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Arbeitsrecht
25.01.2008
Arbeitsrecht
: Kein Nachteilsausgleich bei Möglichkeit der kurzfristigen Wiederaufnahme der Produktion

ArbG Bautzen, Urteil vom 29.11.2007 - 6 Ca 6125/07

LEITSATZ

Nach § 113 Abs. 3 BetrVG hat ein Arbeitnehmer, der infolge einer Betriebsänderung entlassen wird, Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn der Arbeitgeber mit der Umsetzung der Betriebsänderung beginnt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben. Nach dem ArbG Bautzen stellt der Abschluss eines Kauf- und Übertragungsvertrags über das Vorratsvermögen, sämtliche Aufträge und einige Patente des Arbeitgebers noch keinen Beginn einer Betriebsstilllegung dar, wenn mit den noch vorhandenen Betriebsmitteln unter Berücksichtigung der branchenspezifischen Besonderheiten eine Wiederaufnahme der Produktion bis zum Abschluss des Interessenausgleichs jederzeit kurzfristig möglich ist. Unter diesen Umständen ergreift der Arbeitgeber durch den Abschluss eines solchen Kauf- und Übertragungsvertrags keine unumkehrbaren Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation.


Sachverhalt:

Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Nachteilsausgleich, gemäß § 113 Absatz 3 BetrVG i. V. m. § 10 KSchG.

Der am 28.04.1974 geborene, verheiratete und drei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit dem 30.05.2000 bei der Beklagten als Muster- und Designlackierer mit einer monatlichen Vergütung in Höhe von 1:584,41 € brutto beschäftigt.

Bei der Beklagten handelt es sich um einen Betrieb zur Herstellung und Produktion von Fahrrädern; diese erfolgte ausschließlich im Auftrage Dritter. Es wurden aus von Lieferanten bezogenen Einzelteilen Fahrräder montiert. Die Fertigung von Einzelteilen von Fahrrädern war nicht Gegenstand des Geschäftsbetriebes.

Im November 2005 verkaufte der damalige Alleinaktionär der B. AG den gesamten Geschäftsbetrieb an den amerikanischen Finanzinvestor. Im August 2006 wurde die B. mit den Gesellschaften B. GmbH N. (Beklagte) und B. B. S. neu aufgestellt. Die Beklagte beschäftigte in N. 240 Mitarbeiter inklusive Auszubildender und leitender Angestellte. Im Betrieb der Beklagten bestand ein Betriebsrat.

Am 04.12.2006 fasste die Gesellschafterversammlung der Beklagten einen Beschluss folgenden Inhaltes:

1. Der gesamte Betrieb der Gesellschaft in N. soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt stillgelegt, spätestens zum 31.12.2006 stillgelegt werden.

2. Die Arbeitsverhältnisse aller im Betrieb der Gesellschaft in N. beschäftigten Arbeitnehmer der sind zum nächstmöglichen Termin zu beenden.

3. Der Geschäftsführer der Gesellschaft wird angewiesen, die zur Umsetzung der Beschlüsse unter Ziffern 1 und 2 erforderlichen Maßnahmen, unter Wahrung der gesetzlichen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats der Gesellschaft, unverzüglich zu durchzuführen."

Am 05.12.2006 schloss die Beklagte mit einer g. 233 GmbH einen Kauf- und Übertragungsvertrag bezüglich ihrer gesamten Aufträge und Vorräte für in Millionen €, ohne den Betriebsrat hierüber zu unterrichten. Die Veräußerung umfasste auch folgende drei Patente der Beklagten:

            Lastenfahrrad mit Vorderrad/Gepäckträger,

            Fahrradrahmen für Lastfahrräder und

            feststellbares Lenkungslager.

Zudem vermietete die Beklagte Teile ihrer Lager an die M. AG und schloss das Lager in T.

Am 06.12.2006 informierte die Beklagte den Betriebsrat über die beabsichtigte Werkschließung zum 31.12.2006 und forderte diesen auf, Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan aufzunehmen. Diese wurden noch während des laufenden Produktionsprozesses aufgenommen.

Am 07.12.2006 informierte die Beklagte die gesamte Belegschaft im Rahmen einer Betriebsversammlung über die beabsichtigte Stilllegung.

Die Produktion bei der Beklagten wurde noch bis zum 22.12.2006 fortgeführt. Die Mitarbeiter im Produktionsbereich wurden ab 05.01.2007 widerruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt. Bereits während der Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen wurden mit zehn Mitarbeitern Aufhebungsverträge abgeschlossen und es begann die Vermittlung von Auszubildenden an andere Betriebe. Sämtliche Auszubildenden konnten anderweitig untergebracht werden und ihre Ausbildungsverhältnisse wurden am 26.02.2007 gekündigt.

Im Rahmen eines Einigungsstellenverfahrens wurde am 06.02.2007 ein Interessenausgleich und Sozialplan abgeschlossen.

Die Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse erfolgte am 21.02.2007. Das Arbeitsverhältnis des Klägers endete erst durch dreiseitigen Vertrag zwischen ihm, der Beklagten und der Transfergesellschaft O. am 28.02.2007. Der Kläger wechselte mit Wirkung zum 01.03.2007 in ein befristetes Arbeitsverhältnis mit der Transfergesellschaft. Der dreiseitige Vertrag wurde am 23.02.2007 geschlossen.

Der Kläger machte seinen Anspruch auf Nachteilsausgleich gegenüber der Beklagten schriftlich geltend, welcher mit Schreiben vom 15.05.2007 von dieser abgelehnt wurde.

Der Kläger ist der Auffassung, ihm stehe ein Anspruch auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 Absatz 1 BetrVG zu, da der Arbeitgeber dem Versuch des Abschlusses eines Interessenausgleiches gemäß § 112 Absatz 2 und 3 BetrVG nicht rechtzeitig nachgekommen sei. Die Beklagte habe die Betriebsänderung der Stilllegung durchgeführt, ohne zuvor einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben. Mit der Veräußerung der Aufträge und des Vorratsvermögens am 05.12.2006 sei die Grundlage der Unternehmensfortführung entzogen worden. Die Beklagte habe vollendete Tatsachen geschaffen; dem Betriebsrat sei dadurch die Möglichkeit genommen worden, auf das Ob und Wie der geplanten Betriebsänderung Einfluss nehmen zu können. Die bei der Beklagten verbliebenen Maschinen seien von untergeordneter Bedeutung. Ab dem 05.12.2006 habe von einer intakten Betriebsorganisation nicht mehr gesprochen werden können. Die Mitarbeiter seien freigestellt worden. Eine Aufhebung der Freistellung sei von Anfang an nicht beabsichtigt gewesen. Arbeitsverhältnisse seien durch Kündigungen oder Aufhebungsverträge beendet worden. Neben zehn geschlossenen Aufhebungsverträgen seien auch zwei Kündigungen ausgesprochen worden, und zwar gegenüber Frau G. und Herrn L. Im Rahmen der Aufhebungsverträge seien der Vertriebsleiter M. und die Arbeitnehmer W. O. W. und H. aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und zur M. AG gewechselt.

Zudem habe man bereits während der Interessenausgleichsverhandlungen Teile des Anlagevermögens Dritten zum Kauf angeboten und eine Vielzahl von Vertragsbeziehungen, wie Versicherungen, Mietverträge und Lizenzverträge aufgelöst. Garantie- und Gewährleistungsabschlüsse seien ab 05.12.2006 von der M. AG erfüllt worden.

Mit der Auflösung des Lagers in T., welches das einzige Fertigteillager gewesen sei, habe es auch keine vergleichbaren Lagerflächen mehr gegeben.

Unter Berücksichtigung all dieser Tatsachen sei eine intakte Betriebsorganisation nicht mehr vorhanden und eine Wiederaufnahme der Produktion nicht mehr möglich gewesen. Für diese wäre eine Vorlaufzeit von zwei bis drei Monaten für die Materialanforderung erforderlich gewesen. Hierzu wäre noch der Transport aus dem asiatischen Raum per Schiff von vier bis sechs Wochen hinzugekommen. Auch bei einer Beschaffung der Teile aus dem nichtasiatischen Raum sei eine Aufnahme der Produktion frühestens in acht Wochen möglich gewesen.

Die Beklagte habe somit mit der Durchführung der Betriebsänderung bereits vor Aufnahme der Interessenausgleichsverhandlungen begonnen und sei daher zur Zahlung eines Nachteilsausgleiches verpflichtet.

Auf ein Verschulden der Beklagten komme es nicht an. Die Höhe der Abfindung richte sich nach § 10 Absatz 2 KSchG. Unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Klägers und des Sanktionscharakters des § 113 Absatz 3 BetrVG sollte eine Abfindung in Höhe von sechs Monatsverdiensten und somit ca. 10.000,00 € nicht unterschritten werden.

Der Kläger beantragt, die Beklagte zur Zahlung einer Abfindung zu verurteilen, deren Höhe das Gericht gemäß § 10 KSchG festsetzt.

Die Beklagte beantragt Klageabweisung.

Sie ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Zahlung eines Nachteilsausgleiches nicht vorliegen.

Ausgangspunkt der Veräußerung der Kundenaufträge und Vorräte seien die fortlaufenden Verluste der Beklagten gewesen, die am 31.10.2006 ca. 10.383.539,00 € betragen hätten. Ende November, Anfang Dezember 2006 sei daher die Liquidität der Beklagten aufgebraucht gewesen. Eine erfolgsorientierte Fortführung der Gesellschaft mit Ausgleich der Verluste und Schaffung von Liquidität sei nicht mehr möglich gewesen. Die Beklagte habe daher vor der Frage gestanden, entweder Insolvenz anzumelden oder aber die Vorratsbestände und Aufträge zu verkaufen, um eine möglichst geordnete und sozialverträgliche Abwicklung des Betriebes sicherzustellen. Sie habe sich für Letzteres entschieden.

Die Beklagte habe weder durch den Beschluss der Betriebsstilllegung vom 04.12.2006 und den Kauf- und Übertragungsvertrag vom 05.12.2006 noch durch sonstige Maßnahmen, wie den Abschluss von Aufhebungsverträgen, die Vermittlung von Auszubildenden, die Einstellung der Produktion, die widerrufliche Freistellung von Arbeitnehmern, der Auflösung einer Vielzahl von Vertragsbeziehungen und der Aufgabe von Lagerkapazitäten mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen. Es seien insbesondere keine unumkehrbaren Maßnahmen im Sinne der Rechtsprechung getroffen worden.

Die unternehmerische Entscheidung vom 04.12.2006 stelle noch keine Durchführung der Betriebsänderung dar. Hierbei handele es sich lediglich um die Weichenstellung, über was mit dem Betriebsrat im Rahmen von Interessenausgleichsverhandlungen zu verhandeln sei. Hierzu benötige das Unternehmen selbst ein klares Bild von der Betriebsänderung.

Auch durch die Veräußerung der Aufträge und der Vorräte sowie dreier Patente sei mit der Durchführung der Betriebsänderung noch nicht begonnen worden. Denn die Beklagte habe keine unumkehrbaren Maßnahmen, die einer Wiederaufnahme der Produktionstätigkeit entgegengestanden hätten, vorgenommen.

So habe die Beklagte lediglich das so genannte Umlaufvermögen, bei welchem es sich um einen Durchlaufposten handele, verkauft. Hierunter fallen u. a. die Materialien und die Aufträge. Das für die Produktion wichtige Anlagevermögen sei bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleiches nicht angetastet worden und habe weiterhin zur Verfügung gestanden. Für die Produktion benötige man lediglich das Know-how, die Mitarbeiter, die Fertigungsstraßen einschließlich der vorhandenen Spezialwerkzeuge, somit das so genannte Anlagevermögen. Dieses sei erst nach Abschluss des Interessenausgleiches und Sozialplanes verwertet worden.

Der Betrieb sei in seiner Grundstruktur mindestens bis zum Abschluss des Interessenausgleiches bestehen geblieben. Die Mitarbeiter seien lediglich widerruflich freigestellt worden und hätten kurzfristig zur Wiederaufnahme der Produktion zur Verfügung gestanden. Es sei auch mit einem geringen zeitlichen Vorlauf jederzeit möglich gewesen, mit der Produktion fortzufahren. Sämtliche für den Fortbestand ihrer betrieblichen Organisation wesentlichen Vertragsbeziehungen seien erst nach dem Abschluss des Interessenausgleichs gekündigt worden, insbesondere habe auch der Miet- bzw. Pachtvertrag bezüglich des Firmengeländes mit einer Lagerkapazität von immerhin noch 90 % fortbestanden.

Da der Markt in der Herstellungsbranche von Fahrrädern ohne langfristige Vertragsbeziehungen zwischen Lieferanten und Unternehmen auskäme und lediglich die Kenntnis der Lieferanten des Marktes und der Auftraggeber entscheidend sei, wäre es kurzfristig möglich gewesen, Aufträge zu akquirieren, Materialien zu beziehen, die Arbeitnehmer wieder zur Arbeit aufzufordern und die Produktion aufzunehmen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass innerhalb weniger Tage Materialien aus Tschechien und Ungarn sowie dem europäischen Ausland per Lkw und auch Materialien aus dem asiatischen Raum per Flugzeug beschafft werden könnten. Ferner habe die Beklagte neben den drei verkauften über weitere Patente verfügt; zudem wäre auch eine Lizenznahme in Betracht gekommen. Insofern sei die Wiederaufnahme der Produktion in einem Zeitrahmen von unter einem Monat möglich gewesen. Dies werde auch durch die Vorgänge bei dem Schwesterunternehmen B. S. GmbH in N. deutlich. Obwohl dieser Betrieb seit Januar 2007 über kein Umlaufvermögen, keine eigenen Patente und keine Kundenverträge mehr verfügt habe, sei es ihm möglich gewesen, nach Neubeschaffung von Materialien wieder Fahrräder zu produzieren.

Darüber hinaus habe sie auch nicht vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen mit der Durchführung der Betriebsänderung durch Abschluss von Aufhebungsverträgen und durch den Ausspruch von Kündigungen begonnen. Bei den zehn geschlossenen Aufhebungsverträgen seien die Arbeitnehmer aus eigener Motivation auf die Beklagte zugekommen, um aus dem Unternehmen auszuscheiden, da sie eine andere Arbeitsstelle gefunden hätten. So sei es, auch bei dem Vertriebsleiter M. gewesen, der von der M. AG ein konkretes Abwerbeangebot erhalten habe, was er auch angenommen habe. Hierin realisiere sich lediglich ein allgemeines Lebensrisiko. Die Stelle des Vertriebsleiters hätte von Herrn S. übernommen werden können. Frau G. nicht durch Kündigung, sondern durch dreiseitigen Vertrag ausgeschieden und in die Transfergesellschaft gewechselt. Herr L. habe bereits im März 2006 eine verhaltensbedingte Kündigung erhalten. Diese sei in einem Kündigungsschutzprozess angegriffen worden. Der Prozess habe mit einem Vergleich und dem Ausscheiden des Mitarbeiters geendet. Sämtliche Mitarbeiter, die durch Aufhebungsvertrag ausgeschieden seien, hätten keine Abfindung erhalten.

Damit. stehe jedoch fest, dass die Beklagte ihre Betriebsorganisation zumindest bis zum Abschluss des Interessenausgleiches aufrechterhalten und keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen habe. Mit der Durchführung der Betriebsänderung sei somit nicht vor Abschluss des Interessenausgleiches begonnen worden.

Doch selbst wenn dem Kläger ein Anspruch auf Nachteilsausgleich zustehen würde, sei bei dessen Höhe zu berücksichtigen, dass ein Sozialplan mit einem Volumen von 3,6 Millionen € abgeschlossen worden sei, von dem auch der Kläger partizipiert habe. Zudem sei das geringe Verschulden der Beklagten zu berücksichtigen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze samt ihrer Anlagen sowie auf die Verhandlungsprotokolle Bezug genommen.

Aus den Gründen:

I. 1. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 Absatz 3 i. V. m. Absatz 1 BetrVG i. V. m. § 10 KSchG nicht zu. Die Beklagte hat die Betriebsänderung erst nach Abschluss des Interessenausgleichs durchgeführt.

2. Gemäß § 113 Absatz 3 i. V. m. Absatz 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Die Regelung findet auch im Insolvenzverfahren uneingeschränkt Anwendung (BAG, Urteil vom 22.07.2003 - 1 AZR 541/02 - AP Nr. 42 zu § 113 BetrVG 1972 und Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - AP Nr. 5 zu § 209 Ins0). Der Anspruch entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben (BAG, Urteil vom 22.11.2005 - 1 AZR 407/04 - AP Nr. 5 zu § 615 BGB Anrechnung und Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - a. a. 0.). Der Unternehmer beginnt mit der Durchführung einer Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit (BAG, Urteil vom 22.112005 - 1 AZR 407/04 - a. a. O. und Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - a. a. 0.). Ihre Durchführung beginnt, sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse oder auch nur die Arbeitsverhältnisse aller leitenden Angestellten zum Zwecke der Betriebsstilllegung kündigt (BAG, Urteil vom 04.06.2003 - 10 AZR 586/02 - AP Nr. 2 zu § 209 Ins0 und Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - a. a. 0.).

3. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht dem Kläger kein Anspruch auf Nachteilsausgleich zu. Zwar hat die Beklagte ihren Betrieb mit 240 Mitarbeitern einschließlich der Auszubildenden und leitenden Angestellten stillgelegt und damit eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG durchgeführt. Der Kläger ist auch infolge der Stilllegung aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Die Beklagte hat aber mit der Durchführung der Stilllegung nicht vor Abschluss des Interessenausgleiches und Sozialplanes am 06.022007 begonnen. Die von ihr getroffenen Maßnahmen stellten noch keine endgültigen unumkehrbaren Stilllegungshandlungen dar.

a) Allein die Beschlussfassung der Beklagten zur Stilllegung des Betriebes vom 04.12.2006 stellt noch nicht den Beginn der Durchführung der Betriebsänderung dar. Denn es ist dem Arbeitgeber nicht verwehrt, ohne vorherige Beteiligung des Betriebsrates Entschlüsse zu einer Betriebsänderung zu fassen. Insoweit sichert § 113 Absatz 3 BetrVG kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei unternehmerischen Entschlüssen, sondern lediglich bei deren Umsetzung. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates nach § 111 BetrVG setzen sogar voraus, dass der Arbeitgeber konkrete Planungen hinsichtlich einer Betriebsänderung hat, die den Gegenstand der zwischen den Betriebsparteien zu führenden Verhandlungen vorgeben (BAG, Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - a. a. 0.). Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Ziffer 3 des Beschlusses vom 04.12.2006 die ausdrückliche Anweisung enthält, die zur Betriebsstilllegung erforderlichen Maßnahmen unter Wahrung der gesetzlichen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates durchzuführen.

b) Die Beklagte hat auch nicht durch Abschluss des Kauf- und Übertragungsvertrages mit der g. GmbH mit der Betriebsstilllegung begonnen.

Denn die klagende Partei hat weder dargelegt noch unter Beweis gestellt, dass durch diesen Vertrag die betriebliche Organisation der Beklagten auf Dauer aufgelöst worden ist und dass die insoweit geschaffenen Umstände unumkehrbar waren.

Es ist der klagenden. Partei zwar zuzugeben, dass mit der Veräußerung des gesamten Vorratsvermögens, der gesamten Aufträge und der drei Patente (Lastenfahrrad mit Vorderrad/ Gepäckträger, Fahrradrahmen für Lastenfahrräder und feststellbares Lenkungslager) ein wesentlicher für die Produktion von Fahrrädern erforderlicher Teil aus der Hand gegeben würde. Soweit jedoch darüber hinaus behauptet wird, die Maschinen und sonstigen Werkzeuge seien demgegenüber lediglich von untergeordneter Bedeutung, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Denn für die Produktion von Fahrrädern, wie sie von der Beklagten betrieben worden ist, sind zum einen die Maschinen, Fertigungsstraßen und vorhandenen Spezialwerkzeuge sowie zum anderen die Mitarbeiter und das bestehende Know-how die Grundvoraussetzung jeglicher Produktion. Dieses so genannte Anlagevermögen ist bei der Beklagten jedoch zumindest bis zum Abschluss des Interessenausgleiches am 06.02.2007 unangetastet geblieben. Die bloße Behauptung der klagenden Partei, die Beklagte habe Teile des Anlagevermögens bereits während der Interessenausgleichsverhandlungen Dritten angeboten und verkauft, ist nicht ausreichend. Nach dem substantiierten Bestreiten der Beklagten ist sie jeglichen weiteren konkreten Tatsachenvortrag, der einem Beweis zugänglich gewesen wäre, schuldig geblieben. Gleiches gilt für den Vortrag der klagenden Partei, die Beklagte habe eine Vielzahl von Vertragsbeziehungen, wie Versicherungen, Mietverträge und Lizenzverträge bereits während der laufenden Interessenausgleichsverhandlungen gekündigt. Die Beklagte hat diesen nicht weiter untersetzten Vortrag durch Vorlage der entsprechenden Kündigungen oder sonstigen Regelungen, betreffend Miet- bzw. Pachtverhältnis der Betriebsstätte, Wartungsvertrag für das Management-, Planungs-, Informations- und Frühwarnsystem C. Versicherungen bei der L. GmbH & Co. KG, Bewachungsverträge mit der K. GmbH & Co. KG, Telekommunikationsleistungen mit der T. GmbH und Energieversorgungsleistungen widerlegt.

Die Kammer geht daher davon aus, dass aufgrund des zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleiches noch vorhandenen kompletten Anlagevermögens und der für die Produktion notwendigen sonstigen vertraglichen Beziehungen sowie der zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekündigten Mitarbeiter, die lediglich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung vorübergehend freigestellt worden waren, noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen worden sind, die eine Fortsetzung der Produktion unmöglich machten. Denn unstreitig sind die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter der Beklagten erst nach dem Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen gekündigt worden. Die Mitarbeiter wurden aufgrund des zur Akte gereichten Musterfreistellungsschreibens (Anlage B 3 zum Beklagtenschriftsatz vom 05.11.2007) nur unter dem Vorbehalt des Widerrufs von der Arbeitsleistung freigestellt. Sie mussten sich ausweislich dieses Schreibens unter Angabe einer aktuellen Rufnummer für den Notfall oder für die kurzfristige Beschäftigungsaufnahme verfügbar halten. Soweit die klagende Partei dem entgegenhält, dass die Beklagte zu keinem Zeitpunkt beabsichtigte, die Arbeitnehmer nochmals zur Arbeit heranzuziehen, ist dies unbeachtlich. Insoweit kommt es lediglich auf die objektive Sachlage an. Der Kläger wurde erst mit Sehreiben vom 12.02.2007 unwiderruflich freigestellt.

Des Weiteren geht die Kammer davon aus, dass es in der Fahrräder produzierenden Branche durchaus möglich ist, mit einer kurzen Anlaufzeit Aufträge zu akquirieren und notwendiges Material zu beschaffen. So hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass der Markt in dieser Branche ohne langfristige Vertragsbeziehungen zwischen Lieferanten und Unternehmen arbeitet, um möglichst bei dem billigsten Anbieter seine Waren zu beziehen. Wichtig sei insofern die Kenntnis der einschlägigen Lieferanten und des Marktes. Materialien seien in Tschechien und Ungarn in kürzester Zeit per Lkw zu erhalten. Selbst aus dem asiatischen Raum sei ein kurzfristiger Bezug von Materialien per Flugzeug möglich. Bereits in weniger als vier Wochen hätte man die Produktion wieder aufnehmen können. Die klagende Partei vermochte diesen Vortrag nicht zu entkräften. Selbst nach ihrer Auffassung wäre die Aufnahme der Produktion nach etwa acht Wochen wieder möglich gewesen. Gestützt wird die Argumentation der Beklagten auch durch die Vorgänge bei der in Ni. Obwohl dieser Betrieb seit Januar 2007 über kein Umlaufvermögen, keine eigenen Patente und keine Kundenverträge mehr verfügte, war es ihm möglich, nach der Neubeschaffung von Materialien wieder Fahrräder zu produzieren.

Waren allerdings zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleiches noch alle Produktionsmittel in Form des Anlagevermögens und alle Mitarbeiter verfügbar und waren auch Aufträge und Materialien kurzfristig beschaffbar, so kann in der Veräußerung der Aufträge und Vorräte noch nicht der Beginn der Durchführung der Betriebsänderung gesehen werden. Daran vermag auch die Veräußerung der drei Patente nichts zu ändern. Denn die Beklagte hat insofern unwidersprochen vorgetragen, dass sie noch über weitere Patente verfügte, die zur Produktion von Fahrrädern hätten genutzt werden können. Darüber hinaus hat sie auch auf eine mögliche Herstellung von Fahrrädern als Lizenznehmer hingewiesen. Letztlich vermochte auch nicht die Verringerung der Lagerkapazität zu einem anderweitigen Ergebnis zu führen. Denn nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beklagten waren auf dem Betriebsgelände ausreichend Lagerkapazitäten vorhanden, um für die Produktion benötigtes Material und hergestellte Produkte zu lagern.

c) Auch die Einstellung der Produktion am 23.12.2006 und die Freistellung des ganz überwiegenden Teils der Arbeitnehmer Anfang des Jahres 2007 stellte noch nicht den Beginn der Betriebsstilllegung dar. Bei der Einstellung der Produktion oder der sonstigen betrieblichen Tätigkeit handelt es sich um keine unumkehrbare Maßnahme. Sie kann regelmäßig jederzeit rückgängig gemacht werden, insbesondere dann, wenn die betriebliche Organisation zunächst als solche erhalten geblieben ist (BAG, Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - a. a. 0.). Dies war vorliegend jedoch, wie bereits unter 13 b der Urteilsgründe dargestellt, der Fall.

Die Beklagte hatte mit der Betriebsstilllegung auch nicht durch Kündigung der Mitarbeiter begonnen. Ausweislich des unbestrittenen Vortrages der Beklagten sind sämtliche Mitarbeiter erst mit Schreiben vom 21.02.2007 und damit nach Abschluss der Verhandlungen über den Interessenausgleich gekündigt worden. Die Arbeitnehmer sind sodann erst zum 28.02.2007 bei der Beklagten ausgeschieden und mit Wirkung ab dem 01.03.2007 in die Transfergesellschaft gewechselt. Vorliegend sind die Arbeitnehmer zunächst widerruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt worden, womit der Arbeitgeber die Konsequenz aus der Einstellung der Produktion zum 23.12.2006 gezogen hat. Insofern war die Freistellung der Arbeitnehmer auch durchaus noch umkehrbar, wie bereits oben unter 13 b der Urteilsgründe dargestellt.

d) Die Beklagte hat jedoch auch nicht durch den Abschluss von zehn Aufhebungsverträgen während der Interessenausgleichsverhandlungen sowie durch die Kündigungen der Frau G. und des Herrn L. mit der Durchführung der Betriebsstilllegung begonnen. Denn die Beklagte hat die Namen der durch Aufhebungsvertrag ausgeschiedenen Mitarbeiter offengelegt und darauf hingewiesen, dass diese Mitarbeiter aus eigenem Entschluss auf die Beklagte zugekommen sind, weil sie einen anderen Arbeitsplatz gefunden und daher selbst um einen Aufhebungsvertrag gebeten hatten. Diesem Ansinnen sei die Beklagte nachgekommen. Die durch Aufhebungsvertrag ausgeschiedenen Mitarbeiter haben auch keine Abfindung wegen des Verlustes des Arbeitsplatzes erhalten. Diesem Vortrag ist die klagende Partei nicht entgegengetreten.

Soweit der Kläger darauf hinweist, dass die Beklagte zumindest durch den Aufhebungsvertrag mit dem Vertriebsleiter M. die Durchführung der Betriebsstilllegung begonnen hätte, ist ihm zwar zuzugeben, dass nach der Rechtsprechung des BAG die Kündigung sämtlicher leitenden Angestellten dann die Durchführung einer Betriebsänderung darstellt, wenn nach Ablauf ihrer Kündigungsfristen eine Leitungsebene nicht mehr vorhanden ist, was mit der Veräußerung von für die Produktion wichtigen Maschinen oder der Kündigung von Lieferantenverträgen, ohne die eine Betriebsfortführung nicht möglich wäre, vergleichbar ist (BAG, Urteil vom 04.06.2003 - 10 AZR 586102 - a. a. O.). Vorliegend handelte es sich jedoch lediglich um einen 'leitenden Mitarbeiter der Beklagten. Auch wenn es sich dabei um den Vertriebsleiter handelte, vermag die Kammer darin nicht den Wegfall der kompletten Leitungsebene erkennen. So hat auch die Beklagte darauf hingewiesen, dass die Funktion des Vertriebsleiters durchaus durch Herrn S. bei einer Fortführung der Produktion hätte übernommen werden können.

Auch die Kündigungen der Frau G. und des Herrn L. vermögen an dem gefundenen Ergebnis nichts zu ändern. So hat die Beklagte ausgeführt, dass Frau G. auf der Grundlage eines dreiseitigen Überleitungsvertrages aus dem Unternehmen ausgeschieden und in die Transfergesellschaft übergewechselt sei. Herr L. sei bereits im März 2006 aus verhaltensbedingten Gründen außerordentlich gekündigt worden und aufgrund eines im August 2006 in einem Kündigungsschutzprozess abgeschlossenen Vergleiches aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Auch diesem Vortrag ist die klagende Partei im Ergebnis nicht entgegengetreten.

e) Letztlich führt auch die Vermittlung der Auszubildenden bereits während der laufenden Interessenausgleichsverhandlungen nicht zu dem Ergebnis, dass die Beklagte mit der Durchführung der Betriebsstilllegung begonnen hatte. Denn zum einen sind sämtliche Ausbildungsverhältnisse erst mit Schreiben vom 26.02.2007 und damit nach Ablauf des Abschlusses des Interessenausgleiches und Sozialplanes gekündigt worden, andererseits reicht allein der Versuch, die Auszubildenden in andere Betriebe zu vermitteln, nicht aus, um von dem Beginn der Durchführung der Betriebsstilllegung auszugehen. Denn nach der Rechtsprechung des BAG ist die uneingeschränkte Weiterverfolgung des Betriebszweckes regelmäßig nicht vom Fortbestand der Ausbildungsverhältnisse abhängig, wenn es sich nicht um solche Betriebe handelt, bei denen der Betriebszweck gerade in der Ausbildung liegt (BAG, Urteil vom 30.05.2006 - 1 AZR 25/05 - a. a. O.). Um einen derartigen Betrieb handelt es sich jedoch bei der Beklagten gerade nicht. Reicht jedoch selbst die Kündigung der Ausbildungsverhältnisse nicht aus, um den Beginn der Auflösung der Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu begründen, so vermag dies erst recht nicht der Beginn der Vermittlung der Auszubildenden in ein Ausbildungsverhältnis bei einem anderen Betrieb.

4. Damit steht jedoch im Ergebnis fest, dass die Beklagte eicht mit der Durchführung der Betriebsstilllegung begonnen hatte, bevor sie den Interessenausgleich und Sozialplan mit dem Betriebsrat abgeschlossen hatte. Die Voraussetzungen eines Anspruches auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 Absatz 3 i. V. m. Absatz 1 BetrVG i. V. m. § 10 KSchG liegen somit nicht vor.

Nach alledem war, wie geschehen, mit der Kostenfolge von § 46 Absatz 2 ArbGG i. V. m. § 91 ZPO zu erkennen.

III. Die Festsetzung des Streitwertes im Urteil ergibt sich aus dem Sachvortrag, den die klagende Partei zur Höhe des erstrebten Nachteilsausgleiches erbracht hat (§§ 61 Absatz 1, 46 Absatz 2 ArbGG i. V. m. § 3 ZPO). Da sie sich sechs Monatsgehälter mit einem Betrag von 10.000,00 € vorgestellt hatte, war dieser Betrag als Streitwert anzusetzen.

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