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Arbeitsrecht
03.11.2022
Arbeitsrecht
LAG Nürnberg: Gegenstandswert – Einhaltung einer Betriebsvereinbarung – Beschlussverfahren

LAG Nürnberg, Beschluss vom 19.5.2021 – 2 Ta 44/21

Volltext: BB-Online BBL2022-2611-4

Leitsatz

Der Streit um die Einhaltung einer Betriebsvereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber hat keinen vermögensrechtlichen Charakter (vgl. LAG Hamburg 30.11.2009 - 4 Ta 12/09).

RVG §§ 23, 33

Aus den Gründen

A. Der Antragsteller ist der bei der Antragsgegnerin gebildete Betriebsrat. Im Betrieb sind ca. 1800 Mitarbeiter beschäftigt. Im Verfahren stritten sie um Ermittlung der Faktoren für die Auszahlung einer Standort-Erfolgsbeteiligung für das Jahr 2018 auf Grund einer zwischen den Beteiligten geschlossenen Betriebsvereinbarung. In die Erfolgsbeteiligung fliest der sogenannte EaV-Faktor ein. Die Beteiligte zu 2 will diesen Faktor auf Grundlage des „Jahresendergebnisses“ bestimmen (dann EaV-Faktor von 1,8), der Beteiligte zu 1 auf Grundlage des sogenannten „V-Ist-11-Wert“ (dann EaV-Faktor von 1,9). Dies würde zu einer Erhöhung der Erfolgsbeteiligung von insgesamt 665.000,- € führen.

Der Beteiligte zu 1 stellte folgende Anträge:

Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, für die Ermittlung und Auszahlung der Standort-Erfolgsbeteiligung 2018 einen Faktor von 1,9 als EaV-Faktor zugrunde zu legen, die den Arbeitnehmern im Betrieb N…, Z… Straße xx, … N…, zustehenden Beträge aus der Standort-Erfolgsbeteiligung neu zu berechnen und den sich aus der Differenz zur bereits ausbezahlten Standort-Erfolgsbeteiligung ergebenden Betrag an die Arbeitnehmer auszubezahlen.

hilfsweise:

Es wird festgestellt, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, für die Berechnung der Standort-Erfolgsbeteiligung 2018 einen EaV-Faktor von 1,9, entsprechend dem V-Ist-November 2018, zugrunde zu legen.

Das erstinstanzliche Verfahren endete durch antragsabweisenden Beschluss vom 09.11.2020. Die hiergegen erhobene Beschwerde wurde mit Beschluss des Landesarbeitsgerichts vom 22.04.2021 (Az. 5 TaBV 29/20) zurückgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 04.02.2021 beantragten die anwaltlichen Vertreter des Beteiligten zu 1 die Festsetzung des Gegenstandswerts und regten an, ihn auf 665.000,- € festzusetzen. Es handele sich um eine vermögensrechtliche Streitigkeit, deren Wert feststehe. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Schriftsatz vom 04.02.2021 Bezug genommen. Die Vertreter des Beteiligten zu 2 vertraten mit Schriftsatz vom 25.02.2021 die Ansicht, dass es sich um eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit handele und daher der Hilfswert des § 23 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz RVG von 5.000,- € als Gegenstandswert festzusetzen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf diesen Schriftsatz Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht setzte den Gegenstandswert mit Beschluss vom 25.03.2021 auf 665.000,- € fest. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe im Beschluss des Arbeitsgerichts Bezug genommen.

Der Beschluss wurde den Vertretern der Beteiligten zu 2 am 31.03.2021 und der Beteiligten zu 2 selbst am 01.04.2021 zugestellt.

Namens und im Auftrag der Beteiligten zu 2 legten deren Vertreter mit Schriftsatz vom 12.04.2021, eingegangen beim Arbeitsgericht Nürnberg am 14.04.2021, Beschwerde ein. Der Streit gehe um die Durchführung einer Betriebsvereinbarung. Dabei handele es sich um eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit. Eine Heraufsetzung des Hilfswertes sei nicht veranlasst. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 12.04.2021 Bezug genommen Das Arbeitsgericht half der Beschwerde mit Beschluss vom 20.04.2021 nicht ab und legte das Verfahren dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung über die Beschwerde vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 20.04.2021 Bezug genommen.

Das Landesarbeitsgericht gab den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. Auf die eingegangenen Stellungnahmen vom 12.05.2021 und vom 14.05.2021 wird ebenso Bezug genommen wie auf den gesamten weiteren Akteninhalt.

B. I. Die Beschwerde der Beteiligten zu 2 ist zulässig.

Gegen einen Beschluss, durch den der Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit gemäß § 33 Abs. 1 RVG festgesetzt worden ist, findet gemäß § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG eine Beschwerde dann statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,- € übersteigt. Dies ist hier der Fall, denn bereits die einfache Gebührendifferenz nach Anlage 2 zum RVG übersteigt diesen Betrag bei weitem. Die Beschwerde ist auch innerhalb von zwei Wochen nach Zuleitung des angegriffenen Beschlusses beim Erstgericht eingegangen, § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG. Der Beteiligten zu 2 steht ein eigenes Beschwerderecht zu, § 32 Abs. 2 Satz 1 RVG.

II. Die Beschwerde ist teilweise begründet. Es handelt sich vorliegend um eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit, die nach billigem Ermessen mit 45.000,- € zu bewerten ist, § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG.

1. Nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG ist der Gegenstandswert, soweit er sich nicht aus den übrigen Regelungen des § 23 RVG ergibt und auch sonst nicht feststeht, nach billigem Ermessen zu bestimmen; in Ermangelung genügender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Schätzung und bei nicht vermögensrechtlichen Gegenständen ist der Gegenstandswert mit 5.000,00 EUR, nach Lage des Falles niedriger oder höher, jedoch nicht über 500.000,00 EUR anzunehmen.

2. Der Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG.

a. Von einem vermögensrechtlichen Gegenstand ist auszugehen, wenn mit dem Recht oder Rechtsverhältnis, auf das sich die Tätigkeit des Anwalts bezieht, vornehmlich wirtschaftliche Zwecke verfolgt werden. Vermögensrechtlich ist der Gegenstand der Tätigkeit insbesondere, wenn diese auf die Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen gerichtet ist, die auf Geld oder geldwerte Leistungen gerichtet sind (BAG 09.11.2004 - 1 ABR 11/02 (A) Rn 14, juris). Ist dies nicht der Fall liegt ein nichtvermögensrechtlicher Gegenstand vor.

b. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die ordnungsgemäße Durchführung einer Betriebsvereinbarung in einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit. Streitigkeiten, bei denen es um die Wahrung oder die Durchsetzung betriebsverfassungsrechtlicher Beteiligungsrechte geht, haben keinen vermögensrechtlichen Charakter (BAG 22.01.2013 - 1 ABR 92/11, juris; LAG Hamburg 18.12.2015 - 6 Ta 24/15, Rn 11, juris; LAG Schleswig-Holstein 16.07.2010 - 3 Ta 81/10, juris). Dies gilt insbesondere auch für die Einhaltung einer Betriebsvereinbarung (LAG Hamburg 30.11.2009 - 4 Ta 12/09, Rn 14). Zwar hat der zu 1 beteiligte Betriebsrat im Hauptantrag nicht nur die Neuberechnung unter seiner Rechtsauffassung beantragt, sondern auch die Zahlung der sich ergebenden Beträge an die Arbeitnehmer. Die Verpflichtung zur Neuberechnung und Auszahlung, wenn der Auslegung der Betriebsvereinbarung die Auslegung des Betriebsrats zu Grunde zu legen wäre, war zwischen den Beteiligten jedoch nie im Streit. So hat auch das Arbeitsgericht in seinem Beschluss festgehalten, dass der Betriebsrat nicht das Ziel verfolge, aus eigenem Recht die Erfüllung von Ansprüchen der Arbeitnehmer durchzusetzen, sondern aus eigenem Recht nur die (richtige) Durchführung der Betriebsvereinbarung erreichen wollte, wie sich aus den Schriftsätzen des Betriebsrats ergeben habe. Die Betriebsvereinbarung enthält Regelungen über eine Erfolgsbeteiligung und unterlag damit dem Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 10 bzw. 11 BetrVG. Damit diente der Antrag in erster Linie der Durchsetzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats. Hierzu gehören auch Auslegungsfragen (BAG 18.01.2005 - 3 ABR 21/04, Rn 37, juris).

Dass es dem zu 1 beteiligten Betriebsrat im Ergebnis um die Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke geht, führt nicht dazu, dass der Gegenstand vermögensrechtlicher Art wäre (Schwab/Weth, ArbGG, 5. Aufl., § 85 ArbGG, Rn 8 mwN). Denn die Auslegung der Betriebsvereinbarung, wie sie vom Betriebsrat für richtig gehalten wird, wirkt sich nur mittelbar aus und führt für das streitgegenständliche Jahr 2018 in einer höheren wirtschaftlichen Belastung der zu 2 beteiligten Arbeitgeberin von 665.000,- €. Bei einem anderen Jahresergebnis oder einem anderen „V-Ist-11-Wert“ hätte sich ein anderer Wert ergeben. Im Gegensatz dazu geht es bei einem Streit um die Anfechtung eines Sozialplans wegen Über- bzw. Unterdotierung unmittelbar um die Höhe des der Arbeitgeberin zuzumutenden Dotierungsrahmens, den der Betriebsrat aus eigenem Recht gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen sucht (BAG 09.11.2004 - 1 ABR 11/02 (A) und 20.07.2005 - 1 ABR 23/03). Aber auch das BAG hat dann, wenn es dem Betriebsrat im Zusammenhang mit der Anfechtung eines Sozialplans um die Durchsetzung des Mitbestimmungsrechts geht, eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit angenommen. So hat es einen Antrag des Betriebsrats, der Arbeitgeberin „aufzugeben, den Spruch der Einigungsstelle über einen Sozialplan hinsichtlich der Berechnung der Abfindungen durchzuführen und die sich aus der Berechnung ergebenden Beträge an die berechtigten Arbeitnehmer auszuzahlen“, als nichtvermögensrechtliche Streitigkeit eingeordnet, die vor Rechtskraft der Entscheidung über die Wirksamkeit des Sozialplans deshalb nicht nach § 85 Abs. 1 ArbGG vorläufig vollstreckbar sei (BAG 22.01.2013 - 1 ABR 92/11).

Dementsprechend schlägt auch der Streitwertkatalog für Streitigkeiten wegen einer Betriebsvereinbarung vor, vom Hilfswert nach § 23 Abs. 3 S. 2 RVG auszugehen gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, z.B. Inhalt und Bedeutung der Regelungsfrage, eine Erhöhung bzw. einen Abschlag vorzunehmen (II. 3 Streitwertkatalog). Für die Anfechtung eines Spruchs der Einigungsstelle über einen Sozialplan steht hingegen der streitige Dotierungsrahmen bei der Bewertung im Mittelpunkt (II. 6 Streitwertkatalog).

3. Die Wertfestsetzung für eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit ist nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG vorzunehmen.

a. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG ist der Wert für nichtvermögensrechtliche Streitigkeiten auf den Hilfswert von 5.000 €, nach Lage des Falls niedriger oder höher, jedoch nicht über 500.000 € festzusetzen. Der in § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG formulierte Wert ist dabei weder als Regelwert, von dem nur bei besonderen Umständen abgewichen werden darf, noch als Wertuntergrenze zu verstehen. Vielmehr handelt es sich bei dem Betrag um einen Hilfswert für den Fall des Fehlens individueller Anhaltspunkte, auf den nur dann zurückzugreifen ist, wenn alle Möglichkeiten für eine individuelle Bewertung ausgeschöpft sind (LAG Hamburg 28.12.2015 - 6 Ta 24/15, juris mwN).

b. Das Gericht hält es im Hinblick auf die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens für angemessen, einen Wert von 45.000,- € festzusetzen. Die im vorliegenden Verfahren zu klärende Rechtsfrage ist weder als besonders einfach, noch als besonders schwierig zu qualifizieren. Auch sind die nur indirekten wirtschaftlichen Auswirkungen für die Wertbemessung nicht vorrangig zu berücksichtigen, da die Durchsetzung der Rechte des Betriebsrats im Streit steht, eben eine nichtvermögensrechtliche Angelegenheit. Andererseits ist eine Vielzahl von Mitarbeitern (ca. 1.800) betroffen, was für die Beteiligte zu 2 zu erheblichen finanziellen Belastungen führen kann. Es erscheint daher im vorliegenden Fall angemessen, der gesteigerten Bedeutung des Verfahrens dadurch Rechnung zu tragen, ausgehend von der in § 9 BetrVG vorgesehenen Staffel den neunfachen Hilfswert des § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG anzusetzen. Denn bei 1.800 betroffenen Mitarbeitern ist die neunte Stufe des § 9 BetrVG erreicht.

4. Dem Hilfsantrag kommt kein eigener Wert zu. Die Vorschriften zur gerichtlichen Wertfestsetzung, die auch für die Gebühren des Rechtsanwalts maßgeblich sind (vgl. §§ 23 Abs. 1, 32 Abs. 1 RVG), bestimmen, dass ein hilfsweise geltend gemachter Anspruch mit dem Hauptanspruch zusammengerechnet wird, soweit eine Entscheidung über ihn ergeht. Betreffen die Ansprüche denselben Gegenstand, ist nur der Wert des höheren Anspruchs maßgebend (§ 45 Abs. 1 Satz 2 und 3 GKG).

Hier ist der Hilfsantrag auf Feststellung dessen gerichtet, was mit dem Hauptantrag als Leistungsantrag durchgesetzt werden sollte. Er betrifft daher denselben Gegenstand, wobei der Leistungsantrag mit dem vollen Wert, der Feststellungsantrag mit einem Abschlag zu bewerten ist. Der höhere Wert war daher insgesamt festzusetzen.

C.         I. Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden alleine ergehen, § 78 Satz 3 ArbGG.

II. Eine Kostenentscheidung ist Hinblick auf § 33 Abs. 9 RVG nicht veranlasst.

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