LAG Berlin-Brandenburg: Schwerbehinderte in einer gemeinsamen Einrichtung
LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.6.2013 - 4 TaBV 664/13
Leitsätze
1. Werden schwerbehinderte Menschen nach § 44g SGB II einer gemeinsamen Einrichtung zugewiesen, so sind sie iSd. § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB IX nicht mehr in der entsendenden Dienststelle beschäftigt.
2. Beschäftigte in Altersteilzeit im Blockmodell scheiden mit dem Ende der aktiven Phase aus der Arbeitsorganisation aus und sind dann nicht mehr iSd. § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB IX in dem Betrieb oder in der Dienststelle beschäftigt.
§ 96 abs. 4 SGB IX, § 44g SGB II
Sachverhalt
I.
Die Beteiligte zu 1) begehrt gegenüber dem Beteiligten zu 2) von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen vollumfänglich freigestellt zu werden.
Die Beteiligte zu 1) ist bei dem beteiligten Land beschäftigt. Seit 1998 ist sie durchgehend Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen für den Bereich des Bezirksamts N., zuletzt gewählt am 8. November 2010. Beim Bezirksamt N. waren im Zeitraum von Januar 2011 bis zum März 2013 zwischen 203 und 213 schwerbehinderte Menschen beschäftigt. Davon waren im gleichen Zeitraum zwischen 23 und 32 schwerbehinderte Menschen an das als gemeinsame Einrichtung mit der Bundesagentur für Arbeit gebildete Jobcenter N. zugewiesen. Hinsichtlich der entsprechenden Übersichten wird auf Bl. 32 und 149 d. A. verwiesen.
Mit Schreiben an den Bezirksbürgermeister vom 11. November 2010, hinsichtlich dessen genauen Wortlauts auf Bl. 43 d. A. verwiesen wird, beantragte die Beteiligte zu 1) die Freistellung von ihrer beruflichen Tätigkeit für die Wahlperiode. Hierauf antwortete der Bezirksbürgermeister mit Schreiben vom 22. November 2010 (Bl. 44 d. A.), dass er die Beteiligte zu 1) weiterhin gemäß § 96 Abs. 4 SGB IX von ihrer Tätigkeit in der Bezirkskasse freistelle.
Mit Schreiben vom 25. Mai 2011 (Bl. 5 d. A.) erklärte der Bezirksbürgermeister gegenüber der Beteiligten zu 1) sodann, dass das Bezirksamt N. aktuell 201 schwerbehinderte Menschen beschäftige, wovon 31 zum Jobcenter/ der gemeinsamen Einrichtung gehören. Der Anteil der zu berücksichtigenden schwerbehinderten Menschen im Bereich des Bezirksamts habe sich damit auf 170 reduziert. Er sehe sich daher veranlasst, seine mit Schreiben vom 22. November 2010 zugesprochene vollständige Freistellung einzuschränken und reduziere die Freistellung der Beteiligten zu 1) um ein Fünftel der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit. Dies bedeute, dass die Beteiligte zu 1) ab dem 1. Juni 2011 an einem Tag der Arbeitswoche wieder ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen habe.
Die Beteiligte zu 1) hat die Auffassung vertreten, dass sich ein Anspruch auf vollumfängliche Freistellung bereits aus einer Vereinbarung zwischen ihr und dem Beteiligten zu 2) im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 HS 2 SGB IX ergebe. Eine solche sei in Folge des Schreibens des Bezirksbürgermeisters vom 22. November 2010 zustande gekommen. Darüber hinaus war sie der Ansicht, dass die dem Jobcenter zugewiesenen schwerbehinderten Menschen auch nach der Zuweisung weiter als Beschäftigte des Bezirksamts anzusehen seien, sodass sie zumindest wegen Überschreitung des Schwellenwerts von 200 schwerbehinderten Menschen nach § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX vollumfänglich freizustellen sei.
Die Beteiligte zu 1) hat beantragt,
den Beteiligten zu 2) zu verpflichten, die Beteiligte zu 1) von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts vollumfänglich freizustellen.
Der Beteiligte zu 2) hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Das beteiligte Land hat die Auffassung vertreten, die an die gemeinsame Einrichtung zugewiesenen schwerbehinderten Menschen, könnten nicht als Beschäftigte des Bezirksamts mitgezählt werden. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX. Zudem knüpfe die Norm an die tatsächliche Aufgabenbelastung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen an, welche bei einer Zuweisung von schwerbehinderten Menschen an eine gemeinsame Einrichtung erheblich zurückgehe, sodass die betroffenen Arbeitnehmer auch nach Sinn und Zweck der Norm nicht pauschal zu berücksichtigen seien.
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag mit Beschluss vom 7. März 2013 stattgegeben. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass auf den Begriff der Beschäftigung abzustellen sei. Solange schwerbehinderte Menschen nicht endgültig aus der Arbeitsorganisation ausgegliedert würden, seien sie im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX im Betrieb oder der Dienststelle beschäftigt. Folglich seien daher beispielsweise Beschäftigte in der Freizeitphase der Altersteilzeit nicht mehr „beschäftigt", weil sie dauerhaft aus der Betriebsorganisation ausgegliedert werden. Im Gegensatz dazu erfolge die Zuweisung der Dienstkräfte zur gemeinsamen Einrichtung im aktiven Arbeitsverhältnis weder auf Dauer, noch könne damit gerechnet werden, dass die betroffenen Beschäftigten nicht mehr in ihre Ausgangsdienststelle zurückkehren. Daher seien sie nicht endgültig aus der Organisation der entsendenden Dienststelle ausgeschieden und im Rahmen des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX zu berücksichtigen.
Gegen diesen, dem Beteiligten zu 2) am 8. April 2013 zugestellten Beschluss, hat der Beteiligte zu 2) mit beim Landesarbeitsgericht am 10. April 2013 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt und diese zeitgleich begründet.
Der Beteiligte zu 2) behauptet, dass der Grenzwert des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX spätestens seit April 2012 bereits deshalb unterschritten werde, weil schwerbehinderte Menschen in die Freizeitphase der Altersteilzeit eingetreten seien. Hinsichtlich der entsprechenden Übersicht aus Sicht der Beteiligten der Beteiligten zu 2) wird auf Bl. 97 und 149 d. A. verwiesen. Die Beteiligte zu 2. verweist weiter auf die von ihr erstellte namentliche Aufstellung der schwerbehinderten Beschäftigten des Bezirksamts N., die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befinden (Blatt 135 d. A.), aus der sich ergibt, dass seit August 2012 bei Herausnahme der in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befindlichen Beschäftigten weniger als 200 schwerbehinderte Menschen im Bereich des Bezirksamtes N. tätig waren, und zwar auch unter Einbeziehung der an die gemeinsame Einrichtung entsendeten schwerbehinderten Arbeitnehmer.
Der Beteiligte zu 2) vertritt unter Vertiefung seines Vorbringens weiterhin die Auffassung, dass der Begriff der Beschäftigung nicht nur formal daran anknüpfe, ob und mit wem ein Arbeitsverhältnis besteht, sondern eine tatsächliche Eingliederung in die Dienststellenorganisation voraussetze. Die der gemeinsamen Einrichtung zugewiesenen Arbeitnehmer unterlägen jedoch gemäß § 44d Abs. 4 SGB II dem ausschließlichen Weisungsrecht des Geschäftsführers der gemeinsamen Einrichtung. Hierdurch entfalle die Eingliederung in der Stammdienststelle. Ferner seien Art und Umfang der Arbeitsbelastung durch einzelne schwerbehinderte Menschen im Rahmen des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX entscheidungserheblich. Der Gesetzgeber sei bei Einführung des Grenzwertes davon ausgegangen, dass die Aufgaben ab Überschreitung des Schwellenwerts von 200 schwerbehinderten Menschen so umfangreich seien, dass eine vollumfängliche Freistellung erforderlich sei. Hierdurch habe er zum Ausdruck gebracht, dass die Freistellung nicht an die Zahl der schwerbehinderten Menschen, sondern an die sich daraus regelmäßig ergebende Arbeitsbelastung anknüpfe.
Der Beteiligte zu 2) beantragt,
unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Berlin vom 7. März 2013 - Az. 33 BV 14898/12 - den Antrag der Beteiligten zu 1) zurückzuweisen.
Die Beteiligte zu 1) beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie meint, dass die der gemeinsamen Einrichtung zugewiesenen schwerbehinderten Menschen deshalb weiter zu berücksichtigen seien, weil der Beteiligte zu 2) sie bei Erstellung der Aufstellung gemäß § 80 Abs. 1 SGB IX berücksichtige, sodass mit Blick auf den identischen Wortlaut von § 96 Abs. 4 SGB IX und § 80 Abs. 1 SGB bei der Berechnung der Arbeitnehmerzahl im Rahmen des § 96 Abs. 5 SGB IX nichts anderes gelten könne. Zudem verlange § 96 Abs. 4 SGB IX gerade keine aktive Beschäftigung. Schließlich seien auch Arbeitnehmer in Elternzeit oder krankheitsbedingt abwesende Arbeitnehmer weiterhin zu zählen. Ferner sei die Ausgliederung nicht endgültig, weil die Zuweisung gemäß § 44g Abs. 5 SGB II jederzeit beendet werden könnte.
Wegen des weiteren Sach- und Verfahrensstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Protokolle der mündlichen Anhörungen Bezug genommen.
Aus den Gründen
II.
A. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist statthaft (§ 87 Abs. 1 ArbGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2, 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG, 89 Abs. 2 ArbGG).
B. Die Beschwerde ist auch begründet. Die Beteiligte zu 1) hat keinen Anspruch gegen das beteiligte Land auf vollumfängliche Freistellung von ihrer Arbeitsleistung kraft ihres Amtes als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen im Bereich des Bezirksamtes N..
I. Ein Anspruch ergibt sich nicht aus einer Vereinbarung iSd. § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 SGB IX. Die Beteiligten haben keine Vereinbarung gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 SGB IX getroffen. Das Schreiben des Bezirksbürgermeisters vom 22. November 2010 lässt sich nicht dahingehend auslegen, dass der Bezirksbürgermeister der Beteiligte zu 2) ein Freistellungsangebot unterbreiten wollte, das diese konkludent angenommen hat.
1. Willenserklärungen sind gemäß §§ 133, 157 BGB unter Beachtung der Gebote von Treu und Glauben auszulegen. Maßgeblich ist, wie der Empfänger die Erklärung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte verstehen durfte. Hierbei sind auch die Umstände, unter denen eine Erklärung abgegeben wurde, zu berücksichtigen. Gegenstand dieser Auslegung ist nicht nur der Inhalt von Willenserklärungen, sondern auch die vorrangige Frage, ob eine Erklärung überhaupt eine Willenserklärung darstellt.
2. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Schreiben des Bezirksbürgermeisters vom 22. November 2010 als Reaktion auf das Freistellungsverlangen der Beteiligten zu 1) gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 SGB IX vom 11. November 2010 dar. Dies ergibt sich unter Berücksichtigung der maßgeblichen Begleitumstände. Dem Schreiben des Bezirksbürgermeisters vom 22. November 2010 war ein ausdrückliches Freistellungsverlangen der Beteiligten zu 1) voraus gegangen Die Beteiligte zu 1) hat - in Übereinstimmung mit § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 SGB IX - ihre Freistellung beantragt. Das Schreiben zielte eindeutig nicht auf das Aushandeln einer weitergehenden Vereinbarung im Sinne von § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 SGB IX ab. Die Beteiligte zu 1) hat vielmehr klar zum Ausdruck gebracht, dass sie davon ausging, dass ihr ein entsprechender Anspruch bereits kraft Gesetzes zustand. Insoweit durfte sie jedoch auch das Antwortschreiben des Bezirksbürgermeisters nicht dahin gehend verstehen, dass er ihr nun eine individuelle Regelung anbieten wollte, für die aus ihrer Sicht ohnehin kein Anlass zu bestehen schien.
II. Ein Anspruch der Beteiligten zu 1) auf Freistellung von ihrer Arbeitstätigkeit ergibt sich nicht aus § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 SGB IX. Die Voraussetzungen für eine Freistellung gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 SGB IX sind nicht erfüllt.
1. Gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 SGB IX werden Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen auf Antrag von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt, wenn in dem Betrieb oder der Dienststelle, für die sie tätig sind, in der Regel wenigstens 200 schwerbehinderte Menschen beschäftigt sind.
2. Diese Voraussetzung erfüllt das Bezirksamt N. als Dienststelle des beteiligten Landes, in der die Beteiligte zu 1) als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen tätig wird, nicht.
Die Zahl der für die Dienststelle im Allgemeinen kennzeichnenden regelmäßigen beschäftigten schwerbehinderten Menschen lag unter 200. Zum einen gelten die von dem beteiligten Land gemäß § 44 g Abs. 1 SGB II an das Jobcenter N. zugewiesenen schwerbehinderten Beschäftigten des Bezirksamtes N. nicht weiter als Beschäftigte der Dienststelle des Bezirksamts N. im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX, sodass der Schwellenwert des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX bereits deshalb unterschritten ist. Zum anderen zählen diejenigen schwerbehinderten Menschen, die sich in der Freizeitphase der Altersteilzeit befinden, bei der Ermittlung der maßgeblichen Beschäftigtenzahl nicht mit, sodass aus diesem Grund zumindest seit August 2012 weniger als 200 schwerbehinderte Menschen im Bereich des Bezirksamtes N. tätig waren.
a. Beschäftigte im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX sind bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift - „in den Dienststellen [...] beschäftigt" -, nur solche Beschäftigte, die als dienststellenzugehörig angesehen werden können.
aa. Dienststellenzugehörig sind nur solche Beschäftigte, die in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zur Dienststelle stehen und innerhalb der Dienststellenorganisation abhängige Dienst- oder Arbeitsleistungen erbringen. Zu den konstitutiven Merkmalen der Dienststellenzugehörigkeit gehört deshalb grundsätzlich eine tatsächliche Eingliederung des Beschäftigten in die Organisation der Dienststelle (vgl. zum Begriff der in der Regel Beschäftigten aus § 46 BPersVG: OVG NRW 25. Oktober 2012 - 20 B 1079/12.PVB - ZTR 2013, 50; zum Begriff der in der Regel Beschäftigten aus § 16 Abs. 1 BPersVG: OVG NRW 27. September 2012 - 20 A 510/12.PVB - zitiert nach juris; zu der mit § 16 Abs. 1 BPersVG vergleichbaren Vorschrift des § 9 BetrVG die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seit BAG 18. Januar 1989 - 7 ABR 21/88 -, BAGE 61, 7; insbesondere BAG 12. November 2008 - 7 ABR 73/07 - zitiert nach juris; BAG 7. Mai 2008 - 7 ABR 17/07 - EzA § 9 BetrVG 2001 Nr. 4 = AP Nr. 12 zu § 9 BetrVG; BAG 29. Mai 1991 - 7 ABR 67/90 - BAGE 68, 74; vgl. zu § 38 BetrVG BAG 5. Dezember 2012 - 7 ABR 17/11 - NZA 2013, 690).
bb. Für dieses Verständnis des Begriffs der in der Regel Beschäftigten im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX spricht auch der Sinn und Zweck der Bestimmung.
§ 96 Abs. 4 SGB IX soll sicherstellen, dass der Umfang der Freistellung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen in einem angemessenen Verhältnis zur Zahl der dienststellenzugehörigen schwerbehinderten Menschen und zu dem hieraus resultierenden Arbeitsaufwand für die Schwerbehindertenvertretung steht. Die Schwerbehindertenvertretung kann die ihr gesetzlich übertragenen Aufgaben nämlich nur dann erfüllen, wenn sie im hierfür erforderlichen Umfang von ihrer Arbeitsverpflichtung gegenüber ihrem Dienstherrn freigestellt wird. Um die Funktionsfähigkeit der Schwerbehindertenvertretung zu gewährleisten, ist es deshalb erforderlich, den Umfang der Freistellung an dem maßgeblich durch die Anzahl der repräsentierten Beschäftigten bedingten Arbeitsaufwand auszurichten.
Deshalb ist bei der Auslegung des Beschäftigtenbegriffs im Rahmen von § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX zu berücksichtigen, dass die Interessen der nicht der Dienststelle zugehörigen Beschäftigten nicht oder zumindest nur ausnahmsweise von der Schwerbehindertenvertretung der Dienststelle vertreten werden. Der Arbeitsaufwand, der aus der Vertretung dieser Beschäftigten für die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen resultiert, ist daher deutlich geringer als der durch die Vertretung der Interessen der dienststellenzugehörigen schwerbehinderten Beschäftigten verursachte Arbeitsaufwand.
cc. Für eine Anknüpfung an die Dienststellenzugehörigkeit spricht darüber hinaus auch, dass die Regelung in § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX, wonach ab Überschreitung eines Schwellenwerts von 200 schwerbehinderten Beschäftigten in der Dienststelle, die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen ihre vollumfängliche Freistellung beanspruchen kann, ohne dass sie die Erforderlichkeit der Freistellung im Einzelnen darlegen muss, vorrangig der Verwaltungsvereinfachung dient.
§ 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX basiert aber dennoch auf dem allgemeinen Grundsatz, dass die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen freizustellen ist, wenn und soweit es nach Umfang und Art der Dienststelle zur ordnungsgemäßen Durchführung der Aufgaben erforderlich ist. Dieser Erforderlichkeitsgrundsatz ist bereits in § 96 Abs. 4 S. 1 SGB IX niedergelegt. Damit ist er § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX systematisch vorangestellt. § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX muss deshalb im Zusammenhang mit § 96 Abs. 4 S. 1 SGB IX ausgelegt werden. Dies legt eine Lesart nahe, wonach § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX eine unwiderlegbare, auf Erfahrungswerten beruhende Vermutung dahingehend aufstellt, dass die Voraussetzungen ("wenn") und die Grenzen ("soweit") des § 96 Abs. 4 S. 1 SGB IX bei Überschreitung des Schwellenwertes von 200 schwerbehinderten Beschäftigen gewahrt sind (vgl. zu § 46 BPersVG BVerwG 2. September 1996 - 6 P 3.95 -, PersV 1981, 366; OVG NRW, 25. Oktober 2012 - 20 B 1079/12.PVB - ZTR 2013, 50). Dieser Vermutungsregelung beruht auf der Prämisse, dass alle der Dienststelle zuzuordnenden schwerbehinderten Beschäftigten einen bei der Bemessung der Freistellungen zu beachtenden, etwa gleichen Arbeitsaufwand verursachen. Dies trifft aber nur bezüglich der dienststellenzugehörigen Beschäftigten zu, weil die Schwerbehindertenvertretung nur für die Vertretung dieser Beschäftigten ein umfassendes Mandat hat.
b. Unter Zugrundelegung dieser Auslegung des Beschäftigtenbegriffs im Sinne von § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX waren in der Dienststelle des Bezirksamts N. im maßgeblichen Zeitraum weniger als 200 schwerbehinderte Menschen beschäftigt.
aa. Diejenigen Beschäftigten, denen auf der Grundlage von § 44g Abs. 1 Satz 1 SGB II Tätigkeiten bei einer gemeinsamen Einrichtung, vorliegend beim Jobcenter N., zugewiesen sind, zählen bei der Bestimmung der Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX nicht mit.
(1) Sie sind durch die Entsendung an die gemeinsame Einrichtung aus der Dienststellenorganisation ausgeschieden und deshalb nicht mehr dort beschäftigt im Sinne des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX, denn sie sind nicht mehr in die Arbeitsorganisation des Bezirksamts N. eingegliedert. Die Beschäftigten, denen Tätigkeiten bei den gemeinsamen Einrichtungen zugewiesen sind, erbringen ihre Arbeitsleistung innerhalb der Arbeitsorganisation der gemeinsamen Einrichtung und unterliegen dabei ausschließlich dem Weisungsrecht des Geschäftsführers der gemeinsamen Einrichtung. Gemäß § 44 d Abs. 4 SGB II übt der Geschäftsführer der gemeinsamen Einrichtung - soweit es nicht um der Befugnisse zur Begründung und Beendigung der bestehenden Rechtsverhältnisse geht - auch alle weiteren dienst-, personal- und arbeitsrechtlichen Befugnisse gegenüber den entsendeten Beschäftigten aus. Anders als Beschäftigte, die sich in Elternzeit oder Sonderurlaub befinden, scheiden sie also nicht nur vorübergehend aus der Arbeitsorganisation ihrer Ausgangsdienststelle aus, sondern werden gleichzeitig in eine andere Dienststelle eingegliedert.
(2) Die Besonderheiten, die mit der Bildung der gemeinsamen Einrichtungen im Sinne von § 44b SGB II und der gesetzlichen Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisses der dort tätigen Beschäftigten verbunden sind, erfordern keine andere Beurteilung.
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Die Beschäftigten, denen Tätigkeiten bei den gemeinsamen Einrichtungen zugewiesen sind, sind nicht deshalb bei der Bestimmung der maßgeblichen Beschäftigtenzahl gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX einzubeziehen, weil die Schwerbehindertenvertretung des Bezirksamtes weiterhin mit Fragestellungen befasst ist, die diese Beschäftigten betreffen. Der sich hieraus ergebende Arbeitsaufwand rechtfertigt zumindest keine Gleichstellung mit den dienststellenzugehörigen schwerbehinderten Beschäftigten.
In der gemeinsamen Einrichtung wird für die dort Beschäftigten gemäß § 44i SGB II eine eigene Schwerbehindertenvertretung eingerichtet. § 44h Abs. 3 i. V. m. § 44i SGB II regelt die Rechte der Schwerbehindertenvertretung in der gemeinsamen Einrichtung. Sie ergeben sich aus § 95 SGB IX, allerdings reichen sie nur soweit wie der Trägerversammlung der gemeinsamen Einrichtung oder ihrem Geschäftsführer Entscheidungsbefugnisse zukommen. Dies ist gemäß §§ 44c Abs. 2, 44d Abs. 4 SGB II der Fall, wenn es sich um personalrechtliche, personalwirtschaftliche, soziale oder die Ordnung der Dienststelle betreffende Angelegenheiten handelt. Damit werden die Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung auf die relevanten Bereiche der gemeinsamen Einrichtung konzentriert. § 44h Abs. 5 i. V. m. § 44i SGB II stellt darüber hinaus klar, dass die Rechte der Schwerbehindertenvertretung der gemeinsamen Einrichtungen nicht die Rechte der Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen der Träger der gemeinsamen Einrichtungen berühren, soweit die Träger entscheidungsbefugt bleiben. Nach § 44d Abs. 4 SGB II handelt es sich dabei aber nur um die Befugnisse zur Begründung und Beendigung der mit den Arbeitnehmern bestehenden Rechtsverhältnisse. Insoweit ist auch das Interesse der Beschäftigten, denen auf der Grundlage von § 44g Abs. 1 Satz 1 SGB II Tätigkeiten bei einer gemeinsamen Einrichtung zugewiesen sind, an einer fortbestehenden Repräsentation durch die Schwerbehindertenvertretung der entsendenden Dienststelle begrenzt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich der Mehraufwand, der für die Schwerbehindertenvertretung im Bezirksamt N. durch die Befassung mit diesen, allein das Grundverhältnis der entsendeten schwerbehinderten Beschäftigten betreffenden Fragen, entsteht, prozentual nicht eindeutig bestimmen. Die in Betracht kommenden Fragestellungen sind aber äußerst begrenzt. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Mehraufwand in der Arbeitsbelastung die der Regelung § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX zugrunde liegende gesetzliche Vermutung durchgreifend in Frage stellen könnte, dass erst bei einer Überschreitung des Schwellenwerts von 200 Arbeitnehmern die Anforderungen, die sich aus dem Erforderlichkeitsgrundsatz für die Bemessung des Freistellungsumfangs ergeben, als gewahrt anzusehen sind.
Soweit die Beteiligte zu 1) auf die Vereinbarung zwischen der Bundesagentur für Arbeit und dem beteiligten Land nach § 44b Abs. 2 SGB II verweist, folgt hieraus ebenfalls nicht, dass die der gemeinsamen Einrichtung zugewiesenen Beschäftigten als iSd. § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB IX bei der entsendenden Dienststelle beschäftigt anzusehen sind. Soweit aus der Vereinbarung ein zusätzlicher Aufwand bei der Erfüllung der Aufgaben als Vertrauensperson resultiert, folgt hieraus vielmehr ein Freistellungsanspruch nach § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB IX.
(3) Im maßgeblichen Zeitraum standen zwischen 203 und 213 schwerbehinderten Menschen in einem Dienstverhältnis zum Bezirksamt N.. Davon waren im gleichen Zeitraum zwischen 23 und 32 schwerbehinderte Menschen an die gemeinsame Einrichtung zugewiesen. Der Schwellenwert des § § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX war mithin dauerhaft unterschritten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass prognostisch mit einer Erhöhung der Zahl schwerbehinderter Beschäftigter in der Dienststelle zu rechnen ist. Die Zahl der für die Dienststelle im Allgemeinen kennzeichnenden regelmäßigen beschäftigten schwerbehinderten Menschen liegt damit unter 200.
bb. Ferner sind auch diejenigen schwerbehinderten Menschen, die sich im streitgegenständlichen Zeitraum bereits in der Freizeitphase der Altersteilzeit befanden, bei der Ermittlung der maßgeblichen Beschäftigtenzahl gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX nicht mitzuzählen.
(1) Der Eintritt in die Freistellungsphase der Altersteilzeit führt zwar nicht zur Beendigung des Arbeitsverhältnisse, wohl aber zum Verlust der nach der oben vorgenommenen Auslegung des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX erforderlichen Zugehörigkeit zur Dienststelle. Denn die Beschäftigten scheiden mit dem Ende der aktiven Phase aus der Arbeitsorganisation aus und sind demgemäß nicht mehr in Betrieb oder in der Dienststelle beschäftigt (vgl. zu § 94 SGB IX: BAG 16. November 2005 - 7 ABR 9/05 - BAGE 116, 205).
(2) Aus der von dem Beteiligten zu 2) vorgelegten namentliche Aufstellung der schwerbehinderten Beschäftigten des Bezirksamts N., die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befinden, ergibt sich, dass bei Herausnahme der in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befindlichen Beschäftigten seit August 2012 weniger als 200 schwerbehinderte Menschen im Bereich des Bezirksamtes N. tätig waren.
III. Die Beteiligte zu 1) hat nicht dargelegt, dass sich ein vollumfänglicher Freistellungsanspruch aus § 96 Abs. 4 S. 1 SGB IX ergibt. Insbesondere hat sie nur pauschal behauptet, dass die der gemeinsamen Einrichtung zugewiesenen Beschäftigten einen erheblichen Arbeitsaufwand für sie begründen. Der Mehraufwand ist jeweils im Rahmen des konkreten Freistellungsanspruchs nach § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB IX zu berücksichtigen.
C. Die Entscheidung ergeht nach § 2 Abs. 2 GKG i. V. m. § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG gerichtskostenfrei.
D. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde beruht auf 92 Abs. 2 S. 1, 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG.