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Arbeitsrecht
21.09.2023
Arbeitsrecht
LAG Nürnberg: Streik – einstweilige Verfügung – Unterlassung – Streikziel – gemeinsamer Antrag auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung

LAG Nürnberg, Urteil vom 20.7.2023 – 3 SaGa 6/23

Volltext: BB-Online BBL2023-2228-4

 

Amtlicher Leitsatz

Das Streikziel, einen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien nach § 5 Abs. 1 TVG auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrags zu erreichen, ist jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig.

 

Sachverhalt

Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung begehrt die Verfügungsklägerin die Untersagung der Aufforderung zur Arbeitsniederlegung im Betrieb Schwabach ab sofort und für die Dauer der Gehaltstarifverhandlungen sowie die Androhung eines Ordnungsgeldes, ersatzweise Ordnungshaft für den Fall der Zuwiderhandlung.

Die Verfügungsklägerin ist ein Großunternehmen, deren Hauptsitz sich in^^HHB befindet. Der Betrieb in …gehört zu den in Nordbayern ansässigen und von der Verfügungsklägerin betriebenen Großhandelsbetrieben. Bei der Verfügungsklägerin sind insgesamt ca. 1.950 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt.

Die Verfügungsklägerin ist Mitglied im Arbeitgeberverband des Bayerischen Großhandels. Sie wendet für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Manteltarifvertrag (MTV) des Bayerischen Großhandels und den Gehaltstarifvertrag für den Bayerischen Großhandel bezüglich der in Nordbayern vorhandenen Betriebe an. Die Verfügungsbeklagte ist nach § 4 ihrer Satzung die zuständige Gewerkschaft im Handel.

Der Gehaltstarifvertrag ist ausgelaufen. Die Tarifvertragsparteien verhandeln aktuell über den Abschluss eines neuen Gehaltstarifvertrages. Eine Einigung kam bisher nicht zustande.

Mit Schreiben vom 14.03.2023 hat die Verfügungsbeklagte dem Landesverband Bayern Großhandel Außenhandel Dienstleistungen e.V. ihre Streikforderungen übermittelt.

Die Forderungen lauten:

1. Tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte um 13%,

2. Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 250 €,

3. Die Laufzeit der Tarifverträge muss 12 Monate betragen.

4. In einer gemeinsamen Initiative soll die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge erreicht werden

Im Rahmen der Verhandlungen wurden die Ziele bisher nicht erreicht. Die Verfügungsbeklagte hat zu Streikmaßnahmen im streitgegenständlichen Betrieb aufgerufen. Weitere Streikmaßnahmen finden in den Betrieben Gochsheim, Sachsen bei Ansbach, Marktredwitz sowie Striegistal statt. Insgesamt umfassten die Streikmaßnahmen im Zeitpunkt der Antragstellung 123 Tage.

Im Streikaufruf zum Streik im Zeitraum vom 04.07.2023, 16.00 Uhr – 08.07.2023, 13.00 Uhr heißt es bezüglich der Forderungen der Gewerkschaft wörtlich:

ver.di fordert für die Groß- und Außenhandelsbeschäftigten:

- Erhöhung Entgelte (QF W2) um 13%

- Erhöhung der Ausbildungsvergütung um 250 €,

- Laufzeit 12 Monate

Die Verfügungsklägerin wies die Verfügungsbeklagte mit Schreiben vom 05.07.2023 auf die Rechtswidrigkeit der Maßnahme hin und forderte sie auf, diese einzustellen.

Eine Reaktion der Verfügungsbeklagten erfolgte nicht.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im erstinstanzlichen Verfahren und der gestellten Anträge wird auf die tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

Das Erstgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Es hat es als Streikziel angesehen, dass in einer gemeinsamen Initiative die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarife erreicht werden solle. Es weist darauf hin, dass aus der Gesetzesbegründung zu § 5 Abs. 1 S. 1 TVG deutlich werde, dass es um eine zweiseitige Einschätzungsprärogative gehe, deren Ausübung der Gesetzgeber als materielle Sachentscheidungsvoraussetzung für die Einleitung des Verfahrens über die Allgemeinverbindlichkeit ansähe, wobei das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von Amts wegen nicht tätig werden dürfe. Es ist der Ansicht, dass diesem Erfordernis nicht genügt würde, könnte diese Erklärung durch (insbesondere wirtschaftlichen) Druck im Wege von Arbeitskampfmaßnahmen gegenüber einem Mitgliedsunternehmen im Arbeitgeberverband herbeigeführt werden.

Das Arbeitsgericht Nürnberg berücksichtigt die gesetzgeberische Wertentscheidung, dass bislang nicht von Tarifverträgen erfasste Arbeitsverhältnisse grundsätzlich (nur) auf zwei Wegen der Tarifbindung unterworfen werden könnten: Einerseits durch einen erstmaligen Abschluss eines (Firmen-) Tarifvertrages, welcher auch durch Arbeitskampfmaßnahmen der organisierten Arbeitnehmer gegenüber dem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber erzwungen werden kann; andererseits im Wege der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines bestehenden (und möglicherweise zuvor erstreikten) Tarifwerks nach § 5 Abs. 1 S. 1 TVG. Es leitet daraus ab, dass die beiden Ebenen – und damit der Adressat der Kampfmaßnahmen sowie der eigentliche Kampfgegner – unzulässig vermengt würden, könnte der tarifgebundene Arbeitgeber mit dem Ziel bestreikt werden, die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlichkeit herzustellen. Das Arbeitsgericht verkenne nicht, dass das Bundesarbeitsgericht im Bereich des sogenannten Unterstützungsstreiks Arbeitskampfmaßnahmen grundsätzlich dem Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG unterfallen lässt und nicht als von vornherein unzulässig erachtet, welche nicht unmittelbar auf (normative) Forderungen im Verhältnis zum bestreikten Arbeitgeber gerichtet sind. Die Einbeziehung von Personen, die von der eigentlichen Forderung nicht unmittelbar betroffen sind, seien dem Arbeitskampfrecht nicht fremd. Allerdings sei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit insbesondere die Nähe bzw. Ferne des Unterstützungsstreiks zu einem Hauptarbeitskampf zu beurteilen. Es ist der Ansicht, dass die tariflich nicht organisierten Unternehmer und deren Arbeitnehmer als „Hauptbetroffene“ angesehen werden können, zu deren (mittelbarer) Unterstützung der tarifgebundene Arbeitgeber bestreikt werde. Die Rechtswidrigkeit des genannten Streikzieles führe zur Rechtswidrigkeit des Arbeitskampfes. Für das Gericht sei es rechtlich und praktisch nicht möglich, die Bedeutung einer einzelnen Forderung im Verhältnis zu anderen Forderungen zu bewerten. Der Verfügungsanspruch sei hingegen nicht auf die Untersagung der Streiks insgesamt gerichtet, weshalb die Klage teilweise abzuweisen gewesen sei. Insbesondere sei der Streik nicht schon aufgrund seiner Dauer, seines Charakters als Warnstreik und seine wirtschaftlichen Auswirkungen als verhältnismäßig und damit rechtswidrig anzusehen. Der notwendige Verfügungsgrund liege vor, da die erforderliche Interessenabwägung zugunsten der wirtschaftlichen Nachteile der Verfügungsklägerin ausgehe. Demgegenüber werde der Verfügungsbeklagten lediglich Arbeitskampfmaßnahmen im Hinblick auf eines von mehreren Streikzielen untersagt.

Das Urteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 13.07.2023 ist der Verfügungsbeklagten am 14.07.2023 zugestellt worden.

Die Berufungsschrift vom 14.07.2023 mit gleichzeitiger Begründung ist beim Landesarbeitsgericht Nürnberg am 14.07.2023 eingegangen.

Die Anschlussberufung mit gleichzeitiger Begründung vom 18.07.2023 ist beim Landesarbeitsgericht Nürnberg am 18.07.2023 eingegangen.

Die Berufungsbegründungsschrift ist der Verfügungsklägerin am 14.07.2023 zugestellt worden.

Die Verfügungsbeklagte wendet sich gegen die erstinstanzliche Entscheidung und macht geltend, dass das Ziel der gemeinsamen Antragstellung auf Allgemeinverbindlicherklärung tariflich regelbar sei. Die Gesetzesbegründung beziehe sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und wolle die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen. Das Arbeitsgericht mache in unzulässiger Weise aus dieser Abstützungsfunktion der tariflichen Ordnung ein Vetorecht, das aber mit Wortlaut und Zweck der Regelung, deren Entstehungsgeschichte und Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren sei. Auch obligatorische Bestimmungen in einem Tarifvertrag seien erstreikbar, wenn sie sich auf Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG erstreckten. Im obligatorischen Teil könnten andere Gegenstände als im normativen Teil geregelt werden und wären damit zulässige Streikziele. Auch die gemeinsame Erklärung könne erstreikt werden, aus § 5 Abs. 1 TVG bestünden keine Einwände. Die Regelung gewähre kein Vetorecht, die rechtliche Freiwilligkeit bleibe erhalten. Die angestrebte Regelung überschreite auch nicht die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Der gemeinsame Antrag führe nicht automatisch zur Allgemeinverbindlicherklärung, diese komme nur dann zustande, wenn der paritätisch besetzte Tarifausschuss zustimme. Gewerkschaften könnten auch Arbeitsbedingungen von Nichtmitgliedern vertreten. In den Tarifverhandlungen dürften die Wünsche und Interessen der OTMitglieder keine Rolle spielen. Weil der Erlass einer einstweiligen Verfügung zum endgültigen Rechtsverlust führe, sei ein Verbot des Streiks nur dann möglich, wenn dieser offensichtlich rechtswidrig sei.

Die Verfügungsbeklagte, Berufungsklägerin und Anschlussberufungsbeklagte stellt folgende Anträge:

I. Das Urteil des ArbG Nürnberg vom 13.7.2023, Az. 3 Ga 24/23 wird abgeändert.

II. Die Anträge werden zurückgewiesen.

III. Die Anschlussberufung der Verfügungsklägerin, Berufungsbe klagten und Arbeitgeberin wird zurückgewiesen.

Die Verfügungsklägerin, Berufungsbeklagte und Anschlussberufungsklägerin beantragt,

I. Die Berufung der Verfügungsbeklagten zurückgewiesen.

II. Unter Abänderung des Endurteils des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 13. Juli 2023,3 Ga 24/23 wird der Beklagten untersagt, ab sofort und für die Dauer der Entgelttarifverhandlungen bezüglich des Entgelttarifvertrages im Bayerischen Großhandel Arbeitnehmer der Klägerin m Betrieb zur Arbeitsniederlegung aufzufordern.

III. Der Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungsverpflichtung gemäß vorstehender Ziffer ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten angedroht.

Zu Recht habe das Arbeitsgericht festgestellt, dass das nach wie vor verfolgte Streikziel der Abgabe einer gemeinsamen Erklärung zur Erreichung der Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages als unmittelbare Streikziel zu berücksichtigen sei, das jedoch rechtswidrig sei. Die Verfügungsklägerin macht geltend, dass die Verfügungsbeklagte mit dem Schreiben vom 14.03.2023 ihre Streikziele unmissverständlich dargelegt habe. In jedem einzelnen Streikaufruf sei vermerkt, das Ziel sei eine akzeptable Tarifeinigung auf Grundlage der ver.di-Forderungen. Die Forderung nach einer einvernehmlichen Erklärung im Hinblick auf die Allgemeinverbindlichkeit sei damit Gegenstand eines jeden einzelnen Streikaufrufs geworden. Aus dem Gesetzeswortlaut und der Geschichte der gesetzlichen Regelung ergebe sich der eindeutige Wille des Gesetzgebers, dass das Verfahren eingeleitet werde, wenn eine übereinstimmende Erklärung von beiden Tarifvertragsparteien existiere, wobei dieser Antrag freiwillig und unbeeinflusst erfolgen sein müsse. Auch das Verfassungsgericht habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass keine der Tarifvertragsparteien einen Anspruch darauf habe, dass ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich erklärt werde. Wenn ein solcher Anspruch nicht existiere, scheide erst recht ein Vorgehen dahingehend aus, mit dem eine Tarifvertragspartei ihren Willen auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung der anderen auferlege bzw. Streikmaßnahmen erwirke. Es sei nicht erforderlich, dass das Streikziel offensichtlich rechtswidrig sei. Jede Rechtsfrage könne und müsse auch im einstweiligen Verfügungsverfahren geklärt werden. Derzeit bestehe keine tarifliche Regelung, die als allgemeinverbindlich erklärt werden könnte. Darüber hinaus sei der Umfang, in welchem der Betrieb der Verfügungsklägerin bestreikt würde, unzulässig. Bei der Verfügungsklägerin sei zwischenzeitlich ein Schaden von mehr als 10 Millionen Euro eingetreten. Andere Mitglieder des Arbeitgeberverbands seien deutlich weniger bestreikt worden, einige überhaupt nicht. Dies führe zur Unverhältnismäßigkeit der Streikmaßnahme. Nicht erst die Existenzgefährdung des Betriebes begründe die Unverhältnismäßigkeit. Die Vorgaben aus der Satzung, insbesondere das Erfordernis der Urabstimmung seien nicht berücksichtigt worden. Daher sei der Streik insgesamt zu untersagen, die Anschlussberufung sei begründet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den gesamten Inhalt der gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Aus den Gründen

I.

Die Berufung der Verfügungsbeklagten ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden, §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO. Auch die Anschlussberufung ist zulässig.

II.

Die Berufung der Verfügungsbeklagten hat Erfolg, das Ersturteil war insoweit abzuändern und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung war abzuweisen. Deshalb bleibt die Anschlussberufung erfolglos.

Der Unterlassungsantrag ist unbegründet.

a) An den Erlass einer einstweiligen Verfügung, die auf die Untersagung eines Streiks gerichtet ist, sind bestimmte Anforderungen zu stellen.

aa) Ein Antrag auf Unterlassung einer Streikmaßnahme erfordert im einstweiligen Verfügungsverfahren einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung kommt, wie sich mittelbar aus § 62 Abs. 2 ArbGG ergibt, auch im Bereich des Arbeitskampfes in Betracht (allg. Ansicht, vergleiche hierzu und im Folgenden: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 9. September 2015 – 9 SaGa 1082/15 Rn. 67-112, juris).

Für den heranzuziehenden Prüfungsmaßstab ist zu beachten, dass eine Unterlassungsverfügung, die auf den Abbruch eines laufenden oder unmittelbar bevorstehenden Streiks gerichtet ist, einer Befriedigungsverfügung gleichkommt. Sie nimmt die Hauptsache regelmäßig vorweg. Deshalb ist an den Erlass einer solchen einstweiligen Verfügung ein strenger Maßstab anzulegen. Umgekehrt gilt aber auch, dass die einstweilige Verfügung umso eher zu erlassen ist, je offensichtlicher die Rechtswidrigkeit der Maßnahme ist (vgl. Prütting in Schwab/Weth, ArbGG, 3. AufL, § 62 Rn. 171).

Mit Blick auf die besondere Bedeutung des Streikrechts (Art. 9 Abs. 3 GG) sowie die mit einem Arbeitskampfgeschehen verbundenen oftmals schwierigen und komplexen Fragestellungen wird nach überwiegend vertretener Auffassung verlangt, die Streikmaßnahme müsse offensichtlich rechtswidrig sein (LAG BaWü 3.8.2016, 4 SaGa 2/16, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 107; LAG BaWü 24.2.2016, 2 SaGa 1/15, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 103 = ZTR 2016, 527; LAG Sachsen 2.11.2007, 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59 Ls. 1; ähnlich ErfK/Linsenmaier 23. AufL Art. 9 GG Rn. 228), während die Gegenmeinung es ausreichen lässt, dass die Streikmaßnahme (lediglich) rechtswidrig sei (vgl. GMP/Schleusener, ArbGG, 10. AufL, § 62 Rn. 113; Korinth Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren, 5. AufL Rn. J.20).

bb) Eine Streikmaßnahme kann im einstweiligen Verfügungsverfahren nur dann untersagt werden, wenn sie rechtswidrig ist und dies glaubhaft gemacht ist. Die beantragte Untersagungsverfügung muss zum Schutz des Rechtes am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs. 1 BGB) und zur Abwendung drohender wesentlicher Nachteile geboten und erforderlich sein. Besteht ein Verfügungsanspruch, hat zur Prüfung, ob eine auf Unterlassung eines Arbeitskampfes gerichtete einstweilige Verfügung im Sinne des § 940 ZPO zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, eine Interessenabwägung stattzufinden, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell-rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind (vgl. Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 9. September 2015 – 9 SaGa 1082/15 a.a.O., m.w.N.).

cc) Der Anspruch auf Unterlassung einer Streikmaßnahme folgt grundsätzlich aus den §§ 1004, 823 BGB i.V.m. Art. 14 GG. Das Recht des Betriebsinhabers am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist nach § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB deliktisch geschützt (vgl. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 21, NJW 2010, 631). Es ist auf die ungestörte Betätigung und Entfaltung des von dem Betriebsinhaber geführten Betriebs gerichtet und umfasst alles, was in seiner Gesamtheit den wirtschaftlichen Wert des Betriebs als bestehende Einheit ausmacht. Es handelt sich bei dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb um einen „offenen Tatbestand“, dessen Inhalt und Grenzen sich erst aus einer Interessen- und Güterabwägung mit der im Einzelfall konkret kollidierenden Interessenssphäre ergeben (vgl. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 23, NJW 2010, 631). Bei einem Streik ist in der Regel auch die Koalitionsbetätigungsfreiheit des Streikgegners tangiert, der sich seinerseits auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen kann (vgl. BAG 19. Juni 2007 – 1 AZR 396/06 – Rn. 15, NZA2007, 1055).

Nicht rechtswidrig sind Eingriffe in den Gewerbebetrieb, wenn sie als Arbeitskampfmaßnahmen zulässig sind (vgl. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 23, NJW 2010, 631). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts schützt das Doppelgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG zum einen den Einzelnen in seiner Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten oder sie zu verlassen. Geschützt ist zum anderen auch die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen (BVerfG 6. Februar 2007 – 1 BvR 978/05 – zu II 2 a der Gründe, NZA 2007, 394; BAG 19. Juni 2007 – 1 AZR 396/06 – Rn. 11 NZA 2007, 1055).

Das Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht uneingeschränkt gewährt. Es kann insbesondere durch andere verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter eingeschränkt werden. Im jeden Fall bedarf es eines verhältnismäßigen Ausgleichs (sog. praktische Konkordanz) beider geschützten Interessen (vgl. BVerfG 26. Juni 1991 – 1 BvR 779/85 – zu C I 1 a der Gründe, BVerfGE 84, 212). Zentraler Maßstab für die Beurteilung der Rechtsmäßigkeit eines Streiks ist mithin der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BAG 19. Juni 2007 – 1 AZR 396/06 – Rn. 22, NZA 2007, 1055).

b) Nach diesen Grundsätzen ergibt sich, dass der Arbeitskampf jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig ist.

aa) Der Arbeitskampf muss um ein tariflich regelbares Ziel geführt werden.

Die Verfügungsbeklagte verfolgt bei dem Streik auch das Ziel, durch gemeinsame Erklärung die Allgemeinverbindlicherklärung herbeizuführen. Dies steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der Formulierung im Schreiben vom 14.03.2023 fest. Demnach soll „in einer gemeinsamen Initiative (soll) die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge erreicht werden“. Die einzelnen Streikaufrufe nehmen Bezug auf diese ver.di-Forderung.

(1) Arbeitskämpfe sind nur rechtmäßig, wenn sie um ein tariflich regelbares Ziel geführt werden (vgl. BAG 24. April 2007 – 1 AZR 252/06 – Rn. 80, NZA 2007, 987; BAG 10. Dezember 2002 – 1 AZR 96/02 – zu I 3 a der Gründe, NZA 2003, 734). Dies folgt aus der Hilfsfunktion des Arbeitskampfes zur Sicherung der Tarifautonomie (vgl. dazu grundlegend BAG GS 21. April 1971 – GS 1/68 – BAGE 23, 292; vgl. auch BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. [33,] NJW2010, 631). Der Arbeitskampf dient lediglich dazu, einer Tarifforderung Nachdruck zu verleihen, um den Gegner zu einem Tarifabschluss zu bewegen. Auch in der Wissenschaft wird ganz überwiegend gefordert, dass der Arbeitskampf nur um ein tariflich regelbares Ziel geführt werden dürfe (vgl. Otto Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht § 5 Rn. 6; ErfK/Linsenmaier, 23. Aufl., Art. 9 GG Rn. 114).

(a) Unter Umständen kann der Bereich des tariflich Regelbaren weit zu fassen sein (vgl. Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 9. September 2015 – 9 SaGa 1082/15 –, a.a.O., m.w.N.). Nach der Rechtsprechung ist es etwa möglich, einen Firmentarifvertrag zu erstreiken, mit dem die mit einer Betriebsänderung verbundenen Nachteile ausgeglichen oder abgemildert werden sollen (vgl. zum Tarifsozialplan BAG 24. April 2007 – 1 AZR 252/06 – Rn. 79 ff., NZA 2007, 987). Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht anerkannt, dass zumindest Abfindungs- und Kündigungsfristen im Zusammenhang mit Betriebsänderungen tariflich regelbare Ziele sind. Nicht zulässig ist es grundsätzlich aber, dass sich die Gewerkschaft gegen die Umsetzung der unternehmerischen Maßnahme als solche wendet (vgl. ErfK/Linsenmaier, 23. Aufl., Art. 9 GG Rn. 116).

In der Wissenschaft wird im Ansatz zutreffend darauf hingewiesen, dass es eine Frage der wertenden Betrachtung und des Ausgleichs widerstreitender Grundrechtspositionen sei (nämlich Art. 12 und Art. 9 Abs. 3 GG), zu entscheiden, welche Bereiche unternehmerischer Betätigung, die sich zugleich als Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen darstellen, aus dem Bereich des durch Arbeitskampf Erkämpfbaren herauszunehmen sind (vgl. ErfK/Linsenmaier, 23. Aufl., Art. 9 GG Rn. 116).

(b) Zwischen dem, was freiwillig ausgehandelt werden kann und dem, was durch Arbeitskampf erstritten werden kann, ist zu trennen. Es ist zu berücksichtigen, dass im Laufe von Verhandlungen durchaus verschiedene Forderungen wechselseitig aufgestellt werden können. Es schadet dabei auch grundsätzlich nicht, Forderungen aufzustellen, die in die Unternehmerfreiheit eingreifen (vgl. Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 9. September 2015-9 SaGa 1082/15 a.a.O., m.w.N.). Auf freiwilliger Basis ist es der Arbeitgeberseite stets möglich und zumutbar, auch solche Zugeständnisse zu machen – z.B. im Sinne einer schuldrechtlichen Selbstbindung die an sich in einem Tarifvertrag nicht geregelt werden können. Im Sinne möglichst offener Verhandlungen können daher die verschiedensten Positionen auch in Abhängigkeit zueinander gebracht und Zugeständnisse von verschiedenen Voraussetzungen in anderen Themenbereichen abhängig gemacht werden. Ein Koppelungsverbot gilt bei Tarifverhandlungen grundsätzlich nicht (vgl. Löwisch/Rieble TVG 3. Grundl. Rn. 165).

Von der Frage, was zum Gegenstand von Verhandlungen erhoben werden kann, ist allerdings stets die Frage zu trennen, was durch Arbeitskampf erzwungen werden kann (vgl. Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 9. September 2015 – 9 SaGa 1082/15 a.a.O., m.w.N.). Beide Bereiche sind nicht vollkommen deckungsgleich. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, was zum Gegenstand des Arbeitskampfes gemacht werden kann.

bb) Das Streikziel „Erreichen der Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge in einer gemeinsamen Initiative“ ist demnach ein mögliches Verhandlungsziel. Es ist jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig, es zu erstreiken. Das erkennende Gericht schließt sich der (wohl herrschenden, vgl. oben a) aa)) Ansicht an, dass nur ein offensichtlich rechtswidriger Streik durch eine einstweilige Verfügung untersagt werden kann.

(1) Nach § 1 Abs. 1 TVG regelt der Tarifvertrag „die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können.“ Im obligatorischen Teil des Tarifvertrages können auch andere Gegenstände als im normativen Teil geregelt werden. Diese müssen sich im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG bewegen (ErfK-Linsenmaier, a.a.O., Rn. 55)

(2) Es ist grundsätzlich möglich, auch obligatorische Tarifnormen, die sich im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG bewegen, zu erstreiken. Auch im streikrechtlichen Zusammenhang handelt es sich bei den Rechten und Pflichten der Tarifvertragsparteien, die ein Tarifvertrag nach § 1 Abs. 1 1. Alt. TVG enthält, um tarifvertraglich regelbare Ziele, die als solche auch erstreikbar sind (BAG, Urteil vom 20. November 2018 – 1 AZR 189/17 –, BAGE 164, 187-200, Rn. 28). Beim Streik gibt es keine zwingende Bindung an die Normtypik des Tarifvertragsgesetzes. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG geht darüber hinaus. Deshalb ist auch ein Arbeitskampf zur Durchsetzung schuldrechtlicher Kollektivverträge legitim (Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, Kommentar, 10. Aufl., Köln 2022, Art. 9 GG Rn. 280; ErfK-Linsenmaier, a.a.O., Rn. 114).

(3) Auch ein Verstoß gegen die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit ist durch die Erzwingung der gemeinsamen Antragstellung nicht erkennbar. Allein die Antragstellung führt noch nicht zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung, sondern setzt zunächst ein eigenständiges Verfahren in Gang. Die möglicherweise erfolgende Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch Entscheidung des Bundesministeriums erfolgt dann aber aufgrund der gesetzlichen Regelung und nicht aufgrund der Erzwingung durch die Gewerkschaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die negative Koalitionsfreiheit nicht berührt, wenn die Tarifwirkung im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung auf Außenseiter erstreckt wird (BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 1980- 1 BvR 24/74 BVerfGE 55, 7-28).

(4) Auch aus § 5 Abs. 1 TVG lässt sich die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Streikzieles nicht herleiten. Zwar wäre ein Streik rechtswidrig, der unmittelbar auf die Allgemeinverbindlicherklärung durch das Ministerium für Arbeit und Soziales selbst gerichtet wäre. Die Verfügungsbeklagte versucht aber lediglich die Voraussetzung zur Eröffnung des Verfahrens, das mit einer Entscheidung des Ministeriums für Arbeit und Soziales endet, zu erstreiken.

Aus § 5 Abs. 1 TVG lässt sich jedenfalls nicht zweifelsfrei entnehmen, dass die unbeeinflusste Bildung des Willens der Tarifvertragsparteien zur Antragstellung so geschützt ist, dass ein Streik für eine tarifvertragliche Verpflichtung zur Antragstellung ausgeschlossen ist. Zwar heißt es bei Löwisch/Rieble (Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl., München 2017, § 5 Rn. 258): „Das im Antragsrecht liegende Vetorecht darf nicht durch Arbeitskampf gebeugt werden.“ Diese Ansicht wird, soweit ersichtlich, nur von Löwisch/Rieble und hier vom Arbeitsgericht Nürnberg vertreten.

Das Arbeitsgericht Nürnberg weist darauf hin, dass aus der Gesetzesbegründung deutlich werde, dass es um eine zweiseitige Einschätzungsprärogative gehe, deren Ausübung der Gesetzgeber als materielle Sachentscheidungsvoraussetzung für die Einleitung des Verfahrens über die Allgemeinverbindlichkeit ansähe, wobei das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von Amts wegen nicht tätig werden dürfe. Es ist der Ansicht, dass diesem Erfordernis nicht genügt würde, könnte diese Erklärung durch (insbesondere wirtschaftlichen) Druck im Wege von Arbeitskampfmaßnahmen gegenüber einem Mitgliedsunternehmen im Arbeitgeberverband herbeigeführt werden.

Das Arbeitsgericht Nürnberg berücksichtigt mit beachtlichen Gründen die gesetzgeberische Wertentscheidung, dass bislang nicht von Tarifverträgen erfasste Arbeitsverhältnisse grundsätzlich (nur) auf zwei Wegen der Tarifbindung unterworfen werden könnten: Einerseits durch einen erstmaligen Abschluss eines (Firmen-) Tarifvertrages, welcher auch durch Arbeitskampfmaßnahmen der organisierten Arbeitnehmer gegenüber dem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber erzwungen werden kann; andererseits im Wege der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines bestehenden (und möglicherweise zuvor erstreikten) Tarifwerks nach § 5 Abs. 1 S. 1 TVG. Es leitet daraus ab, dass die beiden Ebenen – und damit der Adressat der Kampfmaßnahmen sowie der eigentliche Kampfgegner – unzulässig vermengt würden, könnte der tarifgebundene Arbeitgeber mit dem Ziel bestreikt werden, die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlichkeit herzustellen. Das Arbeitsgericht verkenne nicht, dass das Bundesarbeitsgericht im Bereich des sogenannten Unterstützungsstreiks Arbeitskampfmaßnahmen grundsätzlich dem Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG unterfallen lässt und nicht als von vornherein unzulässig erachtet, welche nicht unmittelbar auf (normative) Forderungen im Verhältnis zum bestreikten Arbeitgeber gerichtet sind. Die Einbeziehung von Personen, die von der eigentlichen Forderung nicht unmittelbar betroffen sind, seien dem Arbeitskampfrecht nicht fremd. Allerdings sei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit insbesondere die Nähe bzw. Ferne des Unterstützungsstreiks zu einem Hauptarbeitskampf zu beurteilen. Es ist der Ansicht, dass die tariflich nicht organisierten Unternehmer und deren Arbeitnehmer als „Hauptbetroffene“ angesehen werden können, zu deren (mittelbarer) Unterstützung der tarifgebundene Arbeitgeber bestreikt werde.

Diese Überlegungen führen aber nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Streikmaßnahme.

Die Annahme eines nicht durch Streik zu beeinflussenden Vetorechts ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen. Auch aus der Geschichte der Norm kann dieses nicht entnommen werden. Aus der Begründung in BT Drs. 18/1558, 48 (unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ergibt sich, dass der Normgeber mit der antragsabhängigen Allgemeinverbindlicherklärung ein Instrument schaffen wollte, das die von Art. 9 Abs. 3 intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen soll, indem sie den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhilft. Der Begründung ist demgegenüber nicht zu entnehmen, dass Arbeitgeber davor geschützt werden sollten, von Tarifverträgen nicht erfasst zu werden.

Auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.01.2020 (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10. Januar 2020 – 1 BvR 4/17 juris), ergibt sich – entgegen der Ansicht der Verfügungsklägerin – nicht die Unzulässigkeit des Streikzieles. Zu Recht verneint das Verfassungsgericht dort einen Anspruch der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG auf eine Allgemeinverbindlicherklärung mit dem Hinweis darauf, dass sich die grundgesetzlich gewährleistete Normsetzungsbefugnis der Koalitionen grundsätzlich nur auf die Mitglieder der tarifschließenden Parteien bezieht. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass das Streikziel der Verfügungsbeklagten rechtswidrig sei. Denn diese begehrt nur die Einleitung des Verfahrens, nicht die Allgemeinverbindlicherklärung an sich. Diese Entscheidung bleibt dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales Vorbehalten, vergleiche (3). Der Orientierungssatz 1a des genannten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts stellt ausdrücklich klar, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen auch Tarifverträge ermöglicht, die von vorneherein darauf zielen, Außenseiter einzubeziehen.

Zu Recht weist die Verfügungsbeklagte darauf hin, dass jede Entscheidung, die die Arbeitgeberseite in Tarifverhandlungen trifft, in der Regel eine rechtlich freiwillige ist. Der Streik ist allerdings gerade dazu bestimmt, auf die Willensbildung des Arbeitgebers einzuwirken. Dennoch bleibt die rechtliche Freiheit, den Antrag zu stellen oder nicht zu stellen ebenso erhalten, wie die Freiheit, das Entgelt zu erhöhen. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die die freie, unbeeinflusste Willensbildung im Falle des § 5 Abs. 1 TVG schützt, existiert nicht.

Damit stellt sich die Rechtsfrage, ob die gemeinsame Erklärung nach § 5 Abs. 1 TVG durch Streikmaßnahmen erzwungen werden kann, für das Berufungsgericht als offen dar. Die Mehrzahl der Landesarbeitsgerichte hat sich dafür entschieden, ein Streikverbot durch einstweilige Verfügung nur dann zu erlassen, wenn die Arbeitsniederlegung „offensichtlich“ rechtswidrig ist, vgl. oben. Das erkennende Gericht schließt sich dieser Ansicht an, da bei einem Verbot des Streiks auf Arbeitnehmerseite ein definitiver Grundrechtsverlust droht, weil der Streik später in aller Regel nicht mehr nachgeholt werden kann. Deshalb, aber vor allem auch wegen der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Arbeitskampfes ist große Zurückhaltung beim Erlass von einstweiligen Verfügungen angebracht (ErfK-Linsenmaier, Art. 9 Rn. 228). Daher kann der Streik nicht wegen der streitigen Frage, ob § 5 Abs. 1 TVG die unbeeinflusste Willensbildung des Arbeitgebers zugrunde legt, untersagt werden. Auf die gleichlautenden Entscheidungen der Arbeitsgerichte Köln (Urteil vom 06.06.2023, Az. 17 Ga 27/23) und Stuttgart (Beschluss vom 09.06.2023, Az. 15 Ga 41/23) wird ergänzend hingewiesen.

cc) Ein Verstoß des Streiks gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist ebenfalls nicht gegeben.

Die Verfügungsklägerin hat vorgebracht, es sei unverhältnismäßig, dass ihre Betriebe in Nordbayern besonders stark bestreikt würden. Der Streik gehe bereits über 4 Wochen und das Streikziel der Verfügungsbeklagten, die Einbeziehung von Firmen ohne ausreichende Gewerkschaftsvertretung, sei bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.

Das Berufungsgericht verkennt nicht, dass der Streik eine erhebliche wirtschaftliche Belastung für die Verfügungsklägerin darstellt. Soweit die Verfügungsbeklagte anderer Ansicht ist, ist dem entgegenzuhalten, dass hier nicht der Umsatz oder die Belastung des Konzerns maßgebend ist, sondern die Auswirkungen auf die Verfügungsklägerin selbst.

Das Gericht sieht aber in den bisherigen Streikmaßnahmen keine übermäßige wirtschaftliche Schädigung der Verfügungsklägerin auch unter Berücksichtigung der Streikziele. Arbeitskampfmaßnahmen sind nicht erst dann zulässig, wenn das Scheitern der Tarifvertragsverhandlungen „offiziell“ erklärt oder festgestellt worden ist (BAG, Urteil vom 21. Juni 1988- 1 AZR 651/86 BAGE 58, 364-394).

Die Dauer sogenannter Warnstreiks oder auch sonstiger Streiks ist rechtlich nicht begrenzt. Wegen der Freiheit der Kampfmittelwahl ist den Gewerkschaften hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit grundsätzlich eine Einschätzungsprärogativezuzubilligen (ErfK-Linsenmeier a.a.O., Rn. 130a). Bei der Angemessenheit geht es um eine Wertungsfrage, bei der die kollidierenden Grundrechtspositionen und der Grad ihrer Beeinträchtigung gewichtet und gegen die Bedürfnisse kollektiver Koalitionsbetätigung abgewogen werden müssen. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht das Vernichtungsverbot. Arbeitskämpfe dürfen nicht auf die Existenzvernichtung der Gegenseite abzielen; vielmehr muss die Arbeit nach Beendigung des Arbeitskampfs fortgeführt werden können. Die Parteien des Arbeitskampfs dürfen zwar versuchen, durch verursachen wirtschaftlicher Schäden die Gegenseite zum möglichst raschen Abschluss eines Tarifvertrages zu bewegen, sie dürfen aber von diesem Recht nicht objektiv zweckwidrig und rücksichtslos Gebrauch machen (ErfK-Linsenmeier a.a.O., Rn. 131).

Bei Anwenden dieser Grundsätze kann das erkennende Gericht noch keine Unverhältnismäßigkeit des Arbeitskampfes erkennen. Dass die Verfügungsbeklagte gerade Betriebe der Verfügungsklägerin bestreikt, ist durch die Freiheit der Kampfmittelwahl gedeckt. Anhaltspunkte dafür, dass der Streik auf die Existenzvernichtung der Verfügungsklägerin abzielt, liegen nicht vor. Die Abwägung im einstweiligen Verfügungsverfahren geht zugunsten der kollektiven Koalitionsbetätigung, Schadensersatzansprüche bleiben einem Hauptsacheverfahren Vorbehalten.

dd) Weitere durchgreifende Anhaltspunkte für die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Streiks liegen nicht vor.

Damit war auf die Berufung der Verfügungsbeklagten die Entscheidung des Arbeitsgerichts abzuändern und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abzuweisen.

Die Anschlussberufung der Verfügungsklägerin war deshalb zurückzuweisen.

III.

1. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.

2. Die Revision ist nach § 72 Abs. 4 ArbGG nicht zulässig. Damit ist diese Entscheidung unanfechtbar.

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