EuGH: Regelung eines Mitgliedsstaats – Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft – Sozialhilfeleistungen
EuGH, Urteil vom 21.12.2023 – C-488/21, GV gegen Chief Appeals Officer u. A.
ECLI:EU:C:2023:1013
Volltext: BB-Online BBL2024-115-1
Tenor
Der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union konkretisierte Art. 45 AEUV in Verbindung mit Art. 2 Nr. 2 Buchst. d, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und d sowie Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es den Behörden dieses Mitgliedstaats erlaubt, einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie, dem zum Zeitpunkt der Beantragung dieser Leistung von einem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft Unterhalt gewährt wird, eine Sozialhilfeleistung zu versagen oder sogar das Recht, sich für mehr als drei Monate in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten, zu entziehen, weil die Gewährung der Sozialhilfeleistung dazu führen würde, dass er keinen Unterhalt mehr von diesem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft beziehen und damit die Sozialhilfeleistungen dieses Staates unangemessen in Anspruch nehmen würde.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35 und ABl. 2007, L 204, S. 28).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen GV auf der einen Seite und dem Chief Appeals Officer (Leiter der Widerspruchsbehörde, Irland), dem Social Welfare Appeals Office (Widerspruchsbehörde in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit, Irland), dem Minister for Employment Affairs and Social Protection (Minister für Beschäftigung und Sozialschutz, Irland), Irland und dem Attorney General (Generalstaatsanwalt, Irland) auf der anderen Seite über die Gewährung einer Invaliditätsbeihilfe an GV.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 883/2004
3 Titel III der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1 und ABl. 2007, L 204, S. 30, im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) enthält ein Kapitel 9 („Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“). In diesem Kapitel sieht Art. 70 („Allgemeine Vorschrift“) der Verordnung vor:
„(1) Dieser Artikel gilt für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.
(2) Für die Zwecke dieses Kapitels bezeichnet der Ausdruck ‚besondere beitragsunabhängige Geldleistungen‘ die Leistungen:
…
c) die in Anhang X aufgeführt sind.
…“
4 Anhang X dieser Verordnung, der die „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 Buchst. c dieser Verordnung aufzählt, sieht für Irland vor, dass zu diesen Leistungen die „Invaliditätsbeihilfe (Social Welfare Consolidation Act 2005, Teil 3 Kapitel 10)“ gehört.
Verordnung (EU) Nr. 492/2011
5 Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) lautet:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“
Richtlinie 2004/38
6 In den Erwägungsgründen 3 und 5 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.
…
(5) Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden. …“
7 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 sieht in Nr. 2 Buchst. d vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
2. ‚Familienangehöriger‘
…
d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers …, denen von [diesem] Unterhalt gewährt wird“.
8 Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“
9 Kapitel III („Aufenthaltsrecht“) der Richtlinie 2004/38 umfasst u. a. die Art. 7 und 14.
10 In Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) Abs. 1 heißt es:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen …
c) – bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
– über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.“
11 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 lautet:
„Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung wird nicht systematisch durchgeführt.“
12 Art. 16 Abs. 1 in Kapitel IV („Recht auf Daueraufenthalt“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.“
Irisches Recht
Regulations 2015
13 Die Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 im irischen Recht sind in den European Communities (Free Movement of Persons) Regulations 2015 (Verordnung von 2015 über die Freizügigkeit in den Europäischen Gemeinschaften, im Folgenden: Regulations 2015) enthalten, die ab dem 1. Februar 2016 an die Stelle der European Communities (Free Movement of Persons) (No. 2) Regulations 2006 (Verordnung Nr. 2 von 2006 über die Freizügigkeit in den Europäischen Gemeinschaften) vom 18. Dezember 2006 getreten sind.
14 Regulation 3 (5) (b) der Regulations 2015 definiert den „anerkannten Familienangehörigen des Unionsbürgers“ wie folgt:
„(i) der Ehegatte oder Lebenspartner des Unionsbürgers,
(ii) ein Verwandter in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers oder des Ehegatten oder Lebenspartners des Unionsbürgers,
(I) der unter 21 Jahre alt ist, oder
(II) dem von dem Unionsbürger oder dessen Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewährt wird, oder
(iii) ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers oder von dessen Ehegatten oder Lebenspartner, dem von diesen Unterhalt gewährt wird.“
15 Das Recht, sich in Irland aufzuhalten, ist in Regulation 6 der Regulations 2015 festgelegt. In Regulation 6 (3) (a) heißt es:
„Ein Unionsbürger kann sich für einen Zeitraum von über drei Monaten im Staat aufhalten, wenn er
(i) im Staat eine abhängige oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, [oder]
(ii) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er das staatliche Sozialhilfesystem nicht unangemessen in Anspruch nimmt, und für sich und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, [oder]
(iii) in einer vom Staat anerkannten oder finanzierten Bildungseinrichtung zu dem hauptsächlichen Zweck eingeschrieben ist, dort ein Studium zu absolvieren, und für sich und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt und dem Minister durch eine Erklärung oder auf andere Weise nachweist, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er die Sozialhilfeleistungen des Staates nicht unangemessen in Anspruch nimmt, oder
(iv) vorbehaltlich von (4) ein Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der eine oder mehrere der unter (i), (ii) oder (iii) genannten Voraussetzungen erfüllt.“
16 Regulation 11 (1) der Regulations 2015 enthält die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung eines Rechts auf Aufenthalt in Irland. Diese Bestimmung sieht vor:
„Wer sich gemäß Regulation 6, 9 oder 10 im Staat aufhält, darf sich so lange dort weiterhin aufhalten, wie er die einschlägigen Bestimmungen der betreffenden Regulation erfüllt und die staatlichen Sozialhilfeleistungen nicht unangemessen in Anspruch nimmt.“
Act 2005
17 Section 210 (1) und (9) des Social Welfare Consolidation Act 2005 (konsolidiertes Sozialschutzgesetz von 2005, im Folgenden: Act 2005) bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Acts hat Anspruch auf eine Beihilfe (‚Invaliditätsbeihilfe‘), wer
(a) das 16. Lebensjahr vollendet, aber noch nicht das Rentenalter erreicht hat;
(b) aufgrund einer spezifizierten Behinderung in der Ausübung einer Beschäftigung (auf die in diesem Kapitel als ‚angemessene Beschäftigung‘ Bezug genommen wird), die seinem Alter, seiner Erfahrung und seinen Qualifikationen entspräche, wenn er nicht an dieser Behinderung leiden würde, erheblich eingeschränkt ist, unabhängig davon, ob er eine Dienstleistung für die Ausbildung von behinderten Personen gemäß Section 68 des Health Act, 1970 (Gesundheitsgesetz von 1970) in Anspruch nimmt oder nicht;
(c) vorbehaltlich von (2) über wöchentliche finanzielle Mittel verfügt, die den Betrag der (eventuell erhöhten) Invaliditätsbeihilfe nicht übersteigen, die er nach Kapitel 10 erhielte, wenn er über keine finanziellen Mittel verfügte.
…
(9) Anspruch auf Invaliditätsbeihilfe nach dieser Section hat nur, wer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Staates hat.“
18 Section 246 (1) und (5) des Acts 2005 bestimmt:
„(1) Das in jeder der in (3) genannten Bestimmungen enthaltene Erfordernis eines gewöhnlichen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Staates bedeutet, dass eine Beihilfe nur erhält,
(a) wer bei und nach Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Staates hat;
(b) wer ein Arbeitnehmer oder Selbständiger ist, der sich gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 … im Hoheitsgebiet des Staates aufhält;
(c) wer Familienangehöriger einer unter (b) genannten Person ist …
…
(5) Ungeachtet von (1) bis (4) und vorbehaltlich von (9) gilt nicht als im Staatsgebiet gewöhnlich aufhältig, wer kein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Staates hat.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
19 GV ist rumänische Staatsangehörige und die Mutter von AC, die ebenfalls rumänische Staatsangehörige ist und in Irland wohnt und arbeitet. AC hat zudem durch Einbürgerung die irische Staatsangehörigkeit erworben.
20 Zwischen 2009 und 2016 hielt sich GV mehrmals in Irland auf, bevor sie jeweils nach Rumänien oder Spanien zurückkehrte. Außerdem war sie finanziell von ihrer Tochter abhängig, die ihr regelmäßig Geld schickte.
21 Seit 2017 wohnt GV mit ihrer Tochter in Irland. Am 28. September 2017 stellte GV wegen der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands infolge von Arthritis einen Antrag nach dem Act 2005 auf Gewährung von Invaliditätsbeihilfe.
22 Das vorlegende Gericht führt aus, dass es sich bei dieser Beihilfe, die die Berechtigten vor Armut schützen solle, um eine Sozialhilfeleistung handle, die gezahlt werde, ohne dass der Betreffende Sozialversicherungsbeiträge entrichtet haben müsse. Außerdem geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Betroffene diese Beihilfe nur unter bestimmten Voraussetzungen in Bezug auf sein Alter, seine Behinderung und seine Existenzmittel erhalte. Darüber hinaus schließe das irische Recht die Zahlung dieser Beihilfe an eine Person aus, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Irland habe, wie dies bei einer Person ohne Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat der Fall sei. Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es sich bei der Invaliditätsbeihilfe um eine „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 handle.
23 Mit Bescheid vom 27. Februar 2018 wurde der Antrag von GV auf Invaliditätsbeihilfe abgelehnt. Der von GV gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch wurde mit Bescheid vom 12. Februar 2019 zurückgewiesen. Grund für die Ablehnung des Antrags und die Zurückweisung des Widerspruchs war, dass GV kein Recht auf Aufenthalt in Irland habe.
24 Auf den von einer Nichtregierungsorganisation im Namen von GV gestellten Antrag hin wurde der Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2019 überprüft. Mit Bescheid vom 2. Juli 2019 stellte der Appeals Officer (Bediensteter der Widerspruchsbehörde, Irland) fest, dass GV als Verwandte in gerader aufsteigender Linie einer in Irland beschäftigten Unionsbürgerin, der von dieser Unterhalt gewährt werde, zwar ein Aufenthaltsrecht habe, dass ihr aber keine Sozialhilfeleistungen zustünden.
25 Es wurde eine Überprüfung beim Leiter der Widerspruchsbehörde beantragt. Dieser bestätigte mit Entscheidung vom 23. Juli 2019, dass GV keine Invaliditätsbeihilfe zustehe, da sie sonst nach Regulation 11 (1) der Regulations 2015 die nationalen Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nähme und somit kein Aufenthaltsrecht mehr hätte.
26 GV erhob beim High Court (Hohes Gericht, Irland) Klage gegen diese Entscheidung. Mit Urteil vom 29. Mai 2020 hob dieser die Entscheidung vom 23. Juli 2019 auf. In diesem Urteil wurde insbesondere festgestellt, dass Regulation 11 (1) der Regulations 2015 insofern mit der Richtlinie 2004/38 unvereinbar sei, als sie das Aufenthaltsrecht eines Familienangehörigen eines irischen Staatsbürgers – wie GV – davon abhängig mache, dass der Familienangehörige die staatlichen Sozialhilfeleistungen nicht unangemessen in Anspruch nehme. Ein Familienangehöriger, der zum Zeitpunkt seines Nachzugs zu einem Unionsbürger nachweislich von diesem abhängig sei, behält nach Ansicht des High Court (Hohes Gericht) sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat auch dann, wenn ihm vom Unionsbürger kein Unterhalt mehr gewährt werden sollte.
27 Der Leiter der Widerspruchsbehörde und der Minister für Beschäftigung und Sozialschutz legten gegen das Urteil des High Court (Hohes Gericht) Berufung beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), dem vorlegenden Gericht, ein.
28 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass nach Ansicht des Ministers für Beschäftigung und Sozialschutz der Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 das Erfordernis enthalte, dass dem Familienangehörigen vom betreffenden Unionsbürger so lange Unterhalt gewährt werde, wie er das abgeleitete Aufenthaltsrecht geltend mache. Wenn das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Familienangehörigen und dem Unionsbürger u. a. wegen der Zahlung einer Sozialhilfeleistung wie der Invaliditätsbeihilfe ende, könne der Familienangehörige, der dann von den Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats finanziell abhängig werde, somit kein solches Aufenthaltsrecht mehr haben. Eine solche Auslegung werde zum einen sowohl durch den Wortlaut dieser Bestimmung als auch durch den von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gestützt und stehe zum anderen nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs.
29 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass GV hingegen im Wesentlichen geltend mache, dass Regulation 11 (1) der Regulations 2015 insofern rechtswidrig sei, als darin anders als in Art. 7 der Richtlinie 2004/38 normiert sei, dass ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers mit Unionsbürgerschaft, der aufgrund seiner Abhängigkeit von diesem ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht habe, nur dann Anspruch auf Sozialhilfeleistungen habe, wenn er die „staatlichen Sozialhilfeleistungen nicht unangemessen in Anspruch“ nehme. Nach Ansicht von GV werde ihr Standpunkt durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „Abhängigkeit“ bestätigt. Außerdem verletze das Vorbringen des Ministers für Beschäftigung und Sozialschutz ihr in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 garantiertes Recht auf Gleichbehandlung.
30 In diesem Zusammenhang hat der Court of Appeal (Berufungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das abgeleitete Aufenthaltsrecht eines Verwandten in gerader aufsteigender Linie eines Unionsbürgers, der Arbeitnehmer ist, gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 an die Bedingung geknüpft, dass dieser Verwandte weiterhin von dem Arbeitnehmer abhängig ist?
2. Hindert die Richtlinie 2004/38 einen Aufnahmemitgliedstaat daran, den Zugang eines Familienangehörigen eines Unionsbürgers – der Arbeitnehmer ist –, dem ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zukommt, weil er von diesem Arbeitnehmer abhängig ist, zu einer Sozialhilfeleistung zu beschränken, wenn der Zugang zu einer solchen Leistung bedeuten würde, dass er nicht mehr von diesem Arbeitnehmer abhängig wäre?
3. Hindert die Richtlinie 2004/38 einen Aufnahmemitgliedstaat daran, den Zugang eines Familienangehörigen eines Unionsbürgers – der Arbeitnehmer ist –, dem ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zukommt, weil er von diesem Arbeitnehmer abhängig ist, zu einer Sozialhilfeleistung mit der Begründung zu beschränken, dass die Zahlung der Leistung dazu führen würde, dass der betreffende Familienangehörige Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nähme?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
31 Mit Schriftsatz, der am 19. März 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben die Beklagten des Ausgangsverfahrens nach der Stellung der Schlussanträge der Generalanwältin beantragt, gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs das mündliche Verfahren wiederzueröffnen.
32 Zur Stützung ihres Antrags machen die Beklagten des Ausgangsverfahrens im Wesentlichen geltend, dass die Generalanwältin mit ihrem Vorschlag, den Begriff „Abhängigkeit“ nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. d und Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 weit auszulegen, d. h. dahin, dass er sich auf die Notwendigkeit einer „emotionalen Unterstützung“ und damit auf Bedürfnisse beziehe, die nichtmateriell – insbesondere nichtfinanziell – sein könnten, die Grenzen des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits überschritten und folglich vorgeschlagen habe, ultra petita zu entscheiden.
33 Außerdem sei die Frage, ob dieser Begriff ganz oder teilweise eine emotionale Abhängigkeit umfassen könne, weder im schriftlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung erörtert worden. Daher sei ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich.
34 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen stellt, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Die Schlussanträge des Generalanwalts oder ihre Begründung binden den Gerichtshof nicht (Urteil vom 12. Mai 2022, Schneider Electric u. a., C‑556/20, EU:C:2022:378, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Außerdem hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Umstand, dass ein Beteiligter im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein kann, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 12. Mai 2022, Schneider Electric u. a., C‑556/20, EU:C:2022:378, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Zwar kann der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für seine Entscheidung ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den Beteiligten im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
37 Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof jedoch über alle Informationen, die für seine Entscheidung erforderlich sind, und es ist kein Vorbringen entscheidungserheblich, das nicht im schriftlichen und mündlichen Verfahren erörtert worden wäre. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Frage der Tragweite des Begriffs „Abhängigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d und Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38, namentlich die Frage, ob diese Abhängigkeit emotionaler Natur sein kann, insbesondere in der mündlichen Verhandlung erörtert worden ist.
38 Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens enthält auch keine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung wäre, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu treffen hat.
39 Der Gerichtshof gelangt deshalb nach Anhörung der Generalanwältin zu der Auffassung, dass kein Grund besteht, die Wiedereröffnung des Verfahrens zu beschließen.
Zu den Vorlagefragen
40 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage der Form nach auf die Auslegung der Richtlinie 2004/38 beschränkt hat, dadurch nicht gehindert ist, diesem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei dieser Fragestellung darauf Bezug genommen hat (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass AC, eine rumänische Staatsangehörige und Tochter von GV, nachdem sie von ihrer Freizügigkeit durch Aufenthalt und Arbeit in Irland Gebrauch gemacht hatte, im Jahr 2016 durch Einbürgerung die irische Staatsangehörigkeit erworben hat.
42 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die etwaigen Rechte, die die Richtlinie 2004/38 Familienangehörigen eines Unionsbürgers verleiht, die selbst die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, anders als die eigenständigen Rechte, die diese Angehörigen aufgrund ihrer eigenen Eigenschaft als Unionsbürger aus dieser Richtlinie herleiten können, von den Rechten abgeleitet sind, die der Unionsbürger aufgrund der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit genießt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Die Richtlinie 2004/38 regelt jedoch allein die Voraussetzungen, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als in den seiner eigenen Staatsangehörigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf. Vor dem Hintergrund, dass ein Mitgliedstaat nach völkerrechtlichen Grundsätzen seinen eigenen Staatsangehörigen das Recht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und dort zu bleiben, nicht verwehren kann und diese Staatsangehörigen dort folglich über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht verfügen, ist diese Richtlinie nicht dazu bestimmt, das Recht eines Unionsbürgers auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu regeln. In Anbetracht der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung ist die Richtlinie demnach auch nicht dazu bestimmt, Familienangehörigen dieses Unionsbürgers ein Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat zu verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 33 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass im vorliegenden Fall seit der Einbürgerung von AC in Irland die Richtlinie 2004/38 grundsätzlich nicht mehr dazu bestimmt ist, ihr Recht auf Aufenthalt in Irland oder das abgeleitete Aufenthaltsrecht zu regeln, das gegebenenfalls ihren Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie, wie GV, zusteht.
45 Allerdings hat der Gerichtshof entschieden, dass die Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich rechtmäßig in einen anderen Mitgliedstaat begeben und sich dort aufgehalten hat, nicht mit einem rein innerstaatlichen Sachverhalt gleichgesetzt werden kann, nur weil dieser Staatsangehörige im Zuge seines Aufenthalts die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats zusätzlich zu seiner ursprünglichen Staatsangehörigkeit erworben hat. Er hat daraus geschlossen, dass die praktische Wirksamkeit der Rechte, die Unionsbürgern nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zustehen, es verlangt, dass ein Unionsbürger, der sich in einer solchen Situation befindet, im Aufnahmemitgliedstaat, nachdem er die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats gegebenenfalls zusätzlich zu seiner ursprünglichen Staatsangehörigkeit erworben hat, weiterhin die Rechte aus dieser Bestimmung genießen und insbesondere in diesem Mitgliedstaat ein normales Familienleben führen kann, indem er dort mit seinen Familienangehörigen zusammenlebt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 49, 52 und 53).
46 Art. 21 Abs. 1 AEUV, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, hat u. a. in Art. 45 AEUV hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer eine besondere Ausprägung erfahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, MH und ILA [Rentenansprüche im Fall der Insolvenz], C‑168/20, EU:C:2021:907, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Daraus folgt, dass die praktische Wirksamkeit der Rechte, die Arbeitnehmern der Union nach Art. 45 Abs. 1 AEUV zustehen, es verlangt, dass ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers mit Unionsbürgerschaft, der, nachdem er von seiner Freizügigkeit durch Aufenthalt und Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat Gebrauch gemacht hatte, die Staatsangehörigkeit dieses Staates erworben hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht hat.
48 Dabei dürfen die Voraussetzungen für die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts an den Familienangehörigen nicht strenger sein als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38 für die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts an einen Familienangehörigen eines Unionsbürgers vorsieht, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Auch wenn diese Richtlinie eine Situation wie die oben in Rn. 45 beschriebene nicht regelt, ist sie auf eine solche entsprechend anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 45 Abs. 2 AEUV die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst. Diese Bestimmung wird für das spezifische Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen konkretisiert in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, wonach ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie inländische Arbeitnehmer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 44 und 78).
50 Aus der oben in den Rn. 45 und 48 angeführten Rechtsprechung ergibt sich mutatis mutandis, dass der Umstand, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat und sich dort aufhält, in der Folge die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats zusätzlich zu seiner ursprünglichen Staatsangehörigkeit erwirbt, nicht zum Verlust des Rechts auf Gleichbehandlung nach Art. 45 AEUV in seiner Konkretisierung durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 führen darf und dass die Voraussetzungen für die Gewährung sozialer Vergünstigungen nicht strenger sein dürfen als die in der letztgenannten Bestimmung angeführten.
51 Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die Vorlagefragen zu beantworten, die in diesem Zusammenhang so zu verstehen sind, dass sie sich auf die Auslegung von Art. 45 AEUV in seiner Konkretisierung durch das Sekundärrecht beziehen.
52 Insoweit ist es ausweislich der Vorlageentscheidung unbestritten, dass es sich bei GV um eine Verwandte in gerader aufsteigender Linie handelt, der von einer Arbeitnehmerin mit Unionsbürgerschaft, nämlich von AC, Unterhalt gewährt wurde, und zwar sowohl zu dem Zeitpunkt, zu dem sie dieser Arbeitnehmerin in diesen Mitgliedstaat nachfolgte, als auch zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Gewährung einer Invaliditätsbeihilfe beantragte. Der Minister für Beschäftigung und Sozialschutz vertritt jedoch im Wesentlichen die Ansicht, dass die Zahlung dieser Beihilfe an GV zur Folge hätte, dass dieser nicht mehr von ihrer Tochter, sondern vom Sozialhilfesystem Irlands Unterhalt gewährt würde. Folglich erfülle GV die Voraussetzung nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 nicht mehr, was dazu führe, dass sie ihr abgeleitetes Aufenthaltsrecht, das sie im Aufnahmemitgliedstaat genieße, gemäß Regulation 11 (1) der Regulations 2015 verliere, wonach die Aufrechterhaltung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts eines Verwandten in gerader aufsteigender Linie u. a. daran geknüpft sei, dass dieser die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehme.
53 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen, ob der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 konkretisierte Art. 45 AEUV in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es den Behörden dieses Mitgliedstaats erlaubt, einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie, dem zum Zeitpunkt der Beantragung dieser Leistung von einem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft Unterhalt gewährt wird, eine Sozialhilfeleistung zu versagen oder sogar das Recht, sich für mehr als drei Monate in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten, zu entziehen, weil die Gewährung der Sozialhilfeleistung dazu führen würde, dass er keinen Unterhalt mehr vom Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft beziehen und damit die Sozialhilfeleistungen dieses Staates unangemessen in Anspruch nehmen würde.
54 Erstens hat nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38, der ausweislich der oben in Rn. 48 angeführten Rechtsprechung entsprechend anzuwenden ist, das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate, wer „ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht“.
55 Der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 verwendete Begriff „Familienangehöriger“, der entsprechend anzuwenden ist, wird in Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie definiert und bezeichnet u. a. unter Buchst. d die „Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers …, denen von [diesem] Unterhalt gewährt wird“.
56 Somit ergibt sich aus Art. 2 Nr. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und d der Richtlinie 2004/38, dass die Verwandten in gerader aufsteigender Linie eines Arbeitnehmers mit Unionsbürgerschaft ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate haben, wenn ihnen von diesem Arbeitnehmer „Unterhalt gewährt wird“.
57 Zu dieser Voraussetzung hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt, zu dem der betreffende Familienangehörige den Nachzug zu dem Unionsbürger beantragt, der ihm Unterhalt gewährt, im Herkunftsland dieses Familienangehörigen bestehen muss (Urteil vom 16. Januar 2014, Reyes, C‑423/12, EU:C:2014:16, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hatte der Gerichtshof in der Rechtssache, in der die in der vorstehenden Randnummer angeführte Rechtsprechung ergangen ist, jedoch über die Voraussetzungen zu befinden, die zu dem Zeitpunkt erfüllt sein müssen, zu dem der Betroffene ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat beantragt, und nicht über jene, die der Betroffene erfüllen muss, um dieses Recht zu behalten.
59 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38 Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach u. a. Art. 7 der Richtlinie zusteht, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
60 Aus Art. 14 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 2 Buchst. d und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und d der Richtlinie 2004/38 ergibt sich somit, dass ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie eines Arbeitnehmers mit Unionsbürgerschaft ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht hat, solange ihm von diesem Arbeitnehmer Unterhalt gewährt wird bzw. bis er nach rechtmäßigem ununterbrochenem fünfjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat das Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 beanspruchen kann.
61 Eine solche Auslegung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 impliziert, dass diese Eigenschaft, auch wenn sie in der Vergangenheit erworben wurde, später verloren gehen kann, wenn die Voraussetzungen – insbesondere die in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie genannten, auf die Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie Bezug nimmt – nicht mehr erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah, C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass GV von ihrer Tochter, d. h. AC, sowohl zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihr nachzog, als auch zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Invaliditätsbeihilfe beantragte, Unterhalt gewährt wurde. Daher erfüllte GV zum Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzung für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 als „Familienangehöriger“.
63 Zweitens genießt, wie sich oben aus den Rn. 49 und 50 ergibt, ein Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft das Recht auf Gleichbehandlung nach Art. 45 Abs. 2 AEUV in seiner Konkretisierung durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, und zwar auch in einer Situation wie der von AC, die während ihres Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat dessen Staatsangehörigkeit zusätzlich zu ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit erworben hat.
64 Der Begriff „soziale Vergünstigungen“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 umfasst nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im Allgemeinen gewährt werden, und zwar hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland, und deren Erstreckung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Union und daher auch ihre Integration im Aufnahmemitgliedstaat zu fördern (Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Dieser Begriff kann Sozialhilfeleistungen umfassen, die zugleich in den besonderen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen, wie dies dem vorlegenden Gericht zufolge bei der Invaliditätsbeihilfe der Fall ist (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Mai 1993, Schmid, C‑310/91, EU:C:1993:221, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass eine Sozialhilfeleistung wie die einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie gewährte Invaliditätsbeihilfe für den Wanderarbeitnehmer eine „soziale Vergünstigung“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 darstellt, wenn dem Verwandten vom Wanderarbeitnehmer im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 Unterhalt gewährt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Juni 1987, Lebon, 316/85, EU:C:1987:302, Rn. 12 und 13). Darüber hinaus kann sich ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie, dem Unterhalt gewährt wird, als mittelbarer Nutznießer der dem Wanderarbeitnehmer zuerkannten Gleichbehandlung auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 berufen, um diese Beihilfe zu erhalten, wenn sie nach nationalem Recht unmittelbar solchen Verwandten in aufsteigender Linie gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 1992, Bernini, C‑3/90, EU:C:1992:89, Rn. 26, sowie vom 14. Dezember 2016, Bragança Linares Verruga u. a., C‑238/15, EU:C:2016:949, Rn. 40).
67 Wie die Generalanwältin in Nr. 106 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wäre nämlich ein Wanderarbeitnehmer in seinem Recht auf Gleichbehandlung verletzt, wenn er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie Unterhalt gewährt, diesem aber eine Sozialhilfeleistung, die für den Wanderarbeitnehmer eine „soziale Vergünstigung“ darstellt, versagt worden ist, während Verwandte in gerader aufsteigender Linie von Arbeitnehmern des Aufnahmemitgliedstaats Anspruch darauf haben.
68 Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 schützt somit vor Diskriminierungen, denen der Wanderarbeitnehmer und seine Familienangehörigen, einschließlich der in Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 genannten, im Aufnahmemitgliedstaat ausgesetzt sein könnten.
69 Daraus folgt, dass die Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie, dem im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 „Unterhalt gewährt“ wird, durch die Gewährung einer Sozialhilfeleistung im Aufnahmemitgliedstaat nicht berührt wird. Eine andere Entscheidung liefe nämlich darauf hinaus, dass die Gewährung einer solchen Leistung dem Betroffenen die Eigenschaft eines Familienangehörigen, dem Unterhalt gewährt wird, nehmen und folglich die Streichung dieser Leistung oder sogar den Verlust seines Aufenthaltsrechts rechtfertigen könnte. Eine solche Lösung würde es in der Praxis dem Familienangehörigen, dem Unterhalt gewährt wird, verbieten, diese Leistung zu beantragen, und dadurch die dem Wanderarbeitnehmer zuerkannte Gleichbehandlung beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 1987, Lebon, 316/85, EU:C:1987:302, Rn. 20).
70 Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 2 Buchst. d, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und d sowie Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 trägt somit zu dem mit dieser Verordnung verfolgten Ziel bei, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu fördern, da sie es erlaubt, bestmögliche Bedingungen für die Integration der Familienangehörigen von Unionsbürgern zu schaffen, die von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht und im Aufnahmemitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 51).
71 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Wanderarbeitnehmer mit den Abgaben, die er an den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen seiner dort ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichtet, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Mitgliedstaats beiträgt und folglich davon unter den gleichen Bedingungen profitieren muss wie die inländischen Arbeitnehmer. Daher kann das Ziel, eine übermäßige finanzielle Belastung für den Aufnahmemitgliedstaat zu vermeiden, eine Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern und inländischen Arbeitnehmern nicht rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande, C‑542/09, EU:C:2012:346, Rn. 66 und 69).
72 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 konkretisierte Art. 45 AEUV in Verbindung mit Art. 2 Nr. 2 Buchst. d, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und d sowie Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es den Behörden dieses Mitgliedstaats erlaubt, einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie, dem zum Zeitpunkt der Beantragung dieser Leistung von einem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft Unterhalt gewährt wird, eine Sozialhilfeleistung zu versagen oder sogar das Recht, sich für mehr als drei Monate in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten, zu entziehen, weil die Gewährung der Sozialhilfeleistung dazu führen würde, dass er keinen Unterhalt mehr von diesem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft beziehen und damit die Sozialhilfeleistungen dieses Staates unangemessen in Anspruch nehmen würde.