bei der Servicegesellschaft und die Mitgliedschaft des Klägers komme es nicht an.

Das Erstgericht hat der Kündigungsschutzklage mit Urteil vom 15.09.2022 stattgegeben und die Beklagte zur Weiterbeschäftigung des Klägers verurteilt. Es führte zur Begründung aus, für die Tatkündigung sei ein wichtiger Grund nicht ersichtlich, eine Täuschungsabsicht sei nicht nachgewiesen. Ferner sei die Frist von zwei Wochen des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt und die Verdachtskündigung sei mangels vorgängiger Anhörung des Klägers unwirksam. Schließlich sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beachtet worden im Hinblick auf das mildere Mittel der Abmahnung. Der Personalrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden mit der fehlerhaften Information, der Kläger habe eine aus dem Internet heruntergeladene Impfunfähigkeitsbescheinigung ohne entsprechende Untersuchung vorgelegt.

Das Urteil wurde der Beklagten am 05.10.2022 zugestellt. Sie legte am 25.10.2022 dagegen Berufung ein und begründete diese am 05.12.2022.

Die Beklagte trägt in der Berufung vor:

Der Kläger sei 2020 und 2021 nicht an Corona erkrankt gewesen, er habe nur sehr wenig krankheitsbedingte Fehlzeiten in diesen Jahren gehabt. Eine Corona-Erkrankung, die zu einer Corona-Immunität hätte führen können, habe wohl nicht vorgelegen. Es sei auch nicht erkennbar, wann die Blutprobe beim Labor eingereicht worden sei, die dem Laborbericht vom 16.11.2021 zugrunde liege. Es sei nicht einmal klar, ob die Blutprobe vom Kläger selbst stamme. Die Bescheinigung vom 10.01.2022 sei über zwei Monate später erteilt worden. Die Bescheinigung sei unbrauchbar, da ohne eigene Untersuchung des Klägers und ohne eigene Entnahme und Prüfung der Blutprobe erfolgt. Der Kläger habe mit der Bescheinigung einen Immunitätsstatus vortäuschen wollen. Dies stelle einen wichtigen Grund iSd § 626 Abs. 1 BGB dar. Einer Abmahnung habe es nicht bedurft im Hinblick auf diese gravierende Pflichtverletzung. Auch sei die Frist von zwei Wochen für die Erklärung der Tatkündigung gewahrt. Die Beklagte habe den Sachverhalt noch aufklären dürfen. Erst danach sei die Kündigungserklärungsfrist angelaufen.

Die für eine Verdachtskündigung erforderliche Anhörung des Klägers sei erfolgt mit dem Anschreiben vom 04.02.2022 und der Antwort des Klägers mit E-Mail vom 05.02.2022. Diese Antwort sei abschließend gewesen. Mit Eingang dieser E-Mail und ihrer Auswertung sei die Kündigungserklärungsfrist für die Verdachtskündigung angelaufen. Die Kündigung sei mithin fristgerecht erfolgt.

Auch die Beteiligung des Personalrates sei ordnungsgemäß durchgeführt worden. Dort sei gerade nicht vorgetragen worden, der Kläger hätte sich eine Bescheinigung aus dem Internet heruntergeladen, vervollständigt und dann der Beklagten vorgelegt. Der Personalrat sei zutreffend über die Bescheinigung vom 10.01.2022 informiert worden.

Auf die Stellung des Klägers als Mitglied des Betriebsrates der Service Gesellschaft S… B… mbH komme es nicht an.

Die Beklagte und Berufungsklägerin stellt folgende Anträge:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Bamberg vom 15.09.2022 – 1 Ca 178/22 – wird abgeändert.

2. Die Klage wird abgewiesen.

3. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,

1. Die Berufung der Berufungsklägerin wird zurückgewiesen.

2. Die Berufungsklägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Eine Täuschung der Beklagten habe nicht vorgelegen. Es handele sich gerade nicht um eine Online-Bescheinigung. Der Kläger habe die Blutuntersuchung in einem Labor der Beklagten machen lassen, diesen Laborbefund der Ärztin übersandt und auf Grund dieses Laborbefundes sei die Bescheinigung vom 10.01.2022 erstellt worden. Dies gehe auch eindeutig aus der Bescheinigung hervor. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Tatkündigung liege mithin nicht vor. Die Verdachtskündigung ermangele der vorgängigen Anhörung des Klägers. Aus seiner E-Mail vom 05.02.2022 ergebe sich klar, dass es sich nicht um eine abschließende Stellungnahme handele. Bei der Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger schon seit über 30 Jahren beanstandungsfrei bei der Beklagten arbeite. Auch die Personalratsbeteiligung sei zu beanstanden. Eine formularmäßige Bescheinigung sei gerade nicht heruntergeladen worden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die tatbestandlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Ferner wird Bezug genommen auf die Berufungsbegründung der Beklagten vom 05.12.2022 und den weiteren Schriftsatz vom 06.04.2023 und die Berufungserwiderung vom 30.12.2022 und den weiteren Schriftsatz vom 18.04.2023.

Aus den Gründen

I. Die Berufung ist zulässig.

Sie ist statthaft nach §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2b ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und ausreichend begründet worden nach § 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO.

II. Die Berufung ist unbegründet.

Die Kündigung vom 17.02.2022 ist rechtsunwirksam mangels eines wichtigen Grundes iSd § 626 Abs. 1 BGB und beendet das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht. Die Beklagte ist zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet.

Das Erstgericht ist insoweit mit sorgfältiger und zutreffender Begründung zum zutreffenden Ergebnis gelangt. Das Gericht nimmt daher Bezug auf die sorgfältigen und richtigen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Erstgerichtes und macht sich diese zu eigen, § 69 Abs. 2 ArbGG.

Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen führt das Gericht noch aus:

1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die rechtliche Überprüfung nach § 626 Abs. 1 BGB erfolgt in zwei Stufen: Zum einen muss der Kündigungssachverhalt – unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles – überhaupt an sich geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Zum anderen muss dieser Grund im Rahmen der Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere auch des Verhältnismäßigkeitsprinzips, zum Überwiegen des berechtigten Interesses des Kündigenden an der fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen, BAG, Urteil vom 29.06.2017 – 2 AZR 302/16 –, Rn.26 ff, BAG, Urteil vom 27.06.2019 – 2 AZR 28/19 –, Rn. 15 ff.

2. Ein wichtiger Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung kann darin liegen, dass ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Vorlage geforderter Nachweise oder Zeugnisse darüber täuscht, dass bei ihm bestimmte Eigenschaften oder sonstige Voraussetzungen vorliegen oder nicht vorliegen, die für den Arbeitgeber von entscheidender Bedeutung für die (weitere) Durchführung des Arbeitsverhältnisses sind. So ist die Täuschung des Arbeitgebers über die gesetzlichen Voraussetzungen für eine vertragsgemäße Beschäftigung ein tauglicher Grund zur Anfechtung des abgeschlossenen Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB, BAG, Urteil vom 03.11.2004 – 5 AZR 592/03 –, Rn. 15; LAG Hamm, Urteil vom 24.05.2013 – 18 Sa 281/12 –, Rn. 35; LAG Köln, Urteil vom 26.07.2012 – 7 Sa 327/12 –, Rn. 31. Für den Fall der Täuschung des Arbeitgebers, der eine Pflege- und Gesundheitseinrichtung im Sinne des § 20a Abs. 1 IfSG betreibt, über einen der Vorschrift entsprechenden, gültigen Immunitätsnachweis gegen COVID-19 ist ebenfalls von einem wichtigen Grund wegen einer schweren Verletzung vertraglicher Nebenpflichten auszugehen, LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.11.2022 – 4 Sa 139/22 –, Rn. 51; LAG Nürnberg, Urteil vom 23.02.2023 – 5 Sa 322/22 – und Urteil vom 30.03.2023 – 3 Sa 346/22 -.

3. Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, die den wichtigen Grund an sich ausmachen, liegt beim Arbeitgeber. Dabei erstreckt sich die Darlegungs- und Beweislast auch auf die Widerlegung der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die der Arbeitnehmer substantiiert in das Kündigungsschutzverfahren einführt.

4. Für den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus, dass es der Beklagten nicht gelungen ist, eine Täuschungshandlung des Klägers mit der Vorlage der Bescheinigung vom 10.01.2022 zur Überzeugung des Gerichtes darzulegen und unter Beweis zu stellen.

Der Kläger hat am 28.01.2022 die Bescheinigung vom 10.01.2022 vorgelegt. Aus dieser Bescheinigung ergibt sich, dass nach Auffassung der bescheinigenden Ärztin eine Immunität gegen SARS-CoV-2 vorliegt. Aus der Bescheinigung ergibt sich ferner, dass der AK-Status am 16.11.2021 erhoben wurde. Schließlich ergibt sich aus der Bescheinigung, dass dieser Status mittels einer Laborbestimmung erfolgte. Der Gegenstand der Täuschung erschließt sich hieraus nicht. Die Ärztin bescheinigt damit, dass ihrer Beurteilung ein Laborbefund vom 16.11.2021 zugrunde liegt und sie aus diesem Laborbefund auf eine Immunität schließt, ohne den im Labor festgestellten Wert mitzuteilen. Es wird gerade nicht die Behauptung ausdrücklich oder stillschweigend aufgestellt, dass es sich dabei um einen offiziellen oder von den staatlichen Gesundheitsbehörden zur Verfügung gestellten Immunitätsnachweis handelt, der eine Art von Rechtsverbindlichkeit für sich in Anspruch nimmt.

Der Kläger hat auch selbst mit seiner E-Mail vom 05.02.2022 darauf hingewiesen, dass er Antikörper gegen SARS-CoV-2 besitzt und die Ärztin nur bescheinigt, dass aus ihrer Sicht nach Maßgabe von Veröffentlichungen des RKI und der StIKO eine Impfung oder Wiederholungsimpfung derzeit nicht geboten ist. Damit hält der Kläger keine Täuschung aufrecht oder täuscht erstmals.

Auch den der Bescheinigung zugrundeliegenden Laborbefund hat der Kläger der Beklagten noch vor Ausspruch der Kündigung mit Schreiben vom 16.02.2022 zukommen lassen. Dort ist für seine Person der Eingang einer Blutprobe bestätigt für den 11.11.2021 und eine Untersuchung der Blutprobe auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 mit einem Wert des Titers der Antikörper von 163.0.

Damit hat der Kläger das aus seiner Sicht Erforderliche, aber auch Ausreichende getan, um der Beklagten nachzuweisen im Sinne des Anschreibens der Beklagten vom 03.01.2022, dass er die Voraussetzungen nach § 20a IfSG erfüllt.

Die Beklagte macht in der Berufung geltend, dem Kläger hätte sich aufdrängen müssen, dass die Bescheinigung vom 10.01.2022 kein geeigneter Nachweis eines Genesenenstatus sei. Dem Gericht erschließt sich nicht, warum sich das dem Kläger hätte aufdrängen sollen. Er hat nach seinem Vorbringen eine Blutprobe nehmen lassen. Diese wurde befundet im Institut für Labordiagnostik, Mikrobiologie und Transfusionsmedizin in der Bu. Straße ... in B.. Dieses Institut wird nicht von der Beklagten getragen, wie die Beklagte unwidersprochen und damit seitens des Klägers unstreitig gestellt vorträgt. Die Belastbarkeit des Laborbefundes an sich stellt dies nicht in Frage. Der festgestellte Wert hat das Labor nach den Bemerkungen veranlasst, eine Meldung nach § 7 IfSG durchzuführen. Der Kläger hat diesen Befund der Ärztin nach seinem Vorbringen und von der Beklagten unbestritten und damit unstreitig gestellt übersandt. Dieser Laborbefund führte dann zur Bescheinigung der Ärztin vom 10.01.2022. Ob diese Bescheinigung ausreichend war nach den Vorgaben des IfSG, war dann von der Beklagten zu beurteilen, nicht vom Kläger.

Die Berufung macht geltend, die Ärztin könne nicht bestätigen, wann die Blutprobe genommen worden sei und ob der Genesenenstatus immer noch vorliege. Ersteres ist zutreffend, erlaubt aber nicht den Schluss, dass die Blutprobe nicht vom Kläger stamme oder zwar von ihm stamme, aber „veraltet“ sei. Letzteres ergibt sich ohne weiteres aus der Zusammenschau von Laborbefund vom 16.11.2021 und Bescheinigung vom 10.01.2022. Weder der Kläger noch die Ärztin in ihrer Bescheinigung machten entsprechendes geltend und haben insoweit auch nicht getäuscht. Die Ärztin weist insoweit in der Bescheinigung auf Veröffentlichungen von RKI und STIKO hin. Eine absichtliche oder unabsichtliche Täuschungshandlung des Klägers ergibt sich hieraus nicht.

Die Berufung macht geltend, es stünde nicht fest, dass die Blutprobe vom Kläger stamme. Der Kläger macht geltend, die Blutprobe stamme von ihm. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Kläger schon nicht sein eigenes Blut zur Befundung abgegeben hat, liegt bei der Beklagten. In Anbetracht des Laborbefundes vom 16.11.2021 besteht keine Veranlassung, hier von einem unzureichenden Vortrag des Klägers auszugehen im Hinblick auf eine sekundäre Darlegungslast.

Die Beklagte hatte schließlich vor Ausspruch der Kündigung ausreichend Zeit, der Frage der Belastbarkeit des Laborbefundes nachzugehen. Sie selbst ging von einer entsprechenden Frist zur Nachweisführung bis 15.03.2022 aus. Die Bescheinigung vom 10.01.2022 und der Laborbefund vom 16.11.2021 lagen ihr am 16.02.2022 vor. Die Frage des Verdachtes einer versuchten Täuschung durch den Kläger konnte hier ohne weiteres zügig weiter aufgeklärt werden. Ebenso konnte mit dem Kläger geklärt werden, dass die vorgelegte Bescheinigung aus Sicht der Beklagten ungenügend sei und ein weiterer Nachweis vom Kläger zu führen sei. Der Kläger hat sich dem auch nicht verweigert, sondern in seiner E-Mail vom 05.02.2022 Bereitschaft zu weiterer Klärung erkennbar gemacht.

Einer weitergehenden Vertiefung bedarf dies jedoch nicht, nachdem die Abgabe von Fremdblut als Täuschungshandlung schon nicht Gegenstand der Beteiligung des Personalrates war. Dort wird nur die Behauptung aufgestellt, die vorgelegte Immunitätsbescheinigung sei „inhaltlich unrichtig“ und der Kläger habe das Schreiben vorgelegt, „um eine nicht bestehende medizinische Kontraindikation bezüglich einer Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 vorzutäuschen“. Der Verdacht einer Täuschung durch Abgabe einer Fremdblutprobe findet hier keine Erwähnung.

5. Als wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB „an sich“ geeignet sind nicht nur erhebliche Pflichtverletzungen im Sinne von nachgewiesenen Taten. Auch der dringende, auf objektive Tatsachen gestützte Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Ein solcher Verdacht stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Es handelt sich nicht um eine „unterentwickelte Tatkündigung“, BAG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 AZR 426/18 –, Rn. 23. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Der Verdacht muss auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisende Tatsachen gestützt sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus, BAG, Urteil vom 25.10.2012 – 2 AZR 700/11 –, Rn. 14. Der Arbeitgeber ist gehalten, alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhaltes zu unternehmen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, BAG, Urteil vom 23.05.2013 – 2 AZR 102/12 –, Rn. 20.

6. Für den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus, dass die ausgesprochene Kündigung auch nicht auf den dringenden Verdacht eines Täuschungsversuches gestützt werden kann. Bei der abgegebenen Bescheinigung vom 10.01.2022 handelt es sich nicht um „ein allgemein gefasstes Schreiben, welches durch das Einsetzen Ihrer persönlichen Daten und durch abhaken einer vorgefertigten Begründung, den Anschein erwecken sollte, es handele sich um ein individuell erstelltes Gutachten“, wie es schon im Anhörungsschreiben vom 04.02.2022 behauptet und in der Beteiligung des Personalrates mit Schreiben vom 14.02.2022 wieder behauptet wurde. Dies war auch ohne weiteres aus der Bescheinigung erkennbar, die auf eine Laborbestimmung mit Erhebung des AK-Status vom 16.11.2021 konkret Bezug nahm. Mit dem am 16.02.2022 nachgereichten Laborbefund vom 16.11.2021 ist auch nicht der Versuch einer Täuschung erkennbar.

7. Auf die weiteren zwischen den Parteien streitigen Punkte – Kündigungserklärungsfrist, ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrates, Notwendigkeit der Beteiligung des Betriebsrates der Tochtergesellschaft – kommt es vor diesem Hintergrund nicht mehr an.

8. Die unwirksame außerordentliche Kündigung war auch nicht nach § 140 BGB umzudeuten in eine ordentliche Kündigung. Schon das Arbeitsgericht hat in seinen Entscheidungsgründen, dort Ziffer II. 6., ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich eine der Parteien darauf beruft. Die Beklagte hat auch im Berufungsverfahren keine Ausführungen zur Möglichkeit der Umdeutung gemacht. Eine Umdeutung von Amts wegen ohne entsprechende Anhaltspunkte scheidet aus.

9. Aufgrund des fortbestehenden Arbeitsverhältnisses steht dem Kläger auch der ausgeurteilte Weiterbeschäftigungsanspruch zu.

Die Beklagte hat in der Berufung dazu auch nicht gesondert vorgetragen.

Die Berufung der Beklagten war zurückzuweisen.

III. Die unterlegene Beklagte hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen nach § 97 Abs. 1 ZPO.

IV. Für die Zulassung der Revision besteht kein gesetzlich begründeter Anlass nach § 72 Abs. 1 und 2 ArbGG.

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