LAG Berlin-Brandenburg: Eigenes Verhalten des Arbeitgebers bei außerordentlicher Kündigung
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.6.2018 – 15 Sa 214/18
ECLI:DE:LAGBEBB:2018:0614.15SA2
Volltext: BB-ONLINE BBL2018-1971-5
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Amtliche Leitsätze
1. Bei der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist im Rahmen des § 626 BGB auch das eigene Verhalten des Arbeitgebers zu bewerten.
2. Da die Beklagte selbst eine Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist angeboten hatte, kann nicht angenommen werden, dass das Verhalten der Klägerin derart gravierend war, dass der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zu einer Beendigung im Rahmen einer ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar war.
§ 140 BGB, § 626 BGB
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vom 27.10.2017.
Die Klägerin hatte an vier Tagen im August und September 2017 den Arbeitsbeginn um insgesamt 135 Minuten zu früh in der entsprechenden Excel-Tabelle angegeben.
Am 19.10.2017 wurde die Klägerin zu diesem Verhalten angehört. In dem entsprechenden Gesprächsvermerk der Beklagten heißt es hierzu u.a.:
„Daher würde nur eine außerordentliche Kündigung in Frage kommen. Der Ausstieg könne aber in Interessenabwägung so gestaltet werden, dass der Schaden begrenzt wird. Z.B. könne das Arbeitsverhältnis bis Ende des Jahres bestehen bleiben, damit Frau L. ausreichend Zeit habe, sich eine neue Beschäftigung zu suchen und sie die Jahressonderzahlung erhalte.“
Hinsichtlich des übrigen unstreitigen Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien in der 1. Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.
Mit Urteil vom 20.12.2017 hat das Arbeitsgericht Potsdam die Klage abgewiesen. Die Kündigung sei gemäß § 626 BGB gerechtfertigt. Es liege eine vorsätzlich falsche Dokumentation der Arbeitszeit an vier Tagen vor. Jedenfalls liege der dringende Verdacht einer solchen Handlung vor. Der Vortrag der Klägerin, sie habe versehentlich die Zeiten falsch angegeben, werde für eine Schutzbehauptung gehalten. Es sei schlicht nicht glaubhaft, dass die Klägerin insgesamt vier Mal und davon drei Mal nacheinander versehentlich einen falschen Arbeitsbeginn eingetragen haben will, obwohl sie seit 14 Monaten bei der Beklagten arbeitet und ihr die Dienstvereinbarung genau bekannt gewesen sei. Die Kammer halte es für wahrscheinlicher, dass die Klägerin die Abwesenheit ihrer Kollegin ausgenutzt habe, um sich eine großzügigere Arbeitszeit gutzuschreiben. Es könne dahinstehen, ob die Klägerin entweder bewusst diese Zeiten eingetragen oder alle Arbeitszeiten nach ihrer Schätzung oder beliebig eingetragen hat. In allen Fällen hätte die Klägerin jedenfalls die Unrichtigkeit und den auf ihr beruhenden rechtswidrigen Erfolg für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen. Selbst wenn man dies alles nicht annehmen wolle, wäre jedenfalls der auf dringende Tatsachen gestützte Verdacht einer vorsätzlichen Angabe falscher Arbeitszeiten gegeben. Eine vorherige Abmahnung sei nicht erforderlich. Auch die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist sei der Beklagten nicht zuzumuten. Wie solle die Beklagte den bei ihr beschäftigten Arbeitnehmern deutlich machen, dass die Klägerin in der Lage sei, Reisekostenabrechnungen von Mitarbeitern korrekt zu prüfen und zu bearbeiten, wenn sie selbst ihre Arbeitszeiten bewusst falsch dokumentiere? Insofern überwiege auch im Rahmen einer vorzunehmenden Interessenabwägung das Interesse der Beklagten an einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse der Klägerin an der Beibehaltung dieses Arbeitsverhältnisses. Mangels Obsiegens der Klägerin mit dem Kündigungsschutzantrag sei die Beklagte auch nicht verpflichtet, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens vorläufig weiter zu beschäftigen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie betont erneut, dass sie nicht vorsätzlich gehandelt habe. Wegen der hohen Arbeitsbelastung habe sie vergessen, die Arbeitszeiten tagesaktuell einzutragen. Sie habe sich an jedem Tag bewusst gemacht, wie viel Stunden sie erbringen müsse. Diese Stunden habe sie tatsächlich auch geleistet. Insofern habe sie auch das Arbeitsende falsch notiert. Unberücksichtigt geblieben sei auch ihre hohe Arbeitsbelastung. Es sei reine Mutmaßung des Arbeitsgerichts, dass sie sich großzügigere Arbeitszeiten habe aufschreiben wollen. Dem stehe entgegen, dass sie an verschiedenen Tagen auch Minuszeiten notiert habe. Das Arbeitsgericht spekulierte auch über den Umfang des Arbeitszeitkontos. Zum Kündigungszeitpunkt hätten unstreitig 11 Minusstunden vorgelegen. Die Minusstunden seien den Betreuungspflichten gegenüber ihren Kindern geschuldet. Sie sei redlich gewesen, was daraus zu ersehen sei, dass sie ihre wöchentliche Arbeitszeit ab September 2017 auf 70 % reduziert habe. Im Rahmen der Interessenabwägung müsse berücksichtigt werden, dass sie die Hauptverdienerin sei. Als milderes Sanktionsmittel wäre es auch möglich gewesen, dass sie sich bei Arbeitsbeginn und -ende jeweils bei Vorgesetzten melde. Auch müsse berücksichtigt werden, dass die Beklagte bei der Anhörung am 19.10.2017 eine Weiterbeschäftigung bis zum Ende des Jahres angeboten habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 20.12.2017, AZ.: 8 Ca 1544/17 abzuändern und
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung von 7 20.10.2017 aufgelöst wurde;
2. die Beklagte für den Fall des Obsiegens zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Tarifbeschäftigte EG 6 Stufe 3, TVöD-V zu beschäftigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie gehe weiterhin davon aus, dass die Klägerin wissentlich und willentlich fortgesetzt ihre Pflichten verletzt habe. Eine Abmahnung sei nicht erforderlich gewesen. Die Interessenabwägung sei nicht zu Gunsten der Klägerin vorzunehmen.
Aus den Gründen
I.
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist daher zulässig.
II.
Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Arbeitsgericht Potsdam entschieden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 27.10.2017 sein Ende gefunden hatte. Die Kündigung ist nicht gemäß § 626 BGB gerechtfertigt. Insofern war die erstinstanzliche Entscheidung abzuändern und auch dem Weiterbeschäftigungsantrag stattzugeben.
1. Die Kündigung ist nicht gemäß § 626 BGB gerechtfertigt.
Nach dieser Norm kann ein Dienstverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
Die hiesige Kammer geht insofern auch davon aus, dass die Klägerin bewusst an den vier Tagen den Arbeitsbeginn zulasten der Arbeitgeberin verfrüht angegeben hat, um ein günstigeres Stundensaldo zu erreichen. Es kann nach hiesiger Ansicht nicht angenommen werden, dass die Klägerin diese Handlungen nur aus Versehen vorgenommen hat, auch wenn die Klägerin dies so behauptet. Dagegen spricht die Häufung der Vorfälle in einem sehr kurzen Zeitraum. Ferner war zu beachten, dass die Klägerin ungewöhnlich spät ihre Arbeit aufnahm. Allein an drei Tagen erfolgte dies deutlich erst nach 9:00 Uhr (9:25 Uhr, 9:45 Uhr, 9:30 Uhr). Dass ihr dies schon ein paar Tage später nicht in Erinnerung gewesen sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Auch ist der Einwand der Klägerin nicht verständlich, sie habe letztendlich die erforderlichen Zeiten immer erbracht. Auch das Arbeitsende habe sie an den betreffenden Tagen falsch angegeben. Das wäre allenfalls dann nachvollziehbar, wenn die Klägerin gleichmäßig an allen Tagen eine bestimmte Arbeitszeitdauer angegeben hätte. Dies war allerdings nicht der Fall.
Mit der Rechtsprechung (BAG 09.06.2011 – 2 AZR 381/10 – juris) ist davon auszugehen, dass ein solches Verhalten eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann.
Bei der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist im Rahmen des § 626 BGB jedoch auch das eigene Verhalten des Arbeitgebers zu bewerten (BAG 06.02.1997 – 2 AZR 51/96 – juris Rn. 19). Nehme ein Arbeitgeber einen bestimmten Kündigungssachverhalt nicht zum Anlass, das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung außerordentlich zu kündigen, sondern gewährt er dem Arbeitnehmer eine der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende soziale Auslauffrist in der erklärten Absicht, den Arbeitnehmer innerhalb dieser Frist auch tatsächlich zu beschäftigen, so werde das eigene Verhalten des Arbeitgebers regelmäßig den Schluss zulassen, dass ihm auch die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar war, also kein wichtiger Grund zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgelegen habe (BAG aaO).
Bei Anwendung dieser Kriterien ist aus dem vorangegangenen Verhalten der Beklagten zu schließen, dass ihr eine Weiterbeschäftigung jedenfalls bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar war. Die Beklagte hatte in dem Gespräch am 19.10.2017 der Klägerin eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Jahresende angeboten. Gemäß § 34 TVöD-VKA beträgt die zutreffende Kündigungsfrist für die Klägerin, da sie über ein Jahr beschäftigt war, 6 Wochen zum Quartalsende. Dies wäre hier ebenfalls der 31.12.2017 gewesen. Laut den Erörterungen im Berufungstermin hat die Arbeitgeberin in diesem Gespräch mehrere Möglichkeiten von sich aus ins Gespräch gebracht: Eine Weiterbeschäftigung auf dem bisherigen Arbeitsplatz (Reisekostenabrechnung), eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Dienstposten oder auch eine Freistellung von der Arbeit. Näheres ist zwischen den Parteien deswegen nicht erörtert worden, weil die Klägerin eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2017 ablehnte. Da die Beklagte selbst eine Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist für möglich gehalten hatte, kann nicht angenommen werden, dass das Verhalten der Klägerin derart gravierend war, dass der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zu einer Beendigung im Rahmen einer ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar war. Allein deswegen ist die ausgesprochene außerordentliche Kündigung unwirksam.
2. Es muss nicht entschieden werden, ob die Kündigung vom 27.10.2017 als ordentliche Kündigung wirksam wäre. Eine Umdeutung (§ 140 BGB) kommt vorliegend nicht in Betracht.
Die Beklagte hat den bei ihr bestehenden Personalrat ausschließlich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung angehört, alternativ im Sinne einer Interessenabwägung zu einem Auflösungsvertrag zum 31.12.2017 (Anl. B7, Bl. 31 der Akte). Nach der Rechtsprechung des BAG kann eine unwirksame außerordentliche Kündigung nur dann in eine wirksame ordentliche umgedeutet werden, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat bei der Anhörung deutlich darauf hingewiesen hat, dass diese Kündigung hilfsweise als ordentliche gelten soll. Allenfalls dann, wenn der Betriebsrat ausdrücklich und vorbehaltlos der außerordentlichen Kündigung zugestimmt hat und einer ordentlichen Kündigung erkennbar nicht entgegentreten wäre, reicht die wirksame Anhörung zur außerordentliche Kündigung auch im Hinblick auf eine ordentliche Kündigung aus (BAG 20.09.1984 – 2 AZR 633/82 – juris Rn. 29). Gleiche Erwägungen gelten im Rahmen des Personalvertretungsrechts (LAG Hamm 15.02.2007 – 17 Sa 1543/06 – juris Rn. 93). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Die Beklagte hatte den bei ihr bestehenden Personalrat jedenfalls nicht zu einer ordentlichen Kündigung angehört. Der Personalrat hatte der außerordentlichen Kündigung auch widersprochen. Damit ist eine Umdeutung in eine ordentliche Kündigung ausgeschlossen.
3. Dem hilfsweise gestellten Weiterbeschäftigungsantrag war nach den Grundsätzen des BAG stattzugeben, da die Klägerin obsiegt hat.
III.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen, da sie unterlegen ist (§ 91 ZPO).
Die Voraussetzung für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs. 2 ArbGG) sind nicht gegeben. Insofern ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.