LAG Berlin: Kein Anspruch auf Unterlassung einer Betriebsänderung jenseits des § 23 BetrVG
LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.12.2013 - 17 TaBVGa 2058/13
Amtliche Leitsätze
1. Es besteht außerhalb des Anwendungsbereiches des § 23 Abs. 3 BetrVG kein materiell-rechtlicher Anspruch des Betriebsrats, vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen eine Betriebsänderung zu unterlassen.
2. Die Unterrichtungsansprüche und Beratungsansprüche des Betriebsrats nach § 11 BetrVG können durch einstweilige Verfügung gesichert werden; dabei kommt auch ein Verbot, Kündigungen auszusprechen, in Betracht.
3. Besteht die Betriebsänderung allein in der Entlassung von Arbeitnehmern und hat ein erforderliches Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG noch nicht stattgefunden, fehlt in der Regel ein Verfügungsgrund für ein gerichtliches Kündigungsverbot.
§ 111 BetrVG, § 17 KSchG, § 938 ZPO
Sachverhalt
I.
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung der Arbeitgeberin, bis zum Abschluss von Interessenausgleichsverhandlungen keine Kündigungen auszusprechen.
Die Arbeitgeberin führt ein Callcenter und beschäftigt derzeit 326 Arbeitnehmer. Sie zeigte der Agentur für Arbeit unter dem 25.11., 26.11. und 04.12.2013 Entlassungen von 50, 39 und 46 Arbeitnehmern an und schlug dem Betriebsrat mit Schreiben vom 27.11.2013 die Einrichtung einer betrieblichen Einigungsstelle zum Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans vor. Die Beteiligten einigten sich auf einen Vorsitzenden der Einigungsstelle und einen ersten Verhandlungstermin am 20.12.2013. Beratungen der Beteiligten über die beabsichtigten Kündigungen fanden nicht statt; eine Zusage der Arbeitgeberin, bis zum Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen keine Kündigungen auszusprechen, erfolgte nicht.
Der Betriebsrat hat mit seinem am 28.11.2013 eingegangenen Antrag den Erlass einer einstweiligen Verfügung begehrt, mit der der Arbeitgeberin untersagt werden sollte, bis zum Abschluss der Verhandlungen über einen Interessenausgleich betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag durch Beschluss vom 28.11.2013 mit der Begründung zurückgewiesen, dem Betriebsrat stehe der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nicht zu; wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 03.12.2013 eingelegte Beschwerde des Betriebsrats, der eine Untersagung betriebsbedingter Kündigungen zur Sicherung seiner Rechte nach § 111 Satz 1 BetrVG weiterhin für geboten hält.
Der Betriebsrat beantragt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 28.11.2013 - 35 BVGa 17362/13 zu ändern und
1. der Arbeitgeberin zu untersagen, betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen,
solange Verhandlungen über einen Interessenausgleich entsprechend § 112 BetrVG einschließlich eines eventuellen Einigungsstellenverfahrens nicht abgeschlossen sind;
2. der Arbeitgebern für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die genannte Verpflichtung ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, anzudrohen.
Die Arbeitgeberin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten in der Beschwerdeinstanz wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze vom 03. und 05.12.2013 nebst Anlagen Bezug genommen.
Aus den Gründen
II.
Die Beschwerde ist unbegründet.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu Recht zurückgewiesen.
1. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist auch in Angelegenheiten, über die im Beschlussverfahren zu entscheiden ist, zulässig, § 85 Abs. 2 ArbGG. Der Betriebsrat kann deshalb einen ihm zustehenden Anspruch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes sichern lassen, sofern ohne eine alsbaldige Regelung die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert wird (§ 935 ZPO). Auch eine einstweilige Verfügung zum Zwecke eines einstweiligen Zustandes (§ 940 ZPO) sowie eine auf Erfüllung eines Anspruchs gerichtete einstweilige Verfügung ist möglich, sofern sie für einen effektiven Rechtsschutz erforderlich ist. Der Erlass der einstweiligen Verfügung setzt in allen Fällen einen Verfügungsanspruch sowie einen Verfügungsgrund voraus (vgl. hierzu Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 8.Auflage 2013, § 85 Rn. 29 ff.).
2. Der Betriebsrat hat gegen die Arbeitgeberin keinen materiell-rechtlichen Anspruch, bis zum Abschluss von Interessenausgleichsverhandlungen den Ausspruch von Kündigungen zu unterlassen.
Ein Unterlassungsanspruch ergibt sich zunächst nicht aus § 23 Abs. 3 BetrVG. Nach dieser Vorschrift kann dem Arbeitgeber aufgegeben werden, eine Handlung zu unterlassen, wenn er grob gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz verstoßen hat; erforderlich ist eine objektiv erhebliche und offensichtlich schwerwiegende Pflichtverletzung (BAG, Beschluss vom 07.02.2012 - 1 ABR 77/10 - AP Nr. 128 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Dabei kann dahinstehen, ob die Arbeitgeberin in Bezug auf die geplanten Entlassungen ihre Unterrichtungs- und Beratungspflichten nach § 111 Satz 1 BetrVG ordnungsgemäß erfüllt hat. Denn ein - einmal angenommener - Verstoß der Arbeitgeberin gegen diese betriebsverfassungsrechtlichen Verpflichtungen wäre keinesfalls als „grob" in dem genannten Sinn anzusehen. Die Arbeitgeberin hat mit der Einigung über einen Vorsitzenden und einen Verhandlungstermin der Einigungsstelle deutlich gemacht, dass sie grundsätzlich zur Unterrichtung über die geplanten Entlassungen und zu diesbezüglichen Beratungen mit dem Betriebsrat bereit ist. Auch ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Arbeitgeberin bereits zuvor ihre genannten Verpflichtungen verletzt hatte. Bei dieser Sachlage kommt ein durch eine einstweilige Verfügung durchzusetzender Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG nicht in Betracht.
Wie das Arbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung zu Recht ausgeführt hat, besteht außerhalb des Anwendungsbereichs des § 23 Abs. 3 BetrVG kein Anspruch des Betriebsrats, bei einer geplanten Betriebsänderung den Ausspruch von Kündigungen zu unterlassen. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung ist insoweit nicht erfolgt. Auch kann ein derartiger Unterlassungsanspruch nicht aus den Beteiligungsrechten des Betriebsrats bei Betriebsänderungen abgeleitet werden. Anders als im Bereich der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 BetrVG steht dem Betriebsrat bei Betriebsänderungen lediglich ein Unterrichtungs- und Beratungsrecht zu. Eine Verletzung dieser Rechte hat nicht die Unwirksamkeit der Betriebsänderung zur Folge; der Arbeitgeber ist bei der Entlassung von Arbeitnehmern allenfalls zum Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG verpflichtet. Der Erlass einer auf Unterlassung von Kündigungen gerichteten Leistungsverfügung kommt nach alledem nicht in Betracht (vgl. hierzu Richardi, BetrVG, 13. Auflage 2012, § 111 Rn. 166 ff.; Fitting, BetrVG, 26. Auflage 2012, § 111 Rn. 131 ff., jeweils mit umfangreichen Nachweisen auch zur gegenteiligen Auffassung).
3. Der Arbeitgeberin war der Ausspruch der beabsichtigten Kündigungen auch nicht zur Sicherung des Unterrichtungs- und Beratungsanspruchs des Betriebsrats zu untersagen.
a) In Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplante Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten, § 111 Satz 1 BetrVG. Eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG kann dabei - was sich aus § 112a Abs. 1 BetrVG ergibt - auch allein in der Entlassung von Arbeitnehmern bestehen. Bei einer Massenentlassung i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG ist der Betriebsrat zudem nach Maßgabe des § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG zu unterrichten; Arbeitgeber und Betriebsrat haben ferner die Möglichkeit zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern, § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG. Werden diese Unterrichtungs- und Beratungsansprüche des Betriebsrats gefährdet, kommt insoweit grundsätzlich der Erlass einer Sicherungsverfügung in Betracht. Dabei kann das Gericht dem Arbeitgeber auch den Ausspruch von Kündigungen untersagen, wenn dies zur Sicherung der Ansprüche erforderlich ist, § 938 Abs. 1 ZPO.
b) Es ist im vorliegenden Verfahren nicht umstritten, dass die Arbeitgeberin den Betriebsrat nicht nur von den beabsichtigten Kündigungen zu unterrichten, sondern auch die genannten Beratungsansprüche des Betriebsrats zu erfüllen hatte. Ob eine ausreichende Unterrichtung des Betriebsrats im Zeitpunkt der mündlichen Anhörung vor der Beschwerdekammer bereits erfolgt war, kann dahinstehen; jedenfalls hatte eine Beratung über die Kündigungen noch nicht stattgefunden, so dass insoweit ein Verfügungsanspruch des Betriebsrats bestand. Dem Betriebsrat steht jedoch ein Verfügungsgrund nicht zur Seite. Seine Unterrichtungs- und Beratungsansprüche sind derzeit nicht gefährdet, so dass für die Beschwerdekammer auch keine Veranlassung bestand, der Arbeitgeberin den Ausspruch der Kündigungen zu untersagen. Angesichts der von der Arbeitgeberin initiierten Bildung einer Einigungsstelle, die bereits am 20.12.2013 ihre Tätigkeit aufnehmen und dabei auch für Verhandlungen über einen Interessenausgleichs zuständig sein sollte, kann schon nicht angenommen werden, die Arbeitgeberin werde den Interessenausgleichsverhandlungen durch den vorherigen Ausspruch der Kündigungen die Grundlage entziehen und sei auch zur ausreichenden Unterrichtung des Betriebsrats nicht bereit; dies gilt umso mehr, als die Arbeitgeberin in diesem Fall mit Nachteilsausgleichsansprüchen der Arbeitnehmer nach § 113 BetrVG rechnen müsste. Vor allem aber ist die Arbeitgeberin gegenwärtig auch rechtlich nicht in der Lage, die genannten Ansprüche des Betriebsrats durch den Ausspruch der Kündigungen zu gefährden. Die Betriebsparteien haben - wie ausgeführt - über die Entlassungen bislang nicht beraten; ein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG hat deshalb noch nicht stattgefunden. Ohne die ordnungsgemäße Durchführung eines Konsultationsverfahrens ausgesprochene Kündigungen verstoßen jedoch gegen ein gesetzliches Verbot und sind deshalb nach § 134 BGB rechtsunwirksam (BAG, Urteil vom 21.03.2013 - 2 AZR 60/12 - NZA 2013, 966 ff.). Die Arbeitgeberin kann deshalb ihre Betriebsänderung, die allein in der Entlassung von Arbeitnehmern besteht, nicht vor Abschluss des Konsultationsverfahrens durchführen; ein gleichwohl erfolgter Ausspruch rechtsunwirksamer Kündigungen lässt die Unterrichtungs- und Beratungsansprüche des Betriebsrats in Bezug auf die genannte Betriebsänderung unberührt. Dem kann nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, es komme für die Frage der Durchführung der Betriebsänderung nicht auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der einzelnen Kündigungen an. Es geht bei der vorliegenden Fallgestaltung nicht um die Unwirksamkeit einzelner Kündigungen, sondern es erweisen sich ausnahmslos alle Kündigungen, die in ihrer Gesamtheit zur Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG führen sollen, als rechtsunwirksam mit der Folge, dass der Arbeitgeber sein Ziel, die Betriebsänderung durchzuführen, noch nicht erreicht hat. Auch ist es ohne Belang, dass die vor Abschluss des Konsultationsverfahrens ausgesprochenen Kündigungen von den betroffenen Arbeitnehmern mit der Kündigungsschutzklage angegriffen werden müssen, weil sie ansonsten nach § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam gelten. So ist es ohne entgegenstehende Anhaltspunkte regelmäßig anzunehmen, dass ein Arbeitgeber, der eine in der Entlassung von Arbeitnehmern bestehende Betriebsänderung beabsichtigt, eher das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchführt, als dass er in der Hoffnung, die Arbeitnehmer würden von Kündigungsschutzklagen absehen, unwirksame Kündigungen ausspricht; dies gilt umso mehr, als der Arbeitgeber bei einer wirksam werdenden Kündigung zum Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG verpflichtet bliebe. Im vorliegenden Verfahren kommt hinzu, dass die Klagefrist des § 4 KSchG im Zeitpunkt der bereits anberaumten Sitzung der Einigungsstelle am 20.12.2013 noch nicht abgelaufen wäre, sollte die Arbeitgeberin bereits zuvor rechtsunwirksame Kündigungen aussprechen. Auch steht nicht fest, dass die Unterrichtungs- und Beratungsansprüche des Betriebsrats nicht spätestens in der Sitzung der Einigungsstelle erfüllt werden; dann besteht derzeit aber auch keine Veranlassung, der Arbeitgeberin den Ausspruch von Kündigungen zu untersagen.
III.
Die Entscheidung ergeht gemäß § 2 Abs. 2 GKG gerichtskostenfrei. Sie ist unanfechtbar (§ 92 Abs. 1 Satz 3 ArbGG).