ArbG Berlin: Jobcenter - Freistellung der Vertrauensperson der Schwerbehinderten
ArbG Berlin, Beschluss vom 07.03.2013 - 33 BV 14898/12
Leitsatz
Werden Schwerbehinderte von einer Dienststelle an eine mit der Agentur für Arbeit gebildete gemeinsame Einrichtung (Jobcenter) zugewiesen, sind sie bei der Feststellung der für eine Freistellung der für diese Dienststelle gewählten Vertrauensperson der Schwerbehinderten erforderlichen Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter weiterhin zu berücksichtigen.
§ 96 Abs 4 S 2 SGB 9
Sachverhalt
I. Die Beteiligte zu 1) ist bei dem beteiligten Land beschäftigt und seit 1998 durchgehend Vertrauensperson der Schwerbehinderten des Bezirksamtes N., zuletzt gewählt am 08.11.2010.
Beim Bezirksamt N. waren im Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 30.11.2012 zwischen 203 und 213 schwerbehinderte Menschen beschäftigt. Davon waren im gleichen Zeitraum zwischen 23 und 32 schwerbehinderte Menschen an das als gemeinsame Einrichtung mit der Bundesagentur für Arbeit gebildete Jobcenter N. zugewiesen (siehe die Übersicht auf Bl. 32 der Gerichtsakten).
Mit Schreiben vom 11.11.2010 an den Bezirksbürgermeister beantragte die Beteiligte zu 1) die Freistellung von ihrer beruflichen Tätigkeit für die Wahlperiode (Bl. 43 d. A.). Hierauf antwortete der Bezirksbürgermeister mit Schreiben vom 22.11.2010 (Bl. 44 d. A.), dass er die Beteiligte zu 1) für die Dauer der Wahlperiode weiterhin gemäß § 96 Abs. 4 SGB IX von ihren Tätigkeiten in der Bezirkskasse freistelle. Mit Schreiben vom 25.05.2011 (Bl. 5 d. A.) erklärte der Bezirksbürgermeister gegenüber der Beteiligten zu 1) sodann, dass das Bezirksamt N. 201 Schwerbehinderte beschäftige, wovon 31 zum Jobcenter/gemeinsame Einrichtung gehörten. Der Anteil der schwerbehindert Beschäftigten habe sich damit auf 170 reduziert. Er sehe sich daher veranlasst, seine mit Schreiben vom 22.11.2010 ausgesprochene komplette Freistellung einzuschränken und reduziere die Freistellung um 1/5 der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beteiligten zu 1). Dies bedeute, dass die Beteiligte zu 1) ab dem 01.06.2011 an einem Tag der Arbeitswoche wieder einer normalen Verwaltungstätigkeit nachzugehen habe.
Mit dem Antrag macht die Beteiligte zu 1) geltend, weiterhin voll umfänglich von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt zu werden. Sie ist der Auffassung, eine entsprechende Vereinbarung ergebe sich schon aus dem Schreiben des Bezirksbürgermeisters vom 22.11.2010. Zudem müssten ihrer Auffassung nach die dem Jobcenter zugewiesenen schwerbehinderten Beschäftigten auch nach der Zuweisung weiterhin als Beschäftigte des Bezirksamtes angesehen werden, so dass es auch nach § 96 Abs. 4 SGB IX weiterhin zu einer vollumfänglichen Freistellung kommen müsse.
Die Beteiligte zu 1) beantragt,
den Beteiligten zu 2) zu verpflichten, die Beteiligte zu 1) von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgeltes vollumfänglich freizustellen.
Das beteiligte Land beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Das beteiligte Land ist der Auffassung, im Hinblick auf den Wortlaut von § 96 Abs. 4 SGB IX sowie dessen Sinn und Zweck, der an die tatsächliche Aufgabenbelastung der Vertrauensperson der Schwerbehinderten anknüpfe, welche bei einer Zuweisung von schwerbehinderten Menschen an eine gemeinsame Einrichtung erheblich zurückgehe, könnten diese zugewiesenen schwerbehinderten Menschen nicht als Beschäftigte des Bezirksamtes i.S.v. § 96 Abs. 4 SGB IX mitgezählt werden.
Wegen des weiteren Vortrages der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Aus den Gründen
II. Der zulässige Antrag ist begründet.
1. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gegeben. Für Ansprüche der Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung nach § 96 SGB IX, die ihre Grundlage nicht im Arbeits- oder Beamtenverhältnis, sondern in dem wahrgenommenen Amt haben, ist § 2 a Abs. 1 Nr. 3 a ArbGG entsprechend anzuwenden (BAG vom 30.03.2010, 7 AZB 32/09). Hieraus folgt auch vorliegend der Rechtsweg zur Arbeitsgerichtsbarkeit, denn der Anspruch der Vertrauensperson der Schwerbehinderten auf Freistellung gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX hat seine Grundlage im wahrgenommenen Amt und nicht im Arbeits- oder Beamtenverhältnis der Vertrauensperson der Schwerbehinderten.
Gemäß §§ 2 a Abs. 2, 80 Abs. 1 ArbGG ist auch das Beschlussverfahren die zutreffende Verfahrensart, die antragstellende Vertrauensperson der Schwerbehinderten als nach dem SGB IX beteiligte Stelle sowie das Land Berlin als Arbeitgeber sind gemäß § 83 Abs. 3 ArbGG zu beteiligen.
2. Die Beteiligte zu 1) hat kraft ihres Amtes als Vertrauensperson der Schwerbehinderten des Bezirksamtes N. nach § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX gegen das beteiligte Land gemäß ihrem mit Schreiben vom 11.11.2010 geäußerten Wunsch einen Anspruch auf vollumfängliche Freistellung von ihrer Arbeitstätigkeit. Darauf, ob die Beteiligten eine weitergehende Vereinbarung gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 2. Hs. SGB IX getroffen haben, kommt es nicht an.
Gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX werden Vertrauenspersonen der Schwerbehinderten auf ihren Wunsch freigestellt, wenn in den Betrieben und Dienststellen in der Regel wenigstens 200 schwerbehinderte Menschen beschäftigt sind. Diese Voraussetzung trifft auf das Bezirksamt N. als Dienststelle des beteiligten Landes zu. Denn neben den im Bezirksamt N. eingesetzten schwerbehinderten Arbeitnehmern des beteiligten Landes gelten auch die von dem beteiligten Land an das Jobcenter N. gemäß § 44 g Abs. 1 SGB II zugewiesenen Beschäftigten des Bezirksamtes N. weiterhin als i.S.d. § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX in der Dienststelle des Bezirksamtes N. beschäftigt.
Im Betrieb oder der Dienststelle „Beschäftigte" und damit gemäß § 94 Abs. 2 SGB IX wahlberechtigte schwerbehinderte Menschen sind unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses oder Beamtenverhältnisses dem Betrieb oder der Dienststelle angehörende schwerbehinderte Mensche (Neumann u. a. Pahlen, 12. Aufl., § 94 SGB IX, Rz. 23). Da das Gesetz den Begriff der „Beschäftigung" mehrfach verwendet und keine Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Begriff jeweils abweichende Bedeutung hat, muss dies auch für § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX gelten. Solange schwerbehinderte Menschen - auf welcher Rechtsgrundlage auch immer - in die Arbeitsorganisation eingegliedert sind, sind sie im Betrieb oder der Dienststelle „beschäftigt" (Neumann u. a. - Pahlen a.a.O.). Schwerbehinderte Menschen, die - selbst bei noch fortbestehendem Arbeitsverhältnis - auf Dauer aus der Arbeitsorganisation ausscheiden, sind demgemäß nicht mehr in Betrieb oder in der Dienststelle beschäftigt und daher nicht mehr gemäß § 94 Abs. 2 SGB IX wahlberechtigt (BAG vom 16.11.2005, 7 ABR 9/05 betreffend schwerbehinderte Menschen, die sich in der Freistellungsphase eines Altersteilzeitverhältnisses befinden). Demgegenüber führt ein nur vorübergehendes Ausscheiden (etwa während Elternzeit, Wehr- oder Zivildienst) aus der Betriebs- oder Dienststellenorganisation noch nicht zum Wegfall der „Beschäftigung" (BAG vom 16.04.2003, 7 ABR 53/02 für § 9 BetrVG). Hiervon betroffene Arbeitnehmer kehren in der Regel, wenn auch im Einzelfall erst nach Ablauf eines erheblichen Zeitraums, wieder in den Betrieb oder die Dienststelle zurück.
Da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im vorliegenden Zusammenhang von anderen Maßstäben ausgegangen werden muss, gilt demnach Folgendes: Schwerbehinderte Beamte und Beamtinnen und Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen des beteiligten Landes, die bis zum 31.12.2010 in einer Arbeitsgemeinschaft nach § 44 b SGB II a. F. Aufgaben nach dem SGB II durchgeführt haben sind den zum 01.01.2011 gemäß § 44 b SGB II errichteten gemeinsamen Einrichtungen gemäß § 44 g Abs. 1 S. 1 SGB II n. F. für die Dauer von fünf Jahren zugewiesen. Spätere Zuweisungen erfolgen gemäß § 44 g Abs. 2 SGB IX im Einzelfall mit Zustimmung des Geschäftsführers der gemeinsamen Einrichtung nach den tarif- und beamtenrechtlichen Regelungen. Zuweisungen nach § 44 g Abs. 1 oder Abs. 2 SGB II können aus dienstlichen Gründen mit einer Frist von drei Monaten oder auf Verlangen des Beamten/Arbeitnehmers aus wichtigem Grund jederzeit gemäß § 44 g Abs. 5 SGB II beendet werden. Weder erfolgt also eine Zuweisung nach § 44 g SGB II auf Dauer, noch kann damit gerechnet werden, dass die betroffenen Beschäftigten nicht mehr in ihrer Ausgangsdienststelle zurückkehren. Sie sind daher ebenso wie sich in Elternzeit, Wehrdienst oder Sonderurlaub befindliche Beschäftigte nicht aus der Organisation der entsendenden Dienststelle endgültig ausgeschieden. Insbesondere weil sie im Hinblick auf § 54 g Abs. 5 SGB II jederzeit mit einer Rückkehr in die entsendende Dienststelle rechnen müssen, besteht ein fortbestehendes Interesse an ihrer Repräsentation durch die Schwerbehindertenvertretung der entsendenden Dienststelle (a. A. für die Freistellung gemäß § 46 Abs. 4 S. 1 Bundespersonalvertretungsgesetz: OVG Nordrhein-Westfalen vom 25.10.2012, 20 b 1079/12. PVB).
Hieraus folgt, dass auch die von dem beteiligten Land an das Jobcenter N. zugewiesenen Beschäftigten des Bezirksamtes N. für die Dauer ihrer Zuweisung weiterhin als Beschäftigte des Bezirksamtes N. i.S.v. § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX anzusehen sind. Selbst wenn man den Begriff der Beschäftigung i.S.d. § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX anders als in § 94 Abs. 2 SGB IX im Hinblick auf konkret anfallende Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung hinsichtlich der vorübergehenden nicht dem Betrieb oder der der Dienststelle angehörenden schwerbehinderten Menschen einengend auslegen müsste, ergäbe sich nichts anderes. Die Beteiligte zu 1) hat unstreitig Aufgaben nach dem SGB IX für die an die gemeinsame Einrichtung zugewiesenen Beschäftigten im Zusammenhang mit der Begründung und Beendigung der mit dem beteiligten Land bestehenden Rechtsverhältnisse wahrzunehmen, weil insoweit die dienst-, personal- und arbeitsrechtlichen Befugnisse gemäß § 44 b Abs. 4 SGB II nicht auf den Geschäftsführer der gemeinsamen Einrichtung übertragen worden sind. Auch wenn sich gleichwohl ein deutlicher Rückgang von Beteiligungsvorgängen ergeben mag ist es nicht so, dass die Beteiligte zu 1) für die Dauer der Zuweisung von jedweder Zuständigkeit für die an die gemeinsame Einrichtung zugewiesenen schwerbehinderten Menschen entbunden ist, zumal sie auf weitergehende Aufgaben verweisen kann, die sich aus der von dem beteiligten Land mit der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit abgeschlossenen Vereinbarung vom 17.12.2010 (Bl. 51 ff. d. A.) ergeben. Allein aus einem mehr oder weniger erheblichen Aufgabenrückgang für an gemeinsame Einrichtungen zugewiesene Beschäftigte lässt sich nach dem Sinn und Zweck des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX aber eine Nichtberücksichtigung dieser Beschäftigten nicht rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift zur Erleichterung der Rechtsanwendung eine pauschalisierende Regelung getroffen. Mit diesem Zweck wäre es nicht vereinbar, Beschäftigte, hinsichtlich derer - aus welchem Grunde auch immer - nur eingeschränkte Aufgaben anfallen nicht bei der Feststellung der für eine vollumfängliche Freistellung erforderliche Anzahl schwerbehinderter Menschen mit einzuberechnen. Anderenfalls würde sich die mit dem generalisierenden Prinzip des § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX nicht zu vereinbarende Frage stellen, ab welchem Grad eines Aufgabenrückganges eine Berücksichtigung schwerbehinderter Menschen für die Freistellung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen ausscheidet.
III. Die Kammer hat nicht auf entsprechenden Antrag des beteiligten Landes gemäß § 96 a Abs. 1 ArbGG die Sprungrechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht zugelassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Die Kammer hat bei der Entscheidung die Grundsätze der gefestigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Begriff der „Beschäftigung" i.S.d. der Normen des SGB IX zugrunde gelegt.