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Arbeitsrecht
23.05.2019
Arbeitsrecht
EuGH: Reichweite der Ausnahmeklausel für Betriebsübergänge in der Insolvenz-richtlinienkonformen Auslegung

EuGH, Urteil vom 16.5.2019 – C-509/17, Christa Plessers gegen Prefaco NV, Belgische Staat

ECLI:EU:C:2019:424

Volltext des Urteils://BB-ONLINE BBL2019-1275-1

 

Tenor

Die Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, insbesondere ihre Art. 3 bis 5, ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Fall eines Unternehmensübergangs, der im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens der Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts erfolgt, das angewandt wurde, um die Gesamtheit oder einen Teil des Unternehmens des Veräußerers oder seiner Tätigkeiten zu erhalten, für den Erwerber das Recht vorsehen, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte.

RL 2001/23 Art. 3, 4, 5

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 bis 5 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001, L 82, S. 16).

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Christa Plessers auf der einen Seite und der Prefaco NV und dem belgischen Staat auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit ihrer Kündigung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/23 bestimmt:

„Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.“

4          Art. 4 der Richtlinie 2001/23 lautet:

„1. Der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils stellt als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Diese Bestimmung steht etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.

Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Unterabsatz 1 auf einige abgegrenzte Gruppen von Arbeitnehmern, auf die sich die Rechtsvorschriften oder die Praxis der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Kündigungsschutzes nicht erstrecken, keine Anwendung findet.

2. Kommt es zu einer Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses, weil der Übergang eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers zur Folge hat, so ist davon auszugehen, dass die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber erfolgt ist.“

5          In Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 heißt es:

„Sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, gelten die Artikel 3 und 4 nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde.“

Belgisches Recht

6          Art. 22 der Wet betreffende de continuïteit van de ondernemingen (Gesetz über die Kontinuität der Unternehmen) vom 31. Januar 2009 (Belgisch Staatsblad vom 9. Februar 2009, S. 8436, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 1. Februar 2010, S. 4294) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: WCO) sieht vor:

„Solange das Gericht nicht über den Antrag auf gerichtliche Reorganisation entschieden hat und ungeachtet dessen, ob vor oder nach Hinterlegung des Antrags Klage erhoben oder ein Vollstreckungsverfahren eingeleitet wurde:

– kann gegen den Schuldner kein Konkursverfahren eröffnet werden und kann die Gesellschaft nicht gerichtlich aufgelöst werden, wenn der Schuldner eine Gesellschaft ist,

– kann keinerlei Verwertung beweglicher oder unbeweglicher Güter des Schuldners infolge eines Vollstreckungsverfahrens erfolgen.“

7          Art. 60 Abs. 1 WCO lautet:

„Im Urteil, mit dem die Übertragung angeordnet wird, wird ein gerichtlicher Mandatsträger bestellt, der damit beauftragt ist, die Übertragung im Namen und für Rechnung des Schuldners zu organisieren und durchzuführen. In diesem Urteil wird der Gegenstand der Übertragung bestimmt oder diese Bestimmung der Beurteilung des gerichtlichen Mandatsträgers überlassen.“

8          In Art. 61 § 4 WCO heißt es:

„Dem Erwerber ist es überlassen, die Arbeitnehmer auszusuchen, die er übernehmen möchte. Die Wahl des Erwerbers muss aus technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen erfolgen ohne verbotene Unterscheidung, insbesondere aufgrund der Tätigkeit, die als Vertreter des Personals im übertragenen Unternehmen oder übertragenen Teil des Unternehmens ausgeübt wird.

Dass diesbezüglich keine verbotene Unterscheidung gemacht wird, gilt als erwiesen, wenn das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und ihren Vertretern, die in dem übertragenen Unternehmen oder Teil des Unternehmens tätig waren, in der Gesamtanzahl vom Erwerber ausgewählter Arbeitnehmer gleich bleibt.“

9          Art. 62 WCO bestimmt:

„Die vom Gericht angeordnete Übertragung wird vom bestellten gerichtlichen Mandatsträger organisiert und durchgeführt durch Verkauf oder Übertragung der beweglichen oder unbeweglichen Aktiva, die für die Aufrechterhaltung der Gesamtheit oder eines Teils der wirtschaftlichen Tätigkeit des Unternehmens notwendig oder von Nutzen sind.

Er holt Angebote ein und achtet vorrangig auf die Aufrechterhaltung der Gesamtheit oder eines Teils der Tätigkeit des Unternehmens unter Berücksichtigung der Rechte der Gläubiger. …

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10        Frau Plessers war vom 17. August 1992 bis April 2013 bei der Echo NV am Standort Houthalen-Helchteren (Belgien) beschäftigt.

11        Am 23. April 2012 eröffnete die Rechtbank van koophandel te Hasselt (Handelsgericht Hasselt, Belgien) auf Antrag von Echo gemäß den Art. 44 bis 58 WCO ein Verfahren der gerichtlichen Reorganisation mit dem Ziel, eine Einigung der Gläubiger zu erzielen. Dem Unternehmen wurde bis zum 23. Oktober 2012, dann bis zum 22. April 2013 ein Zahlungsaufschub gewährt.

12        Am 19. Februar 2013, d. h. vor dem Ablauf des Zahlungsaufschubs, gab die Rechtbank van koophandel te Hasselt (Handelsgericht Hasselt) dem Antrag von Echo statt, die Übertragung durch Vereinbarung in eine Übertragung unter der Autorität des Gerichts zu ändern.

13        Am 22. April 2013 gestattete dieses Gericht den gerichtlichen Mandatsträgern, die beweglichen und unbeweglichen Gegenstände auf Prefaco – eines der beiden Unternehmen, die eine Bewerbung zur Übernahme von Echo eingereicht hatten – zu übertragen. In ihrem Vorschlag hatte Prefaco angeboten, 164 Arbeitnehmer, d. h. ungefähr zwei Drittel der Belegschaft von Echo, zu übernehmen.

14        Die Übertragungsvereinbarung wurde am selben Tag unterzeichnet. In Anhang 9 dieser Vereinbarung befand sich eine Liste der zu übernehmenden Arbeitnehmer. Der Name von Frau Plessers stand nicht auf dieser Liste.

15        Diese Vereinbarung sah außerdem vor, dass die Übertragung zwei Werktage nach dem Genehmigungsurteil der Rechtbank van koophandel te Hasselt (Handelsgericht Hasselt) wirksam wird.

16        Am 23. April 2013 kontaktierte Prefaco telefonisch die übernommenen Arbeitnehmer und forderte sie auf, am folgenden Tag zur Arbeit zu erscheinen. Am 24. April 2013 bestätigte Prefaco die Übernahme schriftlich. Die übrigen Arbeitnehmer wurden telefonisch kontaktiert und von den gerichtlichen Mandatsträgern mit Schreiben vom 24. April 2013 darüber informiert, dass sie von Prefaco nicht übernommen worden waren.

17        Dieses Schreiben hatte folgenden Wortlaut:

„Dieses Schreiben gilt als offizielle Mitteilung gemäß Art. 64 § 2 WCO. Die Tätigkeiten von [Echo] werden hierdurch mit Wirkung vom 22. April 2013 eingestellt. Da Sie nicht von den oben genannten Erwerbern übernommen wurden, müssen Sie dieses Schreiben als Kündigung durch Ihren Arbeitgeber [Echo] betrachten. Als potenzieller Gläubiger [von Echo] ist es angebracht, eine Forderung bei den unterzeichneten gerichtlichen Mandatsträgern … anzumelden.“

18        Die gerichtlichen Mandatsträger stellten Frau Plessers auch ein Formular aus, in dem der 23. April 2013 als Zeitpunkt der Kündigung angegeben ist.

19        Mit Schreiben vom 7. Mai 2013 forderte Frau Plessers Prefaco auf, sie zu übernehmen. Ihrer Ansicht nach hatte Prefaco den Betrieb am Standort Houthalen-Helchteren ab dem 22. April 2013 aufgenommen, dem Zeitpunkt, zu dem die Rechtbank van koophandel te Hasselt (Handelsgericht Hasselt) ihr Urteil verkündete.

20        Prefaco wies diese Aufforderung mit Schreiben vom 16. Mai 2013 zurück und verwies auf Art. 61 § 4 WCO, der dem Übernehmer das Recht einräumt, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte, sofern diese Wahl aus technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen erfolgt und keine verbotene Unterscheidung vorgenommen wird. Prefaco fügte hinzu, dass sie nicht verpflichtet sei, Frau Plessers nach der Beendigung des Arbeitsvertrags zwischen ihr und Echo wieder einzustellen.

21        Mit Klageschrift vom 11. April 2014 erhob Frau Plessers Klage bei der Arbeidsrechtbank te Antwerpen (Arbeitsgericht Antwerpen, Belgien).

22        Darüber hinaus verklagte sie am 24. Juli 2015 den belgischen Staat auf erzwungenen Streitbeitritt.

23        Mit Urteil vom 23. Mai 2016 wies die Arbeidsrechtbank te Antwerpen (Arbeitsgericht Antwerpen) alle Anträge von Frau Plessers als unbegründet zurück und erlegte ihr sämtliche Kosten auf.

24        Frau Plessers legte gegen dieses Urteil beim Arbeidshof te Antwerpen, afdeling Hasselt (Arbeitsgerichtshof Antwerpen, Abteilung Hasselt), Berufung ein, der beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist das Wahlrecht des Erwerbers nach Art. 61 § 4 WCO ... mit der Richtlinie 2001/23, insbesondere mit den Art. 3 und 5 dieser Richtlinie, vereinbar, soweit diese „gerichtliche Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts“ im Hinblick auf die Erhaltung der Gesamtheit oder eines Teils des Unternehmens des Veräußerers oder seiner Tätigkeiten erfolgt ist?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

25        Prefaco äußert Zweifel an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und führt aus, dass ihrer Ansicht nach die gestellte Frage für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit nicht relevant sei. Da sich in diesem Rechtsstreit zwei Privatpersonen gegenüberstünden, könne sich Frau Plessers nämlich nicht auf die Richtlinie 2001/23 berufen, um die Anwendung einer eindeutigen nationalen Rechtsvorschrift auszuschließen.

26        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache u. a. die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung einer unionsrechtlichen Regelung betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C-62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24 [RIW 2015, 505], sowie vom 7. Februar 2018, American Express, C-304/16, EU:C:2018:66, Rn. 31).

27        Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C-62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25 [RIW 2015, 505], sowie vom 7. Februar 2018, American Express, C-304/16, EU:C:2018:66, Rn. 32).

28        Da die von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage die Auslegung der Richtlinie 2001/23 betrifft, ist festzustellen, dass der Gerichtshof zwar zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Der Gerichtshof hat aber auch wiederholt entschieden, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegen (Urteil vom 19. April 2016, DI, C-441/14, EU:C:2016:278, Rn. 30 [RIW 2016, 694] und die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Folglich müssen die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichte bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachgekommen wird (Urteil vom 19. April 2016, DI, C-441/14, EU:C:2016:278, Rn. 31 [RIW 2016, 694] und die dort angeführte Rechtsprechung).

30        Infolgedessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in keinem Zusammenhang steht oder dass sie ein hypothetisches Problem betrifft.

31        Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Beantwortung der Frage

32        Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteile vom 13. Oktober 2016, M. und S., C-303/15, EU:C:2016:771, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 31. Mai 2018, Zheng, C-190/17, EU:C:2018:357, Rn. 27 [RIW 2019, 305]).

33        Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seiner Vorlagefrage, sich dazu zu äußern, ob die nationale Rechtsvorschrift, auf die es sich beruft, mit den Art. 3 und 5 der Richtlinie 2001/23 vereinbar ist.

34        So formuliert würde diese Frage den Gerichtshof jedoch zum einen dazu veranlassen, im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsnorm mit dem Unionsrecht zu entscheiden, wozu er nicht befugt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2015, OTP Bank, C-672/13, EU:C:2015:185, Rn. 29).

35        Zum anderen erweist sich Art. 4 der Richtlinie 2001/23, auch wenn die Vorlagefrage nicht ausdrücklich auf diese Vorschrift abzielt, als für die dem vorlegenden Gericht zu gebende Antwort relevant, da er den Schutz der Arbeitnehmer vor jeder Kündigung durch den Veräußerer oder den Erwerber aufgrund des Übergangs betrifft.

36        Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass mit ihr geklärt werden soll, ob die Richtlinie 2001/23, insbesondere ihre Art. 3 bis 5, dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Fall eines Unternehmensübergangs, der im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens der Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts erfolgt, das angewandt wurde, um die Gesamtheit oder einen Teil des Unternehmens des Veräußerers oder seiner Tätigkeiten zu erhalten, für den Erwerber das Recht vorsehen, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte.

37        Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23, sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, die Art. 3 und 4 nicht für Übergänge von Unternehmen gelten, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde.

38        Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 angesichts dessen, dass er grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der Regelung zum Schutz der Arbeitnehmer im Fall bestimmter Unternehmensübergänge führt und damit vom der Richtlinie 2001/23 zugrunde liegenden Hauptziel abweicht, zwangsläufig eng auszulegen ist (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 41 [BB 2017, 1587 Tenor, EWS 2017, 238 Tenor]).

39        Daher ist als Erstes zu ermitteln, ob der Übergang eines Unternehmens wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 vorgesehene Ausnahme fällt.

Zur Anwendbarkeit von Art. 5 abs. 1 RL 2001/23 muss gegen das betroffene Unternehmen ein Insolvenzverfahren oder ein dem ähliches Verfahren eröffnet worden sein und das Unternehmen muss unter der Aufsicht einer öffentlichen Stelle stehen

40        Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass sicherzustellen ist, dass ein solcher Übergang die drei in dieser Bestimmung aufgestellten kumulativen Voraussetzungen erfüllt, nämlich dass gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes (Insolvenz-)Verfahren eröffnet worden ist, dass dieses Verfahren zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet worden ist und dass es unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 44 [BB 2017, 1587 Tenor, EWS 2017, 238 Tenor]).

41        Was zunächst die Voraussetzung angeht, dass gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes (Insolvenz-)Verfahren eröffnet worden sein muss, ist festzustellen, dass nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften gegen den Schuldner, solange das Gericht nicht über den Antrag auf gerichtliche Reorganisation entschieden hat, kein Konkursverfahren eröffnet werden und im Fall einer Gesellschaft diese nicht gerichtlich aufgelöst werden kann.

42        Wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist jedoch zwischen den Parteien unstreitig, dass ein Verfahren der gerichtlichen Reorganisation nicht als Konkursverfahren betrachtet werden kann.

43        Zwar kann ein Verfahren der gerichtlichen Reorganisation wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende zum Konkurs des betreffenden Unternehmens führen, eine solche Folge erscheint aber weder automatisch noch gesichert.

44        Was sodann die Voraussetzung betrifft, dass das Verfahren zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet worden sein muss, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Verfahren, das auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens abzielt, diese Voraussetzung nicht erfüllt (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 47 [BB 2017, 1587 Tenor, EWS 2017, 238 Tenor] und die dort angeführte Rechtsprechung).

45        Wie unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorlagefrage hervorgeht, hat das zuständige nationale Gericht ein solches Verfahren der gerichtlichen Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts im Hinblick auf die Erhaltung der Gesamtheit oder eines Teils von Echo oder seiner Tätigkeiten angeordnet.

46        Was schließlich die Voraussetzung betrifft, dass das in Rede stehende Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle stehen muss, geht aus den nationalen Rechtsvorschriften zum einen hervor, dass der gerichtliche Mandatsträger, der mit dem Urteil, mit dem die Übertragung angeordnet wird, bestimmt wird, damit beauftragt ist, die Übertragung im Namen und für Rechnung des Schuldners zu organisieren und durchzuführen. Zum anderen muss dieser Mandatsträger Angebote einholen und vorrangig auf die Aufrechterhaltung der Gesamtheit oder eines Teils der Tätigkeit des Unternehmens unter Berücksichtigung der Rechte der Gläubiger achten. Im Fall mehrerer vergleichbarer Angebote wird dem Angebot der Vorzug gegeben, das die Erhaltung der Arbeitsplätze durch ein Sozialabkommen gewährleistet.

47        Wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die vom Mandatsträger im Rahmen des Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts so ausgeübte Kontrolle diese Voraussetzung nicht erfüllen, da ihre Tragweite eingeschränkter ist als die Kontrolle, die im Rahmen eines Konkursverfahrens ausgeübt wird.

48        Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ein Verfahren der gerichtlichen Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt und dass die unter solchen Bedingungen erfolgte Übertragung demzufolge nicht unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme fällt.

49        Somit ist festzustellen, dass die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2001/23 auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar bleiben.

50        Unter diesen Umständen ist als Zweites zu ermitteln, ob die Art. 3 und 4 dieser Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die für den Erwerber die Möglichkeit vorsehen, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte.

51        Hierzu geht zunächst aus Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 hervor, dass die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Unternehmensübergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis aufgrund des Übergangs auf den Erwerber übergehen.

52        Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, soll nämlich die Richtlinie 2001/23 einschließlich ihres Art. 3 die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Inhabers des Unternehmens dadurch gewährleisten, dass sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihr Beschäftigungsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber zu eben den Bedingungen fortzusetzen, die mit dem Veräußerer vereinbart waren. Die Richtlinie soll so weit wie möglich die Fortsetzung des Arbeitsvertrags oder des Arbeitsverhältnisses mit dem Erwerber in unveränderter Form gewährleisten, um eine Verschlechterung der Lage der betroffenen Arbeitnehmer allein aufgrund des Übergangs zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 15. September 2010, Briot, C-386/09, EU:C:2010:526, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53        Des Weiteren stellt der Übergang eines Unternehmens nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Diese Bestimmung steht jedoch etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.

54        Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass Kündigungen, die im Kontext eines Unternehmensübergangs erfolgen, aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen im Bereich der Beschäftigung, die nicht unmittelbar an diesen Übergang anknüpfen, gerechtfertigt werden müssen.

55        So hat der Gerichtshof entschieden, dass die fehlende Einigung zwischen dem Erwerber und den Vermietern über einen neuen Mietvertrag, die Unmöglichkeit, ein anderes Geschäftslokal zu finden, oder die Unmöglichkeit, das Personal auf andere Geschäfte zu verlegen, wirtschaftliche, technische oder organisatorische Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2008, Kirtruna und Vigano, C-313/07, EU:C:2008:574, Rn. 46 [EWS 2008, 534, RIW 2009, 76]).

56        Im vorliegenden Fall geht aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften hervor, dass der Erwerber das Recht hat, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte, wobei für diese Wahl technische, wirtschaftliche und organisatorische Gründe angeführt werden müssen und diese Wahl ohne verbotene Unterscheidung erfolgen muss.

57        Eine solche nationale Rechtsvorschrift zielt jedoch entgegen der Perspektive, in die sich Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 einfügt, offenbar nicht auf die Arbeitnehmer ab, denen gekündigt wird, sondern auf die, deren Arbeitsvertrag übertragen wird, wobei sich die Auswahl dieser letztgenannten Personen durch den Erwerber auf technische, wirtschaftliche und organisatorische Gründe stützen muss.

58        Es trifft zwar zu, dass die von dem betreffenden Erwerber nicht ausgewählten und somit gekündigten Arbeitnehmer implizit, aber zwangsläufig diejenigen sind, hinsichtlich deren in den Augen dieses Erwerbers kein technischer, wirtschaftlicher oder organisatorischer Grund die Übernahme des Arbeitsvertrags verlangt, dieser Erwerber ist jedoch keineswegs verpflichtet, nachzuweisen, dass die im Rahmen des Übergangs erfolgten Kündigungen Gründen technischer, wirtschaftlicher oder organisatorischer Art geschuldet sind.

59        Somit zeigt sich, dass die Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geeignet ist, die Beachtung des Hauptziels der Richtlinie 2001/23, wie es in deren Art. 4 Abs. 1 präzisiert wird und in Rn. 52 des vorliegenden Urteils dargestellt wurde, nämlich Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Kündigungen im Fall von Unternehmensübergängen zu schützen, ernstlich zu gefährden.

60        Es ist jedoch darauf hinzuweisen – wie in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils bereits hervorgehoben wurde –, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privaten befasstes nationales Gericht, das sich außerstande sieht, Bestimmungen seines nationalen Rechts im Einklang mit einer nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie auszulegen, nicht – allein auf der Grundlage des Unionsrechts – verpflichtet ist, diese gegen die Richtlinie verstoßenden nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen. Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit der Richtlinie geschädigte Partei kann sich jedoch auf die auf das Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C-6/90 und C-9/90, EU:C:1991:428 [RIW 1992, 243]), zurückgehende Rechtsprechung berufen, um von dem Mitgliedstaat gegebenenfalls den entstandenen Schaden ersetzt zu verlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Smith, C-122/17, EU:C:2018:631, Rn. 49 und 56 [RIW 2018, 674]).

61        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2001/23, insbesondere ihre Art. 3 bis 5, dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Fall eines Unternehmensübergangs, der im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens der Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts erfolgt, das angewandt wurde, um die Gesamtheit oder einen Teil des Unternehmens des Veräußerers oder seiner Tätigkeiten zu erhalten, für den Erwerber das Recht vorsehen, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte.

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