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Arbeitsrecht
20.03.2025
Arbeitsrecht
BAG: Schwerbehindertenvertretung – Werkstattbeschäftigte – Wahlberechtigung

BAG, Beschluss vom 23.10.2024 – 7 ABR 36/23

ECLI:DE:BAG:2024:231024.B.7ABR36.23.0

Volltext: BB-Online BBL2025-756-1

 

Leitsatz

Schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte sind bei der Wahl der Schwerbehindertenvertretung wahlberechtigt.

Aus den Gründen

1          A. Die Beteiligten streiten in der Rechtsbeschwerdeinstanz noch über die Wirksamkeit der am 18. November 2022 durchgeführten Wahlen der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen sowie der stellvertretenden Mitglieder.

 

2          Die zu 1. und 2. beteiligten Antragsteller sind bei dem zu 6. beteiligten Arbeitgeber beschäftigte schwerbehinderte Menschen; die zu 3. beteiligte Antragstellerin – gleichfalls schwerbehinderter Mensch – ist mit Ablauf des 31. Dezember 2022 aus dem Betrieb ausgeschieden. Der Arbeitgeber betreibt ambulante Dienste, teilstationäre Einrichtungen sowie Wohnstätten und erbringt Leistungen zur beruflichen Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben. Er beschäftigt ca. 850 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; ca. 200 bis 300 Menschen mit Behinderung erhalten nach §§ 57, 58 SGB IX Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich sowie im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen iSv. §§ 219 ff. SGB IX. Von diesen sog. Werkstattbeschäftigten sind nach der schätzweisen Berechnung des Landesarbeitsgerichts ca. 150 als schwerbehinderte Menschen anerkannt. Ein besonderer Vertreter iSd. § 52 Satz 2 SGB IX ist nicht gewählt.

 

3          Mit Wahlausschreiben vom 6. Oktober 2022 leitete der hierfür bestellte Wahlvorstand, dessen Vorsitzender der zu 2. beteiligte Antragsteller war, die Wahlen der Schwerbehindertenvertretung (Vertrauensperson und stellvertretender Mitglieder) ein. Die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten waren nicht in der Wählerliste aufgeführt. Die hiergegen gerichteten schriftlichen Einsprüche der Antragsteller wies der Wahlvorstand am 12. Oktober 2022 zurück, wobei an der Entscheidung der zu 2. beteiligte Antragsteller nicht mitwirkte. Bei den am 18. November 2022 durchgeführten Wahlen wurde der zu 2. beteiligte Antragsteller – als einziger Kandidat – mit 42 Stimmen zur Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen gewählt, der Beteiligte zu 5. mit 26 Stimmen zum ersten, die zu 3. beteiligte Antragstellerin mit 22 Stimmen zum zweiten und der zu 1. beteiligte Antragsteller mit neun Stimmen zum dritten stellvertretenden Mitglied. Die Wahlergebnisse wurden am 22. November 2022 bekannt gemacht.

 

4          Mit ihrer am 1. Dezember 2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antragsschrift haben die Antragsteller – soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren noch von Interesse – die Wahlen angefochten. Sie halten diese für unwirksam, weil die (nicht in die Wählerliste aufgenommenen) schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten nach § 177 Abs. 2 SGB IX wahlberechtigt seien.

 

5          Die Antragsteller haben zuletzt beantragt,

die Wahl der Schwerbehindertenvertretung (Vertrauensperson, 1. und 2. stellvertretende Mitglieder) im Betrieb des Vereins H vom 18. November 2022 für unwirksam zu erklären,

hilfsweise,

die Wahl der Vertrauensperson im Verein H, Herrn R S, vom 18. November 2022 für unwirksam zu erklären

und die Wahl des H H vom 18. November 2022 zum stellvertretenden Mitglied und die Wahl des R J vom 18. November 2022 zum 2. stellvertretenden Mitglied der Schwerbehindertenvertretung des Vereins H für unwirksam zu erklären.

 

6          Der Arbeitgeber hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Er hält die Wahlen für wirksam. Die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten bildeten keinen Teil des „Betriebs“ iSv. §§ 177 f. SGB IX, für den eine Schwerbehindertenvertretung zu wählen sei. Auch seien sie bereits durch den Werkstattrat vertreten. Bei diesem handele es sich um die im Verhältnis zur Schwerbehindertenvertretung speziellere Vertretung, denn er vertrete ausschließlich und abschließend die Interessen der in den Werkstätten tätigen (schwer-)behinderten Menschen. Dies werde auch dadurch belegt, dass die Aufgaben des Werkstattrats und der Schwerbehindertenvertretung weitgehend identisch seien bzw. dem Werkstattrat sogar weitergehende Kompetenzen als der Schwerbehindertenvertretung zukämen. Hierdurch würden auch Konflikte mit den Interessen derjenigen in der Werkstatt beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmer, die gegenüber den Werkstattbeschäftigten Vorgesetztenfunktionen wahrnähmen, vermieden.

 

7          Die Vorinstanzen haben dem Hauptantrag stattgegeben. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Arbeitgeber seinen Abweisungsantrag weiter. Die Beteiligten zu 4. und zu 5. haben – ebenso wie in den Vorinstanzen – keine Anträge gestellt.

 

8          B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben dem Wahlanfechtungsantrag zu Recht stattgegeben.

 

9          I. Mit dem zuletzt gestellten Hauptantrag, die Wahl der Schwerbehindertenvertretung (Vertrauensperson, 1. und 2. stellvertretende Mitglieder) im Betrieb des Vereins H vom 18. November 2022 für unwirksam zu erklären, haben die Antragsteller sowohl die Wahl der Vertrauensperson als auch die Wahl der (verbliebenen) Stellvertreter angefochten. Die Hilfsanträge beinhalten demgegenüber keine eigenständigen Verfahrensgegenstände.

 

10        1. Da es sich bei der Wahl der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen und ihrer Stellvertreter nicht um eine einheitliche, sondern um zwei getrennte Wahlen handelt (vgl. dazu BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 – Rn. 17; 29. Juli 2009 – 7 ABR 91/07 – Rn. 20; vgl. zur Wahl der Hauptschwerbehindertenvertretung 21. März 2018 – 7 ABR 29/16 – Rn. 15), wird das Wahlrecht getrennt für die Wahl der Vertrauensperson einerseits und ihrer Stellvertreter andererseits ausgeübt. Beide Wahlen können nach der Rechtsprechung des Senats unabhängig voneinander angefochten werden. Dies folgt aus der nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX gebotenen sinngemäßen Anwendung der Vorschriften über die Wahlanfechtung der Wahl des Betriebsrats (vgl. zu § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB IX aF mit ausf. Begründung BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 – Rn. 15 ff. mwN; 29. Juli 2009 – 7 ABR 91/07 – Rn. 15 ff.; vgl. zur Anfechtung der Wahl der Hauptschwerbehindertenvertretung BAG 21. März 2018 – 7 ABR 29/16 – Rn. 14 ff.).

 

11        2. Dementsprechend ist der Hauptantrag der Antragsteller dahingehend zu verstehen, dass mit diesem sowohl die Wahl der Vertrauensperson als auch die Wahl der (noch vorhandenen) Stellvertreter angefochten worden ist. Dafür spricht schon der Antragswortlaut, der auf die Anfechtung der Wahl „der Schwerbehindertenvertretung“ gerichtet ist und keine Beschränkung auf die Wahl der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen oder der stellvertretenden Mitglieder enthält (vgl. zur Auslegung eines ähnlich formulierten Antrags BAG 21. März 2018 – 7 ABR 29/16 – Rn. 16). Der im Hauptantrag enthaltene Klammerzusatz „(Vertrauensperson, 1. und 2. stellvertretende Mitglieder)“ sowie die Antragsbegründung bestätigen dieses Verständnis. Die Antragsteller haben mit ihrer einzigen Rüge, die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten seien nicht in die Wählerliste aufgenommen worden, einen Wahlfehler geltend gemacht, der sich sowohl bei der Wahl der Vertrauensperson als auch bei der Wahl der Stellvertreter auswirken kann. Diesem Verständnis des Hauptantrags steht nicht entgegen, dass die Antragsteller ihre hilfsweise angebrachten Begehren auf die Unwirksamkeit der Wahl einzelner Personen gerichtet haben. Hierbei handelt es sich nicht um abweichende Begehren in dem Sinne, dass sie eigenständige, vom Hauptantrag unterscheidbare Verfahrensgegenstände enthielten. Sie verdeutlichen lediglich das eigentliche Antragsbegehren, alle noch relevanten Wahlvorgänge für unwirksam zu erklären.

 

12        II. Sämtliche Verfahrensbeteiligte sind vom Landesarbeitsgericht zu Recht nach § 83 Abs. 3 ArbGG gehört worden (zu den allg. Voraussetzungen etwa BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 – Rn. 13 mwN). Das sind neben den zu 1. bis 3. beteiligten Antragstellern und dem stets – vorliegend zu 6. – beteiligten Arbeitgeber (vgl. hierzu etwa BAG 24. März 2021 – 7 ABR 16/20 – Rn. 16 mwN, BAGE 174, 269) die zu 4. beteiligte Schwerbehindertenvertretung sowie das zu 5. beteiligte (erste) stellvertretende Mitglied. Soweit darüber hinaus nach der Rechtsprechung des Senats sämtliche zu weiteren Stellvertretern Gewählte beteiligt sind (vgl. allgemein etwa BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 – Rn. 17 mwN; vgl. ferner BAG 21. März 2018 – 7 ABR 29/16 – Rn. 17), ist dies vorliegend erfolgt. Der zum zweiten stellvertretenden Mitglied gewählte Beschäftigte ist bereits als Antragsteller zu 1. am Verfahren beteiligt. Die Antragstellerin zu 3. ist trotz ihres zwischenzeitlichen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber (und dem damit einhergehenden Erlöschen ihres Amtes) jedenfalls als Antragstellerin weiterhin beteiligt (vgl. zur notwendigen Beteiligung der Antragsteller etwa BAG 24. März 2021 – 7 ABR 16/20 – aaO; vgl. auch BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. September 2024 ArbGG § 83 Rn. 12; Germelmann/Matthes/Prütting/Spinner ArbGG 10. Aufl. § 83 Rn. 11). Sie hat im Übrigen ausdrücklich bekundet, das Verfahren auch nach ihrem Ausscheiden bei dem Arbeitgeber weiterhin betreiben zu wollen.

 

13        III. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Arbeitgebers gegen den dem Anfechtungsantrag stattgebenden Beschluss des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen.

 

14        1. Das Begehren ist zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis für den Wahlanfechtungsantrag nicht im Laufe des Verfahrens mit dem Ausscheiden der Antragstellerin zu 3. aus dem Betrieb des Arbeitgebers entfallen. Die Wahlberechtigung des die Wahl anfechtenden Arbeitnehmers muss grds. nur zum Zeitpunkt der Wahl gegeben sein. Ein Wegfall der Wahlberechtigung durch Ausscheiden aus dem Betrieb nimmt dem Arbeitnehmer die Anfechtungsbefugnis nicht. Nur das Ausscheiden sämtlicher die Wahl Anfechtender aus dem Betrieb bedingt die Unzulässigkeit des Anfechtungsantrags (ausf. BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 – Rn. 31 ff. mwN; vgl. zur Anfechtung der Wahl eines Betriebsrats BAG 16. September 2020 – 7 ABR 30/19 – Rn. 15 mwN).

 

15        2. Der Wahlanfechtungsantrag ist begründet.

 

16        a) Nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX sind für die Wahlen der Vertrauensperson und des stellvertretenden Mitglieds die Vorschriften über die Wahlanfechtung bei der Wahl des Betriebsrats sinngemäß anzuwenden. Nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Wahl beim Arbeitsgericht angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte. Zur Anfechtung berechtigt sind nach § 19 Abs. 2 Satz 1 BetrVG mindestens drei Wahlberechtigte, eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft oder der Arbeitgeber. Die Wahlanfechtung ist nach § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG binnen einer Frist von zwei Wochen, vom Tage der Bekanntgabe des Wahlergebnisses an gerechnet, zulässig.

 

17        b) Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

 

18        aa) Die formellen Voraussetzungen der Wahlanfechtung liegen vor.

 

19        (1) Die Antragsteller sind als wahlberechtigte schwerbehinderte Beschäftigte iSv. § 177 Abs. 2 SGB IX anfechtungsberechtigt nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 BetrVG (vgl. zu dieser Voraussetzung BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 61/12 – Rn. 14). Der Anfechtungsberechtigung des zu 2. beteiligten Antragstellers steht dessen Wahl zur Vertrauensperson sowie (vormalige) Mitgliedschaft im Wahlvorstand nicht entgegen. Auch die gewählte Schwerbehindertenvertretung oder Mitglieder des Wahlvorstands können als wahlberechtigte Beschäftigte die Anfechtung betreiben (vgl. für den Betriebsrat BAG 16. September 2020 – 7 ABR 30/19 – Rn. 16 mwN).

 

20        (2) Ob es Mitgliedern des Wahlvorstands verwehrt ist, ihre Wahlanfechtung auf Wahlrechtsverstöße zu stützen, die sie in ihrer Eigenschaft als Wahlvorstandsmitglieder verursacht haben (offengelassen in BAG 1. Juni 1966 – 1 ABR 17/65 – zu II der Gründe; vgl. hierzu auch BAG 16. September 2020 – 7 ABR 30/19 – Rn. 17), kann dahinstehen. Denn der zu 2. beteiligte Antragsteller, der zugleich Wahlvorstandsvorsitzender war, hat bei der Bescheidung der Einsprüche gegen die Wählerliste nicht mitgewirkt.

 

21        (3) Die Antragsteller sind nicht entsprechend § 19 Abs. 3 Satz 1 BetrVG mit ihrem einzig gerügten Verstoß der Unrichtigkeit der Wählerliste ausgeschlossen. Sie haben zuvor jeweils einzeln schriftlich Einspruch gegen die Wählerliste eingelegt, welche sämtlich unter dem 12. Oktober 2022 zurückgewiesen wurden. Vor dem Hintergrund, dass das Wahlausschreiben vom 6. Oktober 2022 datiert, war die zweiwöchige Einspruchsfrist des § 4 Abs. 1 SchwbVWO denklogisch eingehalten.

 

22        (4) Auch die zweiwöchige Anfechtungsfrist aus § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG ist gewahrt (vgl. zur Anwendbarkeit der Frist auf die Anfechtung der Wahl der Schwerbehindertenvertretung BAG 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 – Rn. 37). Das Wahlergebnis wurde am 22. November 2022 bekannt gemacht; der Anfechtungsantrag ist am 1. Dezember 2022 beim Arbeitsgericht eingegangen.

 

23        bb) Die materiellen Voraussetzungen der Wahlanfechtung liegen ebenfalls vor. Bei den streitbefangenen Wahlen ist gegen eine wesentliche Vorschrift über die Wählbarkeit verstoßen worden, indem die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten von den Wahlen ausgeschlossen waren. Auch dieser Personenkreis ist nach § 177 Abs. 2 SGB IX berechtigt, an der Wahl der Schwerbehindertenvertretung teilzunehmen. Es ist nicht davon auszugehen, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte.

 

24        (1) Nach § 177 Abs. 2 SGB IX sind zu den Wahlen der Vertrauensperson und wenigstens eines stellvertretenden Mitglieds wahlberechtigt alle in dem Betrieb (oder der Dienststelle) beschäftigten schwerbehinderten Menschen. Das schließt nach Normwortlaut und Normzweck die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten ein.

 

25        (a) Diese sind in dem „Betrieb“ beschäftigte schwerbehinderte Menschen.

 

26        (aa) Der Begriff des Betriebs (bzw. der Dienststelle) iSv. § 177 Abs. 2 SGB IX bestimmt sich nach den betriebsverfassungsrechtlichen (bzw. personalvertretungsrechtlichen) Maßgaben (vgl. zu § 94 SGB IX aF BAG 18. Januar 2012 – 7 ABR 72/10 – Rn. 72; 10. November 2004 – 7 ABR 17/04 – zu B I 3 a aa der Gründe; vgl. auch BeckOK SozR/Brose Stand 1. September 2024 SGB IX § 177 Rn. 4; Rehwald in Feldes/Helbig/Hüther/Krämer/Kuntz/Mittel/Rehwald/Tatzky/Westermann SGB IX 17. Aufl. § 177 Rn. 6; Mushoff in Hauck/Noftz SGB IX Stand 4. EL 2024 § 177 Rn. 7; LPK-SGB IX/Düwell 6. Aufl. § 177 Rn. 22; Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX 5. Aufl. § 177 Rn. 3; Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Westphal/Krohne/Pahlen SGB IX 15. Aufl. § 177 Rn. 2; Isenhardt in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX 4. Aufl. § 177 Rn. 7).

 

27        (bb) Dass die vom Arbeitgeber betriebenen Werkstätten für behinderte Menschen iSv. §§ 219 ff. SGB IX zu der betrieblichen Organisationseinheit gehören, für die die Schwerbehindertenvertretung (Vertrauensperson und stellvertretende Mitglieder) gewählt wurde, steht nicht im Streit. Weder haben die Wahlanfechtenden eine Verkennung der schwerbehindertenvertretungsrechtlichen Organisationseinheit, in denen die verfahrensgegenständlichen Wahlen durchgeführt worden sind, geltend gemacht, noch ergeben sich nach dem festgestellten Sachverhalt Anhaltspunkte hierfür. Soweit der Arbeitgeber zuletzt darauf abhebt, sein(e) Werkstattbereich(e) iSv. § 219 SGB IX sei(en) nicht Teil(e) des „Betriebs“ iSd. Wahlvorschriften, setzt er sich in Widerspruch zu seiner eigenen Argumentation hinsichtlich der Interessengegensätze zwischen den in den Werkstätten beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmern und den schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten. Gehörten die Werkstätten als solche nicht zu dem Betrieb, in dem die Schwerbehindertenvertretung gewählt worden ist, repräsentierte diese auch nicht die dort beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmer. Hiervon geht aber der Arbeitgeber selbst nicht aus. Im Übrigen hat das Landesarbeitsgericht in rechtstatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass die Werkstätten Teil des Betriebs des Arbeitgebers sind. Dies hat die Rechtsbeschwerde nicht angegriffen.

 

28        (b) § 177 Abs. 2 SGB IX hebt auf eine „Beschäftigung“ (in dem Betrieb) ab. Das ist bei den schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten der Fall. Auch diese werden auf der Grundlage einer Vereinbarung, eines sog. Werkstattvertrags, fremdbestimmt in persönlicher Abhängigkeit „beschäftigt“ (vgl. LPK-SGB IX/Düwell 6. Aufl. § 177 Rn. 13). Damit schließen weder der Umstand, dass die Werkstätten für behinderte Menschen (nur) denjenigen Menschen (mit Behinderung) offenstehen, die wegen der Art und Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können (vgl. dazu etwa Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Westphal/Krohne/Jabben/Westphal SGB IX 15. Aufl. § 56 Rn. 1 – 3), noch die Festlegung eines nicht als Arbeitsverhältnis zu qualifizierenden arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnisses eine Repräsentanz der Werkstattbeschäftigten durch die Schwerbehindertenvertretung aus.

 

29        (c) Sinn und Zweck der Regelungen zur Schwerbehindertenvertretung sprechen für die Wahlberechtigung der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten. Der Gesetzgeber beschränkt die Schwerbehindertenvertretung nicht auf die Interessenwahrung der schwerbehinderten Arbeitnehmer, sondern erstreckt sie auf die Vertretung der Interessen aller schwerbehinderten Menschen in dem Betrieb. Zu diesen gehören die Werkstattbeschäftigten. Aus Gründen demokratischer Legitimation ist es daher angezeigt, ihnen das aktive Wahlrecht zu dem Organ zuzuerkennen, das ihre besonderen Interessen als Schwerbehinderte wahrzunehmen hat.

 

30        (d) Das für die Wahlberechtigung im schwerbehindertenvertretungsrechtlichen Sinn entscheidende Kriterium der „Beschäftigung im Betrieb“ erfüllen die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten unabhängig davon, ob sie in diesen eingegliedert sind. Hier gilt nichts Anderes als für die – nach § 52 Satz 1 SGB IX ausdrücklich nicht in den Betrieb eingegliederten – Rehabilitanden iSv. § 51 SGB IX, welche nach der Rechtsprechung des Senats, an der ausdrücklich festgehalten wird (BAG 16. April 2003 – 7 ABR 27/02 – zu B II 2 der Gründe, BAGE 106, 57; 27. Juni 2001 – 7 ABR 50/99 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 98, 151), wahlberechtigt zur Schwerbehindertenvertretung sind (vgl. auch Joussen NZA 2024, 1236, 1240). Vor diesem Hintergrund geht der Verweis der Rechtsbeschwerde auf die Entscheidungen des Senats vom 21. Juli 1993 (- 7 ABR 35/92 – BAGE 74, 1) bzw. vom 20. März 1996 (- 7 ABR 46/95 – BAGE 82, 302) zur Wahlberechtigung von zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten zum Betriebsrat fehl.

 

31        (aa) Nach der Rechtsprechung des Senats kommt Rehabilitanden iSv. § 51 SGB IX das aktive Wahlrecht für die Schwerbehindertenvertretung zu, obwohl sie nach § 52 Satz 1 SGB IX nicht in den Betrieb eingegliedert sind (BAG 16. April 2003 – 7 ABR 27/02 – zu B II 2 der Gründe, BAGE 106, 57; 27. Juni 2001 – 7 ABR 50/99 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 98, 151). Entsprechendes gilt für die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten, für die ohnehin kein Gesetzesbefehl ihrer Nichteingliederung in den Betrieb getroffen ist.

 

32        (bb) Es kommt auch nicht auf die Differenzierung der unterschiedlichen Leistungsbereiche iSd. §§ 57, 58 SGB IX an, solange kein besonderer Vertreter nach § 52 Satz 2 SGB IX gewählt ist, was hier – wie der Arbeitgeber in der Rechtsbeschwerdebegründung selbst vorgetragen hat – ohnehin nicht der Fall ist. Angesichts dessen geht auch seine etwaige Verfahrensrüge der Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör bzgl. der vom Landesarbeitsgericht nicht aufgeklärten Zuordnung der Werkstattbeschäftigten zu den einzelnen (Leistungs-)Bereichen ins Leere.

 

33        (2) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist eine Repräsentanz der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten durch die Schwerbehindertenvertretung nicht deshalb ausgeschlossen, weil für diese Beschäftigtengruppe die Regelungen des SGB IX Teil 3 Kapitel 12 – Werkstätten für behinderte Menschen – gelten (§§ 219 bis 227 SGB IX). Zwar sind den in den Werkstätten beschäftigten behinderten Menschen Mitwirkungsrechte durch die Bildung sog. Werkstatträte nach § 222 Abs. 1 SGB IX eingeräumt. Diese besondere Beteiligungsform für diejenigen in den Werkstätten beschäftigten behinderten Menschen, die nach § 221 Abs. 1 SGB IX in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis zu den Werkstätten stehen und daher nicht Arbeitnehmer oder Auszubildende sind, ist dem Umstand geschuldet, dass für diese Personengruppe die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes bzw. der entsprechenden Personalvertretungsgesetze (bei öffentlich-rechtlicher Trägerschaft der Werkstatt für behinderte Menschen) nicht gelten. Infolgedessen werden diese behinderten Menschen in den nach diesen Gesetzen gewählten Gremien auch nicht repräsentiert (vgl. zB Götze in Hauck/Noftz SGB IX Stand 4. EL 2024 § 222 Rn. 2). Bei den Werkstatträten handelt es sich aber nicht um eine gegenüber der Schwerbehindertenvertretung speziellere und ausschließliche Interessenvertretung. Für eine solche Annahme bieten weder die Gesetzessystematik noch die gesetzliche Ausgestaltung der Vertretungen einen Anhalt.

 

34        (a) Die in Teil 3 Kapitel 5 (§§ 176 ff. SGB IX) geregelte Schwerbehindertenvertretung und die in Teil 3 Kapitel 12 (§§ 219 ff. SGB IX) geregelten Werkstätten für schwerbehinderte Menschen, insb. die dortigen Regelungen über die Werkstatträte, stehen in keinem erkennbaren Spezialitätsverhältnis zueinander. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche, im Verhältnis zueinander gleichrangige Kapitel innerhalb der in Teil 3 des SGB IX enthaltenen besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen. Es gibt auch keinen prinzipiellen Auslegungsgrundsatz, dass eine an späterer Stelle im Gesetz verortete Bestimmung im Verhältnis zu einer vorangegangenen Regelung spezieller ist. Vor diesem Hintergrund verfängt die Annahme der Rechtsbeschwerde nicht, es gebe keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber für dieselbe Gruppe von Personen eine „doppelte Zuständigkeit“ von zwei Interessenvertretungen – nach seiner Ansicht mit identischen Aufgaben – habe regeln wollen. Es hätte jedoch konkreter Anhaltspunkte dafür bedurft, dass die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten nicht wahlberechtigt iSv. § 177 Abs. 2 SGB IX sein sollen. Entsprechendes gilt für den Verweis des Arbeitgebers auf die Möglichkeit der zusätzlichen Errichtung eines Eltern- und Betreuerbeirats nach § 222 Abs. 4 Satz 2 SGB IX sowie auf die Unterrichtungsverpflichtung der Werkstätten für behinderte Menschen nach § 222 Abs. 4 Satz 1 SGB IX gegenüber Personen, die behinderte Menschen gesetzlich vertreten oder mit ihrer Betreuung beauftragt sind.

 

35        (b) Auch der Umstand, dass in Teil 3 Kapitel 5 SGB IX der Begriff „Arbeitgeber“ verwendet wird, stützt die Rechtsauffassung der Rechtsbeschwerde nicht. Der Arbeitgeberbegriff wird in dem gesamten Gesetzesabschnitt nicht durchgängig in einem strikt privatrechtlichen Sinn verwendet, wie schon § 176 SGB IX zeigt, dessen Ausgestaltung jedenfalls auch auf öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse abhebt.

 

36        (c) Soweit der Arbeitgeber einwendet, schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte wählten nach § 222 SGB IX als ihre eigene Interessenvertretung den Werkstattrat, der für alle Fragen der Werkstattbeschäftigung – also auch für Beratung und Beistand der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten – zuständig sei, ist dem im Übrigen entgegenzuhalten, dass weder alle Werkstattbeschäftigten notwendigerweise schwerbehindert sind, noch die in § 222 Abs. 3 SGB IX geregelte Wahlberechtigung sowie der in § 222 Abs. 1 SGB IX bestimmte Kreis der zu vertretenden Beschäftigten alle Werkstattbeschäftigten erfassen. Denn jedenfalls diejenigen Werkstattbeschäftigten, die Arbeitnehmer sind, sind nicht wahlberechtigt zum Werkstattrat, was ausdrücklich auch aus § 10 der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung – WMVO – folgt. Überdies wären die schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten ohne jegliche Interessenvertretung insb. in den ihre Schwerbehinderung betreffenden Angelegenheiten, wenn kein Werkstattrat gebildet ist (gegen eine Pflicht zu dessen Errichtung zB Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX 5. Aufl. § 222 Rn. 1; Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Westphal/Krohne/Pahlen SGB IX 15. Aufl. § 222 Rn. 6 mwN; Schramm in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX 4. Aufl. § 222 Rn. 18). Hätte der Gesetzgeber eine Vertretung der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten durch die Schwerbehindertenvertretung ausschließen wollen, hätte eine einschränkende Sonderregelung nahegelegen, wie sie für Gerichte in § 177 Abs. 1 Satz 2 SGB IX getroffen worden ist (ebenso LPK-SGB IX/Düwell 6. Aufl. § 177 Rn. 13). Nichts Anderes folgt aus den vom Arbeitgeber angeführten Unterschieden zwischen den in § 177 Abs. 2 und 3 SGB IX festgelegten aktiv und passiv wahlberechtigten Personenkreisen, zumal sich regelmäßig Differenzierungen in der normativen Ausgestaltung des passiven und des aktiven Wahlrechts betrieblicher Vertretungsgremien finden (vgl. zB §§ 7 f. BetrVG, §§ 14 f. BPersVG).

 

37        (d) Außerdem vertreten Werkstattrat und Schwerbehindertenvertretung die Interessen von Personengruppen, die sich nur zum Teil überschneiden: Der Werkstattrat vertritt nach § 222 Abs. 1 SGB IX die Interessen der behinderten Menschen im Arbeitsbereich (vgl. § 58 SGB IX) unter Berücksichtigung der Interessen der im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich (§ 57 SGB IX) tätigen behinderten Menschen, solange für diese eine Vertretung nach § 52 SGB IX nicht besteht. Demgegenüber vertritt die Schwerbehindertenvertretung die individuellen und kollektiven Interessen sämtlicher schwerbehinderter (und diesen gleichgestellter) Menschen im Betrieb (allg. zu den Aufgaben etwa Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Westphal/Krohne/Pahlen SGB IX 15. Aufl. § 178 Rn. 2 ff.; vgl. zur von der Schwerbehindertenvertretung zu leistenden „Einzelfallhilfe“ auch Düwell FS Klebe 2018 S. 105, 110 f.).

 

38        (e) Auch die gesetzliche Ausgestaltung von Werkstatträten und Schwerbehindertenvertretung trägt die Argumentation der Rechtsbeschwerde nicht. Damit kommt es auf die von ihr in diesem Zusammenhang erhobene Rüge der Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör – ungeachtet deren Unzulässigkeit – nicht an.

 

39        (aa) Zum einen geht schon die Ansicht fehl, die Regelungen der WMVO zur Mitbestimmung und Mitwirkung durch den in Werkstätten für behinderte Menschen gewählten Werkstattrat lehnten sich an die Rechte und Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung – und nicht des Betriebsrats – an.

 

40        (aaa) Die in § 4 WMVO geregelten allgemeinen Aufgaben des Werkstattrats haben seit dem erstmaligen Inkrafttreten der Regelung im Jahr 2001 keine inhaltliche Änderung erfahren. § 4 Abs. 1 Satz 1 WMVO ist § 80 Abs. 1 BetrVG nachgebildet (vgl. Cramer Werkstätten für behinderte Menschen 5. Aufl. § 4 WMVO Rn. 1). § 5 Abs. 2 WMVO ist im Hinblick auf die Inhalte der darin geregelten Mitbestimmung größtenteils § 87 Abs. 1 BetrVG nachempfunden (vgl. Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Westphal/Krohne/Pahlen SGB IX 15. Aufl. § 222 Rn. 14; vgl. im Einzelnen zum inhaltsähnlichen § 5 Abs. 1 WMVO aF Cramer Werkstätten für behinderte Menschen 5. Aufl. § 5 WMVO Rn. 1 ff.). Durch das BTHG vom 23. Dezember 2016 (BGBl. 2016 I S. 3234) wurden sie in weiten Teilen von Mitwirkungs- zu Mitbestimmungsrechten erhoben. Die in § 5 Abs. 3 sowie § 6 WMVO geregelte Vermittlungsstelle ist im Grundsatz ebenfalls erkennbar den betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen über die Einigungsstelle nachempfunden.

 

41        (bbb) Soweit der Arbeitgeber zuletzt auf die in § 39 Abs. 3 WMVO dem Werkstattrat auf Wunsch zu seiner Unterstützung zur Verfügung stehende Vertrauensperson abgehoben hat, ist dies im Ergebnis unergiebig. Allein die sich mit der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen iSv. §§ 177 ff. SGB IX überschneidende Begrifflichkeit sagt nichts über das Verhältnis von Werkstattrat und Schwerbehindertenvertretung aus. Inhaltlich ist § 39 Abs. 3 WMVO überdies eher mit der Hinzuziehung eines Sachverständigen nach § 80 Abs. 3 BetrVG vergleichbar.

 

42        (bb) Zum anderen rechtfertigte selbst die Argumentation des Arbeitgebers, die Schwerbehindertenvertretung vermöge nicht allen ihr obliegenden Aufgaben zugunsten der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten vollumfänglich nachzukommen, nicht den Schluss, dass sie gar keine Aufgaben zugunsten dieser Personengruppe wahrnehmen soll (vgl. zur Interessenwahrnehmung schwerbehinderter Rehabilitanden durch die Schwerbehindertenvertretung BAG 16. April 2003 – 7 ABR 27/02 – zu B II 2 b bb (4) der Gründe, BAGE 106, 57). Dies gilt insb. für die in § 178 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, aber auch die in Nr. 3 SGB IX genannten Maßnahmen. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum die Schwerbehindertenvertretung nicht auch zugunsten der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten die Durchführung der zugunsten schwerbehinderter Menschen geltenden Vorschriften überwachen oder Anregungen und Beschwerden dieser Personengruppe entgegennehmen sollte. Dass § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 3 WMVO ähnliche – auf sämtliche Werkstattbeschäftigte bezogene – Aufgaben für den Werkstattrat beinhaltet, steht dem nicht entgegen. Die Konstellation entspricht vielmehr der grundsätzlichen teilweise kongruenten Ausgestaltung mitbestimmungsrechtlicher und schwerbehindertenvertretungsrechtlicher Aufgabenstellungen für betriebliche Interessenvertretungen. So sehen etwa – bezogen auf Arbeitnehmer – § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 BetrVG sowie §§ 84 f. BetrVG vergleichbare Aufgaben für den Betriebsrat vor (vgl. Isenhardt in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX 4. Aufl. § 178 Rn. 3; Schubert in Knittel SGB IX 12. Aufl. § 178 Rn. 23a). Warum bzgl. der sich teilweise überschneidenden Aufgaben von Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat etwas Anderes gelten soll als bei der nahezu gleichgelagerten Aufgabenüberschneidung von Schwerbehindertenvertretung und Werkstattrat, erschließt sich trotz der spezifischen Beschäftigungssituation der Werkstattbeschäftigten nicht. Entsprechendes gilt für das Verhältnis von § 178 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB IX und § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WMVO. Insoweit wird – im Gegenteil – besonders deutlich, dass der Aufgabenbereich der jeweiligen Vertretung eng an den Kreis der Vertretenen gekoppelt ist. Im Übrigen ordnet § 8 Abs. 1 WMVO ausdrücklich die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure, insb. der verschiedenen Vertretungen an. Das zeigt, dass etwaige Kompetenzüberschneidungen oder gar -konflikte hingenommen und nicht im Wege einer Ausschließlichkeit von Vertretungen, sondern im Sinn des Zusammenarbeitsgebots aufgelöst werden.

 

43        (f) Ebenso verfängt die Argumentation der Rechtsbeschwerde nicht, die funktionale Repräsentanz der Schwerbehindertenvertretung in der Betriebs- und Dienststellenverfassung sei mit derjenigen in Werkstätten für behinderte Menschen nicht vergleichbar. Zwar sind Werkstattbeschäftigte im Verhältnis zu am allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigten Arbeitnehmern in einer Leistungssituation, in der es zu spezifischen Konflikten mit anderen Beschäftigtengruppen – vor allem mit den sie betreuenden bzw. anleitenden schwerbehinderten Arbeitnehmern – kommen mag. Derart tätigkeitsdeterminierte gegensätzliche Gruppeninteressen sind aber in der Schwerbehindertenvertretung grds. angelegt, denn diese vertritt gerade „alle“ schwerbehinderten (gleichgestellten) Menschen – etwa auch Arbeitnehmer und leitende Angestellte – in schwerbehindertenspezifischen Belangen. Allein die Gefahr etwaiger Kollisionen der Interessen verschiedener Beschäftigtengruppen, denen die schwerbehinderten (gleichgestellten) Menschen jeweils angehören, vermag nicht deren aktives Wahlrecht zu der Schwerbehindertenvertretung zu beschneiden.

 

44        (g) Die vom Arbeitgeber aufgezeigte Historie der Vorschriften zum Werkstattrat ist unergiebig. Sie mag Rückschlüsse auf ein potenzielles Spannungsverhältnis von Werkstattbeschäftigten zu den sie anleitenden Arbeitnehmern im Hinblick auf die Vertretung durch den Werkstattrat zulassen. Sie belegt aber keinen Willen des Gesetzgebers, Werkstattbeschäftigte von der Repräsentanz durch die Schwerbehindertenvertretung auszunehmen. Die historische Auslegung von § 177 Abs. 2 SGB IX spricht im Übrigen gerade für das Gegenteil. Die Vorgängervorschrift in § 24 Abs. 2 SchwbG lautete: „Wahlberechtigt sind alle in dem Betrieb oder der Dienststelle beschäftigten Schwerbehinderten“. Es wurde lediglich das Wort „Schwerbehinderte“ durch „schwerbehinderte Menschen“ ersetzt. Die Vorschrift hat mithin trotz der seitens der Rechtsbeschwerde angeführten zwischenzeitlichen Änderungen im Bereich der Werkstatträte, insb. des zwischenzeitlichen Zuwachses an dessen Beteiligungsrechten (vgl. hierzu auch Veit/Ertl/Bernzen/Dittmar Reha-Recht Fachbeiträge B5-2020 und B6-2020), lediglich eine sprachliche, aber keine inhaltliche Änderung erfahren. Zudem wollte der Gesetzgeber im Zuge der letzten grundlegenden und mit einer Neufassung des Gesetzes einhergehenden Reform des SGB IX im Rahmen des BTHG (ua.) ausdrücklich sowohl die Schwerbehindertenvertretung stärken als auch die Mitwirkungsmöglichkeiten in Werkstätten für behinderte Menschen verbessern (BT-Drs. 18/9522 S. 3).

 

45        (h) Schließlich ist auch der von der Rechtsbeschwerde herangezogene Vergleich zur Abgrenzung der Zuständigkeiten von Betriebs-, Gesamtbetriebs- und Konzernbetriebsrat verfehlt. Diese Gremien sind sämtlich Arbeitnehmervertretungen (vgl. zur Kompetenzabgrenzung etwa Fitting BetrVG 32. Aufl. § 50 Rn. 9 ff.), während die Schwerbehindertenvertretung eine Interessenvertretung aller im Betrieb (oder in der Dienststelle) beschäftigten schwerbehinderten Menschen ist.

 

46        (3) § 177 Abs. 2 SGB IX ist nicht teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass Werkstattbeschäftigte vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen sind. Es fehlt bereits deswegen an einer planwidrigen Regelungslücke, weil der parlamentarische Gesetzgeber in § 227 Abs. 2 SGB IX das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats im Einzelnen die Errichtung, Zusammensetzung und Aufgaben des Werkstattrats, die Fragen, auf die sich Mitbestimmung und Mitwirkung erstrecken, einschließlich Art und Umfang der Mitbestimmung und Mitwirkung, die Vorbereitung und Durchführung der Wahl, einschließlich der Wahlberechtigung und der Wählbarkeit, die Amtszeit sowie die Geschäftsführung des Werkstattrats einschließlich des Erlasses einer Geschäftsordnung und der persönlichen Rechte und Pflichten der Mitglieder des Werkstattrats und der Kostentragung zu regeln.

 

47        (a) Der parlamentarische Gesetzgeber des SGB IX kann daher im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der Aufgaben sowie der Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des Werkstattrats in ihrer konkreten Art sowie ihrem Umfang jenseits der rudimentär gehaltenen „Generalklausel“ in § 222 Abs. 1 Satz 1 SGB IX grds. keinen Willen gebildet und in der WMVO geäußert haben, der den Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion von § 177 Abs. 2 SGB IX entspräche. Schon aus diesem Grund ist der Hinweis auf die Stellungnahme des – seinerzeit nach § 144 Abs. 2 Satz 2 SGB IX in der vor dem 8. November 2006 geltenden Fassung noch Adressat der Verordnungsermächtigung gewesenen – Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zu dem die Wahlberechtigung von Rehabilitanden bejahenden Beschluss des Senats vom 16. April 2003 (- 7 ABR 27/02 – BAGE 106, 57) unergiebig. Nichts Anderes gilt für § 5 WMVO, der im Zuge des BTHG durch den parlamentarischen Gesetzgeber deutlich, insb. um die Einführung von Mitbestimmungsrechten in Abs. 2 der Vorschrift, erweitert wurde (vgl. dazu BT-Drs. 18/9522 S. 357). Wenn der parlamentarische Gesetzgeber selbst die Mitwirkungs- und insb. Mitbestimmungsrechte der Werkstatträte an die des § 87 Abs. 1 BetrVG und damit des Betriebsrats „anlehnt“, spricht dies gerade gegen eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 177 Abs. 2 SGB IX hinsichtlich der Beschäftigten, die der Werkstattrat vertritt.

 

48        (b) Ungeachtet dessen beinhaltet die Stellungnahme – in der vom Arbeitgeber zur Akte gereichten Fassung der „Mitteilung der BAG WfbM“ vom 5. April 2004 – entgegen der Auffassung des Arbeitgebers – keine inhaltlichen Argumente gegen die Beteiligung der (schwerbehinderten) Werkstattbeschäftigten an der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung. Sie enthält lediglich die pauschale Aussage, die Entscheidung des Senats vom 16. April 2003 finde nicht auf diejenigen Fälle Anwendung, in denen der Werkstattrat in Ermangelung einer Vertretung auch die Interessen der im Eingangs- und Berufsbildungsbereich Beschäftigten wahrnehme. Die weitergehende Aussage, dass damit auch ausgeschlossen sei, dass Werkstattbeschäftigte an der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung beteiligt seien, wird entgegen dem Vorbringen in der Rechtsbeschwerdebegründung gerade nicht näher begründet. Die genannte Entscheidung des Senats verhielt sich zu der hier verfahrensgegenständlichen Konstellation schlicht nicht.

 

49        (4) Das aktive Wahlrecht von schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten nach § 177 Abs. 2 SGB IX bedingt keine zweckwidrigen, dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufenden Ergebnisse. Vor allem führt es – anders als die Rechtsbeschwerde meint – weder zu einer Überrepräsentation noch zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten mehrfachen vertretungsrechtlichen Schutz der schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten. Der Gesetzgeber hat die Schwerbehindertenvertretung nicht als Interessenwahrnehmung der schwerbehinderten Arbeitnehmer konzipiert, sondern als eigenständige Vertretung der Interessen aller schwerbehinderten Menschen in dem Betrieb, ohne auf Relationen von bestimmten Gruppen schwerbehinderter Beschäftigter abzustellen.

 

50        (5) Der Verstoß gegen § 177 Abs. 2 SGB IX bei den verfahrensgegenständlichen Wahlen war geeignet, das jeweilige Wahlergebnis zu beeinflussen. Hinsichtlich beider Wahlgänge – Vertrauensperson und Stellvertreter – wäre ein anderes Wahlergebnis nur dann ausgeschlossen, wenn feststünde, dass es keine schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten gäbe. Dies ist nach den – nicht mit (zulässigen) Verfahrensrügen angegriffenen – Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht der Fall.

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