EuGH: Diskriminierungsverbot – homophobe Äußerungen in einem Interview
EuGH, Urteil vom 23.4.2020 – C-507/18, NH gegen Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI – Rete Lenford
ECLI:EU:C:2020:289
Volltext: BB-Online BBL2020-1075-1
Tenor
1. Der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass unter diesen Begriff Äußerungen einer Person fallen, wonach sie niemals Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung einstellen noch in ihrem Unternehmen beschäftigen würde, die diese Person in einer Radio- oder Fernsehsendung zu einem Zeitpunkt machte, zu dem ein Einstellungsverfahren weder im Gange noch geplant war, sofern die Verbindung dieser Äußerungen zu den Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit in diesem Unternehmen nicht hypothetisch ist.
2. Die Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach eine Vereinigung von Rechtsanwälten, deren satzungsmäßiger Zweck darin besteht, namentlich Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung vor Gericht Beistand zu leisten sowie die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personengruppe zu fördern, aufgrund dieses Zwecks und unabhängig von ihrer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht automatisch befugt ist, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten und gegebenenfalls Schadensersatz geltend zu machen, wenn Tatsachen eintreten, die den Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie gegenüber dieser Personengruppe erfüllen könnten und sich kein Geschädigter feststellen lässt.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2, 3 und 9 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NH und der Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI – Rete Lenford (im Folgenden: Associazione) wegen der Äußerungen, die NH in einer Radiosendung machte und denen zufolge er in seiner Anwaltskanzlei nicht mit homosexuellen Personen zusammenarbeiten wolle.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Charta
3 Art. 11 („Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt in seinem Abs. 1:
„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“
4 Art. 15 („Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten“) der Charta sieht in seinem Abs. 1 vor:
„Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben.“
5 Art. 21 („Nichtdiskriminierung“) der Charta bestimmt in seinem Abs. 1:
„Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“
Richtlinie 2000/78
6 In den Erwägungsgründen 9, 11, 12 und 28 der Richtlinie 2000/78 heißt es:
„(9) Beschäftigung und Beruf sind Bereiche, die für die Gewährleistung gleicher Chancen für alle und für eine volle Teilhabe der Bürger am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben sowie für die individuelle Entfaltung von entscheidender Bedeutung sind.
…
(11) Diskriminierungen wegen … der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im [AEU]-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit.
(12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen … der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen [in der Union] untersagt werden. …
…
(28) In dieser Richtlinie werden Mindestanforderungen festgelegt; es steht den Mitgliedstaaten somit frei, günstigere Vorschriften einzuführen oder beizubehalten. …“
7 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
8 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich …
…“
9 Art. 3 der Richtlinie regelt deren Geltungsbereich. In Abs. 1 Buchst. a dieses Artikels heißt es:
„Im Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf:
a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs“.
10 Art. 8 („Mindestanforderungen“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt in seinem Abs. 1:
„Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.“
11 Art. 9 dieser Richtlinie gehört zu ihrem Kapitel II betreffend Rechtsbehelfe und Rechtsdurchsetzung. Unter der Überschrift „Rechtsschutz“ sieht dieser Artikel in seinem Abs. 2 vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können.“
12 Art. 17 („Sanktionen“) der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“
Italienisches Recht
13 Das Decreto legislativo n. 216 – Attuazione della direttiva 2000/78 per la parità di trattamento in materia di occupazione e di condizioni di lavoro (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 216 – Umsetzung der Richtlinie 2000/78 zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf) vom 9. Juli 2003 (GURI Nr. 187 vom 13. August 2003, S. 4) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 216) sieht in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a vor:
„Gemäß dem vorliegenden Decreto legislativo … umfasst der Grundsatz der Gleichbehandlung, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung geben darf. Dieser Grundsatz setzt voraus, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung erfolgt, wie diese nachstehend definiert sind:
a) eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person wegen der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.
14 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieses Decreto legislativo lautet:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung gilt für alle Personen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich und unterliegt gemäß den in Art. 4 vorgesehenen Formen gerichtlichem Rechtsschutz, unter besonderer Berücksichtigung der folgenden Bereiche:
a) Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen“.
15 Art. 5 des Decreto legislativo sieht vor:
„(1) Gewerkschaften, Verbände und Organisationen, die Vertreter des verletzten Rechts oder Interesses sind, sind kraft einer Vollmacht, die durch eine öffentliche Urkunde oder einen privatschriftlichen beurkundeten Vertrag erteilt wird, andernfalls die Vollmacht nichtig ist, im Namen und für Rechnung oder zur Unterstützung der durch die Diskriminierung beschwerten Person im Sinne von Art. 4 gegen die natürliche oder juristische Person, der das diskriminierende Verhalten oder die diskriminierende Handlung zuzurechnen ist, klagebefugt.
(2) Die in Abs. 1 genannten Personen sind außerdem in Fällen einer kollektiven Diskriminierung klagebefugt, wenn sich die durch die Diskriminierung verletzten Personen nicht unmittelbar und unverzüglich feststellen lassen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass NH Rechtsanwalt ist und dass die Associazione eine Vereinigung von Rechtsanwälten ist, die Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen (LGBTI) vor Gericht Beistand leistet.
17 Da sie der Auffassung war, NH habe Äußerungen getätigt, die den Tatbestand eines diskriminierenden Verhaltens aufgrund der sexuellen Ausrichtung von Arbeitnehmern im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 216 erfüllten, verklagte die Associazione NH vor dem Tribunale di Bergamo (Landesgericht Bergamo, Italien).
18 Mit Beschluss vom 6. August 2014 erklärte dieses Gericht in seiner Funktion als Arbeitsgericht das Verhalten von NH, da es unmittelbar diskriminierend sei, für rechtswidrig; dieser hatte in einem Interview während einer Radiosendung erklärt, dass er homosexuelle Personen in seiner Anwaltskanzlei weder einstellen noch beschäftigen wolle. Das Tribunale di Bergamo (Landesgericht Bergamo) verurteilte NH auf dieser Grundlage zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 10 000 Euro an die Associazione und ordnete die auszugsweise Veröffentlichung dieses Beschlusses in einer landesweit erscheinenden Tageszeitung an.
19 Mit Urteil vom 23. Januar 2015 wies die Corte d’appello di Brescia (Appellationsgericht Brescia, Italien) das von NH gegen diesen Beschluss eingelegte Rechtsmittel zurück.
20 Gegen dieses Urteil hat NH Kassationsbeschwerde vor der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), dem vorlegenden Gericht, eingelegt. Zur deren Begründung macht NH u. a. eine unzutreffende Anwendung von Art. 5 des Decreto legislativo Nr. 216 geltend, soweit das Berufungsgericht die Klagebefugnis der Associazione bejaht habe, sowie einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 dieses Decreto legislativo oder deren unzutreffende Anwendung, da er eine Meinung zum Anwaltsberuf geäußert, dabei aber nicht als Arbeitgeber, sondern schlichtweg als Bürger in Erscheinung getreten sei und da und die streitigen Äußerungen außerhalb jedes tatsächlichen beruflichen Kontexts stünden.
21 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Berufungsgericht in seinem Urteil zum einen festgestellt habe, „NH [habe] in einem Gespräch im Laufe einer Radiosendung eine Reihe von nach und nach von seinem Gesprächspartner provozierten Sätzen … zur Begründung seiner allgemeinen Abneigung gegen eine bestimmte Kategorie von Personen geäußert, die er in seiner Kanzlei weder um sich noch, abstrakt gesprochen, als seine Mitarbeiter ausgewählt haben wolle“; zum anderen sei festgestellt worden, dass es zur fraglichen Zeit kein laufendes oder geplantes Einstellungsverfahren gegeben habe.
22 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob eine Vereinigung von Rechtsanwälten wie die Associazione eine Vertreterorganisation im Sinne von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt. Insoweit weist es darauf hin, dass die Empfehlung 2013/396/EU der Kommission vom 11. Juni 2013 über „Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“ (ABl. 2013, L 201, S. 60) und die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen mit der Überschrift „Auf dem Weg zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz“ (COM[2013] 401 final) unter den Kriterien, die für die Ermittlung der Klagebefugnis einer Organisation bei in Vertretung erhobenen Klagen relevant seien, nicht nur die Verbindung des satzungsmäßig festgelegten Ziels der fraglichen Organisation zu den Rechten aufführten, deren Verletzung geltend gemacht werde, sondern auch die fehlende Gewinnerzielungsabsicht dieser Organisation.
23 Im vorliegenden Fall wurde die Klagebefugnis der Associazione vom Berufungsgericht aufgrund von deren Satzung bejaht, wonach diese Vereinigung „einen Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung der Kultur und der Achtung der Rechte von [LGBTI‑]Personen zu leisten beabsichtigt, indem die Justiz sensibilisiert wird, [und] die Bildung eines Netzes von Anwälten leitet … sowie den Rechtsschutz und das Gebrauchmachen von kollektiven Verteidigungsmitteln vor nationalen und internationalen Gerichten begünstigt und fördert“.
24 Das vorlegende Gericht stellt klar, dass im italienischen Recht Art. 5 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 216, wenn sich die Diskriminierung im Bereich der Beschäftigung nicht gegen ein namhaft gemachtes Opfer, sondern gegen eine Kategorie von Personen richte, den in dieser Bestimmung genannten Organisationen zwar die Klagebefugnis zuerkenne und sie als Interessenvertreter der Gesamtheit der Geschädigten angesehen würden. Gleichwohl hat das vorlegende Gericht Zweifel daran, ob einer Vereinigung von Rechtsanwälten, deren Hauptziel im Angebot von Rechtsbeistand für LGBTI‑Personen besteht, allein aufgrund der Tatsache, dass sie nach ihrer Satzung auch die Förderung der Achtung der Rechte dieser Personen zum Ziel hat, die Befugnis zuerkannt werden kann, gegen beschäftigungsbezogene Diskriminierungen auf der Grundlage eines unmittelbaren eigenen Interesses zu klagen und dabei auch Schadensersatz geltend zu machen.
25 Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht nach den Grenzen, die die Regelung zur Bekämpfung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf der Ausübung der Meinungsfreiheit setzt. Der von der Richtlinie 2000/78 und dem Decreto legislativo Nr. 216 gebotene Schutz gelte für Situationen der Entstehung, der Durchführung und der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses und betreffe daher die freie wirtschaftliche Betätigung. Seiner Ansicht nach scheinen diese Rechtsakte jedoch nichts mit der Meinungsfreiheit zu tun zu haben und sollen sie nicht einschränken. Zudem hänge die Anwendung dieser Rechtsakte davon ab, ob die Gefahr einer Diskriminierung tatsächlich bestehe.
26 Daher fragt sich das vorlegende Gericht, ob es für die Feststellbarkeit einer unter die Richtlinie 2000/78 und die nationale Regelung zu ihrer Umsetzung fallenden Situation des Zugangs zur Beschäftigung erforderlich ist, dass es wenigstens individuelle Einstellungsverhandlungen oder ein öffentliches Stellenangebot gibt und ob, wenn dies nicht der Fall ist, einfache Äußerungen, die nicht mindestens die Merkmale eines öffentlichen Stellenangebots aufweisen, durch die Meinungsfreiheit geschützt sind.
27 Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 9 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass eine Vereinigung, die aus Rechtsanwälten besteht, die auf den gerichtlichen Rechtsschutz von Personen mit unterschiedlicher sexueller Ausrichtung spezialisiert sind, und die in ihrer Satzung das Ziel angibt, die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personenkategorie zu fördern, automatisch Trägerin eines kollektiven Interesses und eine Vereinigung ohne Gewinnerzielungsabsicht ist, die bei für diese Personenkategorie als diskriminierend einzustufenden Sachverhalten klagebefugt ist, und zwar auch in Bezug auf Schadensersatzansprüche?
2. Fällt in den Geltungsbereich des in der Richtlinie 2000/78 gewährten Diskriminierungsschutzes nach genauer Auslegung von deren Art. 2 und 3 eine im Rahmen eines Interviews in einer Unterhaltungssendung im Radio getätigte, sich gegen die Kategorie homosexueller Personen richtende Meinungsäußerung, mit der der Befragte erklärt haben soll, er würde diese Personen niemals in der eigenen Kanzlei einstellen, noch eine Zusammenarbeit mit ihnen eingehen, auch wenn er weder zu diesem Zeitpunkt noch in Zukunft ein Einstellungsverfahren beabsichtigte?
Zu den Vorlagefragen
Zur zweiten Frage
28 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, sowohl auf Art. 2 der Richtlinie 2000/78, der den Begriff der Diskriminierung betrifft, als auch auf Art. 3 dieser Richtlinie, der deren Geltungsbereich betrifft, Bezug nimmt. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht jedoch hervor, dass im Ausgangsverfahren nicht in Frage steht, ob die Äußerungen von NH unter den Begriff der „Diskriminierung“ fallen, wie dieser in der erstgenannten dieser Bestimmungen definiert ist, sondern es geht um die Frage, ob diese Äußerungen unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen sie gemacht wurden, in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie fallen, soweit diese in ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a „die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ erfasst.
29 Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen will, ob der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass unter diesen Begriff Äußerungen einer Person fallen, wonach sie niemals Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung einstellen oder in ihrem Unternehmen beschäftigen würde, die diese Person in einer Radio- oder Fernsehsendung zu einem Zeitpunkt machte, zu dem ein Einstellungsverfahren weder im Gange noch geplant war.
30 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a gilt die Richtlinie 2000/78 im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs.
31 Diese Richtlinie enthält keinen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten für die Definition des Begriffs „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“. Aus dem Gebot einer einheitlichen Anwendung des Rechts der Union wie auch des Gleichheitssatzes folgt jedoch, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 28, und vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 50).
32 Da die Richtlinie die Wendung „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ nicht definiert, ist diese Wendung entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Zusammenhang, in dem sie verwendet wird, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. September 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, C‑201/13, EU:C:2014:2132, Rn. 19, und vom 29. Juli 2019, Spiegel Online, C‑516/17, EU:C:2019:625, Rn. 65).
33 Was die Wendung in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die Formulierung „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im gewöhnlichen Sprachgebrauch Umstände oder Tatsachen erfasst, deren Existenz zwingend nachgewiesen werden muss, damit einer Person eine bestimmte Beschäftigung oder ein bestimmter Beruf zugänglich ist.
34 Jedoch lässt sich nicht allein aus den Begriffen dieser Bestimmung ermitteln, ob Äußerungen einer Person, die außerhalb eines laufenden oder geplanten Einstellungsverfahrens für eine bestimmte Beschäftigung oder einen bestimmten Beruf gemacht wurden, in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie fallen. Es ist daher erforderlich, sich mit dem Zusammenhang, in den sich dieser Art. 3 Abs. 1 Buchst. a einfügt, und den Zielen der Richtlinie zu befassen.
35 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 2000/78 auf der Grundlage von Art. 13 EG, nach Änderung jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV, erlassen wurde, der der Union eine Zuständigkeit zum Erlass der Maßnahmen verleiht, die zur Bekämpfung von Diskriminierungen, u. a. aus Gründen der sexuellen Ausrichtung, notwendig sind.
36 Nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 und ausweislich sowohl ihres Titels und ihrer Erwägungsgründe als auch ihres Inhalts und ihrer Zielsetzung soll diese Richtlinie einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten schaffen, indem sie jeder Person einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen u. a. aus diesem Grund bietet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2019, E.B., C‑258/17, EU:C:2019:17, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Insbesondere der neunte Erwägungsgrund dieser Richtlinie unterstreicht, dass Beschäftigung und Beruf Bereiche sind, die für die Gewährleistung gleicher Chancen für alle und für eine volle Teilhabe der Bürger am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben sowie für die individuelle Entfaltung von entscheidender Bedeutung sind. In diesem Sinne heißt es auch im elften Erwägungsgrund der Richtlinie, dass Diskriminierungen u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung die Verwirklichung der im AEU-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren können, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit.
38 Damit konkretisiert die Richtlinie 2000/78 in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 47).
39 Unter Berücksichtigung dieses Ziels und der Natur der Rechte, die die Richtlinie 2000/78 schützen will, sowie der Grundwerte, die ihr zugrunde liegen, darf der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie, der deren Geltungsbereich festlegt, nicht eng ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 43, und vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 42).
40 So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Richtlinie 2000/78 in Sachverhalten Anwendung finden kann, die Äußerungen in Beschäftigung und Beruf betreffen, die sich auf die „Bedingungen – einschließlich … Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 beziehen. Insbesondere hat er ausgeführt, dass unter diesen Begriff öffentliche Äußerungen über eine bestimmte Einstellungspolitik fallen, auch wenn das fragliche Einstellungssystem nicht auf einem öffentlichen Angebot oder direkten Verhandlungen nach einem Auswahlverfahren beruht, das die Einreichung von Bewerbungen und eine entsprechende Vorauswahl im Hinblick auf das Interesse, das sie für den Arbeitgeber haben, voraussetzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 44 und 45).
41 Er hat auch entschieden, dass allein die Tatsache, dass Äußerungen, die auf eine homophobe Einstellungspolitik hindeuten, nicht von einer Person stammen, die rechtlich befugt ist, die Einstellungspolitik des betreffenden Arbeitgebers unmittelbar festzulegen oder diesen Arbeitgeber bei Einstellungen zu vertreten oder zu binden, nicht notwendigerweise dem entgegensteht, dass solche Äußerungen unter die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit bei diesem Arbeitgeber fallen können. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Umstand, dass sich der Arbeitgeber nicht eindeutig von den betreffenden Äußerungen distanziert hat, ebenso wie die Wahrnehmung der Öffentlichkeit oder der betroffenen Kreise ein stichhaltiges Indiz darstellen, das die angerufene Stelle im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts berücksichtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 47 bis 51).
42 Darüber hinaus schließt auch der Umstand, dass keine Verhandlungen im Hinblick auf eine Einstellung im Gange waren, als die fraglichen Äußerungen gemacht wurden, nicht aus, dass solche Äußerungen in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallen können.
43 Aus dem Vorstehenden folgt, dass bestimmte Umstände wie das Fehlen eines laufenden oder geplanten Einstellungsverfahrens zwar nicht ausschlaggebend dafür sind, ob sich Äußerungen auf eine bestimmte Einstellungspolitik beziehen und somit unter den Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 fallen; damit solche Äußerungen in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie fallen, wie er in dieser Vorschrift bestimmt wird, ist es jedoch erforderlich, dass sie mit der Einstellungspolitik eines bestimmten Arbeitgebers tatsächlich in Zusammenhang gebracht werden können, was voraussetzt, dass die Verbindung, die sie zu den Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit bei diesem Arbeitgeber aufweisen, nicht hypothetisch ist. Ob eine solche Verbindung besteht, ist von der nationalen Stelle zu prüfen, die mit einer Gesamtwürdigung der die fraglichen Äußerungen kennzeichnenden Umstände befasst ist.
44 Hinsichtlich der hierbei zu berücksichtigenden Kriterien ist klarzustellen, dass, wie dies auch die Generalanwältin in den Nrn. 53 bis 56 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erstens die Stellung des Urhebers der betreffenden Äußerungen und die Funktion, in der er sich geäußert hat, von Bedeutung sind; hieraus muss sich ergeben, ob er entweder selbst ein potenzieller Arbeitgeber ist oder ob er rechtlich oder tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungspolitik oder die Einstellungsentscheidung eines potenziellen Arbeitgebers hat oder zumindest durch die Öffentlichkeit oder die betroffenen Kreise so wahrgenommen wird, als sei er zur Ausübung eines derartigen Einflusses in der Lage, und zwar selbst dann, wenn er nicht die rechtliche Befugnis hat, die Einstellungspolitik des betreffenden Arbeitgebers festzulegen oder diesen Arbeitgeber bei Einstellungen zu binden oder zu vertreten.
45 Von Bedeutung sind zweitens die Art und der Inhalt der fraglichen Äußerungen. Sie müssen sich auf die Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit bei dem betreffenden Arbeitgeber beziehen und dessen Absicht erkennen lassen, eine Diskriminierung auf der Grundlage der in der Richtlinie 2000/78 vorgesehenen Kriterien vorzunehmen.
46 Drittens muss der Kontext, in dem die in Rede stehenden Äußerungen getätigt wurden, berücksichtigt werden, insbesondere, ob es sich um private oder öffentliche Äußerungen gehandelt hat oder ob sie – über traditionelle Medien oder in den sozialen Netzwerken – in der Öffentlichkeit verbreitet worden sind.
47 Diese Auslegung der Richtlinie 2000/78 lässt sich nicht durch eine etwaige Einschränkung der Meinungsfreiheit, zu der sie führen könnte und die das vorlegende Gericht ins Feld führt, in Frage stellen.
48 Zwar stellt die Meinungsfreiheit als wesentliche Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, in der sich die Werte widerspiegeln, auf denen die Union gemäß Art. 2 EUV beruht, ein durch Art. 11 der Charta garantiertes Grundrecht dar (Urteil vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 31).
49 Wie aus Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, ist die Meinungsfreiheit jedoch kein absolutes Recht, und ihre Ausübung darf eingeschränkt werden, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieses Rechts achten und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren, d. h., sofern sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 65 bis 69 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist dies vorliegend der Fall.
50 Tatsächlich sind die Einschränkungen der Ausübung der Meinungsfreiheit, die sich aus der Richtlinie 2000/78 ableiten können, durchaus gesetzlich vorgesehen, da sie sich unmittelbar aus dieser Richtlinie ergeben.
51 Diese Einschränkungen achten zudem den Wesensgehalt der Meinungsfreiheit, weil sie ausschließlich zur Erreichung der Ziele der Richtlinie 2000/78 Anwendung finden, nämlich um die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz zu gewährleisten. Sie sind daher durch diese Ziele gerechtfertigt.
52 Solche Einschränkungen wahren auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die verbotenen Diskriminierungsgründe in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 aufgezählt sind, ihr materieller und persönlicher Geltungsbereich in Art. 3 dieser Richtlinie definiert ist und der Eingriff in die Ausübung der Meinungsfreiheit nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Ziele der Richtlinie zu verwirklichen, indem nur die Äußerungen verboten werden, die eine Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf darstellen.
53 Außerdem sind die sich aus der Richtlinie 2000/78 ergebenden Einschränkungen der Ausübung der Meinungsfreiheit erforderlich, um die Rechte in Beschäftigung und Beruf zu gewährleisten, über die die Personen verfügen, die zu den durch einen der in Art. 1 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe gekennzeichneten Personengruppen gehören.
54 Insbesondere wenn entgegen der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung des Begriffs „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 Äußerungen allein deshalb nicht in den materiellen Geltungsbereich dieser Richtlinie fielen, weil sie außerhalb eines Einstellungsverfahrens, namentlich im Rahmen einer Unterhaltungssendung im Radio oder im Fernsehen, getätigt wurden oder weil sie Ausdruck einer persönlichen Meinung ihres Urhebers sind, könnte der von der Richtlinie gebotene Schutzes in Beschäftigung und Beruf seinem Wesen selbst nach illusorisch werden.
55 Wie die Generalanwältin nämlich im Wesentlichen in den Nrn. 44 und 57 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erfolgt in jedem Einstellungsverfahren die grundlegende Selektion zwischen den Personen, die sich bewerben, und denjenigen, die dies nicht tun. Die Äußerung diskriminierender Meinungen auf dem Gebiet von Beschäftigung und Beruf durch einen Arbeitgeber oder eine Person, die so wahrgenommen wird, als sei sie befugt, einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungspolitik eines Unternehmens auszuüben, kann die betreffenden Personen aber schon davon abschrecken, sich für eine Stelle zu bewerben.
56 Folglich dürfen Äußerungen, die in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallen, wie dieser in deren Art. 3 definiert ist, nicht der in dieser Richtlinie festgelegten Regelung zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf mit der Begründung entzogen werden, diese Äußerungen seien während einer Unterhaltungssendung im Radio oder im Fernsehen getätigt worden oder seien auch Ausdruck der persönlichen Meinung ihres Urhebers in Bezug auf die Personengruppe, die von ihnen erfasst werde.
57 Im vorliegenden Fall ist es, da es sich um eine Tatsachenwürdigung handelt, Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Umstände, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Äußerungen kennzeichnen, belegen, dass die Verbindung dieser Äußerungen zu den Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit in der betreffenden Anwaltskanzlei nicht hypothetisch ist, und im Rahmen dieser Beurteilung die in den Rn. 44 bis 46 des vorliegenden Urteils identifizierten Kriterien anzuwenden.
58 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass unter diesen Begriff Äußerungen einer Person fallen, wonach sie niemals Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung einstellen noch in ihrem Unternehmen beschäftigen würde, die diese Person in einer Radio- oder Fernsehsendung zu einem Zeitpunkt machte, zu dem ein Einstellungsverfahren weder im Gange noch geplant war, sofern die Verbindung dieser Äußerungen zu den Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit in diesem Unternehmen nicht hypothetisch ist.
Zur ersten Frage
59 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach eine Vereinigung von Rechtsanwälten, deren satzungsmäßiger Zweck darin besteht, namentlich Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung vor Gericht Beistand zu leisten sowie die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personengruppe zu fördern, aufgrund dieses Zwecks und unabhängig von ihrer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht automatisch befugt ist, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus der Richtlinie einzuleiten und gegebenenfalls Schadensersatz geltend zu machen, wenn Tatsachen eintreten, die den Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie gegenüber dieser Personengruppe erfüllen können und sich kein Geschädigter feststellen lässt.
60 Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können.
61 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass sie nicht verlangt, dass einer Vereinigung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in den Mitgliedstaaten die Befugnis zuerkannt werden müsse, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus der Richtlinie 2000/78 einzuleiten, wenn sich kein Geschädigter feststellen lässt.
62 Jedoch sieht Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, liest man ihn im Licht des 28. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, vor, dass die Mitgliedstaaten Vorschriften einführen oder beibehalten können, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.
63 Gestützt auf diese Bestimmung hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, in seinem nationalen Recht Verbänden, die ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung dieser Richtlinie zu sorgen, das Recht einzuräumen, Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten, auch wenn sie nicht im Namen einer bestimmten beschwerten Person handeln oder sich keine beschwerte Person feststellen lässt (Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 37).
64 Wenn sich ein Mitgliedstaat hierfür entscheidet, hat er festzulegen, unter welchen Voraussetzungen eine Vereinigung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein Gerichtsverfahren einleiten kann, um das Vorliegen einer durch die Richtlinie 2000/78 verbotenen Diskriminierung feststellen und diese ahnden zu lassen. Er hat insbesondere festzulegen, ob die Gewinnerzielungsabsicht der Vereinigung einen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Klagebefugnis in diesem Sinne haben muss, und den Umfang einer solchen Klage klarzustellen, insbesondere die Sanktionen, die auf die Klage hin verhängt werden können; dabei müssen diese Sanktionen nach Art. 17 der Richtlinie 2000/78 wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, und zwar auch dann, wenn sich kein Geschädigter feststellen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 62 und 63).
65 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach eine Vereinigung von Rechtsanwälten, deren satzungsmäßiger Zweck darin besteht, namentlich Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung vor Gericht Beistand zu leisten sowie die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personengruppe zu fördern, aufgrund dieses Zwecks und unabhängig von ihrer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht automatisch befugt ist, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten und gegebenenfalls Schadensersatz geltend zu machen, wenn Tatsachen eintreten, die den Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie gegenüber dieser Personengruppe erfüllen können und sich kein Geschädigter feststellen lässt.