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Arbeitsrecht
16.11.2023
Arbeitsrecht
LAG Hamburg: Böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs – Kenntnis von Erwerbsmöglichkeiten – zumutbarer Hinweis durch Arbeitgeber – Sozialgeheimnis

LAG Hamburg, Urteil vom 6.4.2023 – 8 Sa 51/22, rkr.

ECLI:DE:LAGHH:2023:0406.8SA51.22.00

Volltext des Urteils: BB-ONLINE BBL2023-2744-1

unter www.betriebs-berater.de

 

Amtliche Leitsätze

1. Ein böswilliges Unterlassen eines anderweitigen Verdienstes kommt nur in Betracht, wenn es mindestens eine konkrete Erwerbsmöglichkeit gab, die dem Arbeitnehmer in dem Zeitraum bekannt war, für den er Verzugslohn verlangt.(Rn.31)

2. Der Verweis auf einen für den Arbeitnehmer günstigen Arbeitsmarkt genügt nicht, da es sich nicht um eine feststellungsfähige Tatsache handelt.(Rn.31)

3. Der Behauptung des Arbeitgebers, bei bestimmten Arbeitgebern seien für den Arbeitnehmer geeignete Stellen zu besetzen gewesen, genügt nur, wenn festgestellt werden kann, dass dem Arbeitnehmer diese offenen Stellen im fraglichen Zeitraum bekannt gewesen sind.(Rn.31)

4. Der Vortrag mindestens einer konkreten Beschäftigungsmöglichkeit ist dem Arbeitgeber auch zumutbar.(Rn.33) Er kann dem Arbeitnehmer eine zumutbare Prozessbeschäftigung im eigenen Unternehmen anbieten oder vortragen, er habe den Arbeitnehmer auf konkrete Stellenangebote in anderen Unternehmen hingewiesen.(Rn.34)

5. Auf einen entsprechenden Sachvortrag des Arbeitgebers hat sich der Arbeitnehmer gemäß § 138 II ZPO zu erklären, welche Aktivitäten er zur Erlangung der Beschäftigungsmöglichkeit unternommen hat oder weshalb ihm solche Bemühungen oder die Annahme eines Angebots nicht zumutbar gewesen ist.(Rn.35)

6. Das durch § 35 SGB I geschützte Sozialgeheimnis, aufgrund dessen der Arbeitgeber von der Bundesagentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter keine Auskunft erlangen kann, welche Vermittlungsvorschläge einem Arbeitnehmer übermittelt worden sind (vgl. BAG v. 27.05.2020 - 5 AZR 387/19 – Tz 41 [BB 2020, 1779 Ls.]), kann vom Arbeitgeber nicht dadurch umgangen werden, dass er für seine Behauptung, der Arbeitnehmer habe weitere Vermittlungsvorschläge erhalten, Sachbearbeiter der Behörde als Zeugen benennt.(Rn.39)

Sachverhalt

Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche des Klägers und Auskunftsansprüche der Beklagten.

Wegen des Sach- und Streitstands in erster Instanz wird gemäß § 69 II ArbGG die die Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil (Bl. 79 - 85 d.A.) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe (Bl. 85 – 95 d.A.) wird ebenfalls Bezug genommen.

Gegen das dem Kläger am 18.10.2022 zugestellte Urteil hat dieser am 17.11.2022 Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 18.01.2023 verlängerten Frist an diesem Tag begründet.

Der Kläger meint, das Arbeitsgericht habe den Verzugslohn für den Zeitraum vom 16. bis 31.07.2021 unzutreffend berechnet. Der Kläger habe Anspruch auf € 960,01 abzüglich des Arbeitslosengeldes in Höhe von € 419,20. Das Arbeitsgericht habe dem Kläger jedoch lediglich € 834,40 zugestanden abzüglich des Arbeitslosengeldes. Daraus ergebe sich die Differenz von € 125,61 die mit dem Antrag zu 1 geltend gemacht werde.

Das Arbeitsgericht habe Verzugslohnansprüche für September 2021 bis Januar 2022 verneint, weil es dem Kläger ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes unterstellt hat. Dies sei unzutreffend. Das Arbeitsgericht habe keine Tatsachen festgestellt, aus denen sich ergibt, dass der Kläger, der keine Ausbildung im Pflegebereich habe, ab dem 01.09.2021 ein Arbeitsverhältnis hätte eingehen können, welches zu einem Verdienst geführt hätte, den er bei der Beklagten erzielt hat. Der Kläger habe sich verschiedentlich beworben, könne die Korrespondenz aufgrund eines technischen Defekts seiner EDV jedoch nicht vorlegen. Gegen die vom Arbeitsgericht unterstellte Böswilligkeit spreche bereits, dass der Kläger sich bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet hat. Von dort habe er im fraglichen Zeitraum nur ein Vermittlungsangebot erhalten. Auf telefonische Rücksprache, habe ihm die Sachbearbeiterin erklärt, er werde weiterhin Arbeitslosengeld bekommen, auch wenn er sich dort nicht bewerbe. Auf eine Bewerbung habe er aus diesem Grund verzichtet. Entgegen der Darstellung im angefochtenen Urteil sei es auch nicht unstreitig, dass im zweiten Halbjahr 2021 zahlreiche für den Kläger geeignete Stellen zu besetzen gewesen sein. Der Kläger habe diese Behauptung der Beklagten bestritten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung (Bl. 126 – 129 d.A.) und den ergänzenden Schriftsatz vom 23.03.2023 (Bl. 151 – 153 d.A.) Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den anteiligen Monat Juli 2021 über den erstinstanzlich zuerkannten Betrag hinaus weitere € 125,61 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.10.2021 zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat September 2021 € 1.632,03 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.10.2021 abzüglich € 786,00 netto zu zahlen;

3. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat Oktober 2021 € 1.632,03 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.11.2021 abzüglich € 786,00 netto zu zahlen;

4. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat November 2021 € 1.782,03 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.12.2021 abzüglich € 786,00 netto zu zahlen;

5. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat Dezember 2021 € 1.632,03 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.01.2022 abzüglich € 786,00 netto zu zahlen;

6. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat Januar 2022 über den erstinstanzlich zuerkannten Betrag hinaus weitere € 1.421,45 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.02.2022 abzüglich € 366,80 netto zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers hinsichtlich der Anträge 2 bis 6 zurückzuweisen

und im Wege der Anschlussberufung,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 06.10.022 (9 Ca 119/22) teilweise abzuändern und die Klage in Höhe von weiteren € 2.466,43 brutto (Entgelt anteilig für Juli 2021 über € 834,40 und für August 2021 über € 1.632,03) zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Berufung des Klägers sei unzulässig, weil es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen des angefochtenen Urteils fehle.

Jedenfalls sei die Berufung aus den von der Beklagten bereits in erster Instanz vorgetragenen Gründen zurückzuweisen. Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung, soweit sie die Klage abgewiesen hat. Entgegen der Ansicht des Klägers hätte er nicht untätig bleiben dürfen, bis sich ihm eine realistische Arbeitsmöglichkeit anbot. Nach Ansicht des BAG könne der Arbeitnehmer auch verpflichtet sein, eigene Angebote abzugeben, um den Annahmeverzug zu beenden. Eine Tätigkeit im gleichen Berufsfeld am selbst Ort bei im Wesentlichen identischen oder sogar besseren Arbeitsbedingungen könne nicht unzumutbar sein.

Ein Verzugslohnanspruch sei auch für die Zeit bis zum 31.08.2021 zu verneinen. Der Kläger sei seit dem 09.06.2021 freigestellt gewesen und hätte unverzüglich Bemühungen aufnehmen können, im Arbeitsmarkt Hamburg eine neue Stelle zu finden. Eine sehr große Auswahl an Einrichtungen habe Arbeitskräfte zum sofortigen Einstieg gesucht. Dass der Kläger diese, teilweise als Pflegenotstand bezeichnete Situation nicht wahrgenommen haben will, sei ganz und gar unglaubwürdig.

Die Beklagte hat für insgesamt 16 Pflegeeinrichtungen Führungskräfte als Zeugen für ihre Behauptung benannt, im zweiten Halbjahr 2021 wären (auch) ungelernte Pflegekräfte zur sofortigen Einstellung gesucht worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungserwiderung der Beklagten (Bl. 133 – 137 d.A.) und den ergänzenden Schriftsatz vom 30.03.2023 (Bl. 155f d.A.) Bezug genommen.

Aus den Gründen

 

Die Berufung ist zulässig und überwiegend begründet. Die Anschlussberufung bleibt ohne Erfolg.

 

1. Die Berufung ist zulässig. Der Kläger hat sich mit dem tragenden Grund der angefochtenen Entscheidung, aufgrund der für Arbeitnehmer günstigen Situation am Arbeitsmarkt sei ab September von einem böswilligen Unterlassen anderweitigen Erwerbs seitens des Klägers auszugehen, auseinandergesetzt und eine Gegenposition formuliert. Das genügt. Neuer Sachvortrag ist nicht erforderlich. Andernfalls müsste eine Partei in erster Instanz Angriffs- oder Verteidigungsmittel zurückhalten, um im Berufungsrechtszug neu vortragen zu können.

 

2. Der Antrag zu 1, welcher den Verzugslohn für Juli 2021 betrifft, ist allerdings nicht in vollem Umfang begründet. Wie der Kläger auf einen Differenzbetrag von € 125,61 kommt, ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Ausgehend von dem unstreitigen Monatsgehalt verdiente der Kläger in Monaten mit 31 Tagen € 52,65 pro Tag. Für 15 Tage besteht somit ein Anspruch in Höhe von € 789,69. Zuzüglich der unstreitigen tariflichen Zulage von € 150,- hatte der Kläger € 939,69 zu bekommen. Abzüglich der bereits gezahlten € 419,20 ergibt sich ein vom Kläger noch zu beanspruchender Differenzbetrag von € 105,29.

 

3. Ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes kann entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts und der Beklagten im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden.

 

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Urt. v. 22.02.2000 – 9 AZR 194/99 – Tz 13 [BB 2000, 1410]) liegt das Risiko der Unwirksamkeit einer Kündigung beim Kündigenden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 615 S 2 BGB bzw. aus § 11 Nr. 2 KSchG.

 

b) Ein böswilliges Unterlassen eines anderweitigen Verdienstes setzt jedenfalls voraus, dass es eine konkrete Erwerbsmöglichkeit gab, die dem Arbeitnehmer bekannt und deren Annahme ihm zumutbar war. Nach Auffassung der Kammer genügt weder der Verweis auf einen für den Arbeitnehmer günstigen Arbeitsmarkt noch der konkrete Vortrag von Beschäftigungsmöglichkeiten – wie im Schriftsatz der Beklagten vom 30.03.2023 – wenn diese dem Arbeitnehmer im fraglichen Zeitraum nicht bekannt gemacht worden sind.

Ein für den Arbeitnehmer günstiger Arbeitsmarkt ist keine Tatsache, sondern eine Bewertung. Sie mag deshalb von einem Gericht geteilt werden, kann aber nicht gerichtsbekannt sein.

 

c) Durch das Erfordernis der Feststellung einer konkreten Erwerbsmöglichkeit wird der Arbeitgeber, der Verzugslohnansprüche vermeiden will, auch nicht in unangemessener Weise benachteiligt.

Er kann zunächst dem Arbeitnehmer eine Prozessbeschäftigung anbieten. Die Ablehnung einer Prozessbeschäftigung trägt regelmäßig die Feststellung eines böswilligen Unterlassens, selbst wenn die angebotene Beschäftigung nicht der zuvor vertraglich geschuldeten Leistung entspricht, sofern sie für den Arbeitnehmer zumutbar ist.

Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer auch auf bestimmte Beschäftigungsmöglichkeiten hinweisen. Hätte die Beklagte dem Kläger nur einzelne der im Schriftsatz vom 30.03.2023 aufgezeigten Beschäftigungsmöglichkeiten mitgeteilt, hätte sich der Kläger gemäß § 138 II ZPO dazu erklären müssen, wie er auf diese Mitteilungen reagiert hat. Darüber hätte ggf. Beweis erhoben werden müssen.

 

d) Ohne insoweit substantiierten Sachvortrag des Arbeitgebers ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, von sich aus aktiv zu werden. Zur Abgabe eigener Angebote ist der Arbeitnehmer nach der Rechtsprechung des BAG nur verpflichtet, wenn sich ihm eine realistische Arbeitsmöglichkeit bietet (BAG v. 22.03.2017 – 5 AZR 337/17 – Tz 27; ebenso BAG v. 11.01.2006 – 5 AZR 98/05 – Tz 19 [BB 2006, 835]). Diese realistische Arbeitsmöglichkeit muss aber im konkreten Fall festgestellt werden können.

 

e) Unter den gegebenen Umständen steht es den Ansprüchen des Klägers nicht entgegen, dass der Kläger keinerlei Aktivitäten entfaltet hat, um eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit zu erlangen.

Davon geht die Kammer aus, da der Kläger weder zu telefonischen oder persönlichen Kontaktaufnahmen mit potentiellen Arbeitgebern vorgetragen noch diesbezüglichen Schriftverkehr vorgelegt hat. Bei der nicht näher konkretisieren Behauptung, sein E-Mail-Account sei dauerhaft nicht mehr erreichbar, handelt es sich um eine offensichtliche Schutzbehauptung.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Kläger weitere Vermittlungsangebote der Bundesagentur erhalten hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat der Arbeitgeber keinen Auskunftsanspruch gegen die Bundesagentur wegen des von dieser zu beachtenden Sozialgeheimnisses. Dieses kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass der Arbeitgeber Sachbearbeiter der Bundesagentur als Zeugen benennt.

Die vom Kläger behauptete Aussage der Sachbearbeiterin der Bundesagentur, er müsse sich auf das einzige ihm übermittelte Vermittlungsangebot nicht bewerben, betrifft zwar allenfalls die sozialrechtlichen Verpflichtungen des Klägers, nicht etwaige Obliegenheiten gegenüber der Beklagten. Das Vermittlungsangebot bezieht sich allerdings auf eine Vollzeitstelle. Diese musste der Kläger nicht annehmen, da er eine Teilzeitbeschäftigung suchte, die er auch bei der Beklagten innehatte. Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass der im Vermittlungsangebot der Bundesagentur genannte Arbeitgeber erklärt hat, er wäre seinerzeit auch an der Einstellung von Teilzeitkräften interessiert gewesen.

 

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 VI ArbGG i. V. m. § 97 I ZPO und § 91 I ZPO. Das Unterliegen des Klägers hinsichtlich eines kleinen Teils seines Antrags zu 1 konnte gemäß § 92 II Nr. 1 ZPO außer Betracht bleiben.

 

III. Für die Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung. Die Berufungskammer folgt der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die rechtlichen Erwägungen, auf denen das Urteil beruht, haben keine grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 72 II Nr. 1 ArbGG.

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