LAG Berlin-Brandenburg: Außerordentliche fristlose Tat- bzw. Verdachtskündigung, Vortäuschen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.2.2015 — 21 Sa 1902/14
Amtliche Leitsätze
1. Das Vortäuschen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist "an sich" geeignet, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Dies gilt auch für den dringenden Verdacht, der Arbeitnehmer habe eine Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht.
2. Legt ein Arbeitnehmer einerseits eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor und erklärt er andererseits, er sei nicht zum Dienst erschienen, weil er verschlafen habe, spricht dies gegen das Vorliegen eines dringenden Verdachts des Vortäuschens einer Arbeitsunfähigkeit.
3. Bei Anhaltspunkten, dass einem Arbeitnehmer nicht hinreichend klar ist, was konkret von ihm erwartet wird, ist vor Ausspruch einer Kündigung eine Abmahnung erforderlich, die dem Arbeitnehmer seine Vertragspflichten in einer für ihn verständlichen Weise nochmals verdeutlicht.
Sachverhalt
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung vom 27. Dezember 2013.
Der am … 1965 geborene, verheiratete und für sieben Kinder unterhaltspflichtige Kläger hieß früher mit Nachnamen G. und ist bei der Beklagten, die regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt, seit dem 1. März 1990 auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrages von demselben Tag (Bl. 66 ff. d. A.) beschäftigt. Zuletzt war er im Fachbereich Vertrieb und Service (FVS) im Bereich Kundendienst als Fahrzeugbegleiter bzw. Kundenbetreuer gegen eine monatliche Bruttovergütung von 2.810,09 Euro tätig. Nach § 9a der Anlage 6 zum auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen bei den Nahverkehrsbetrieben im Land Berlin (TV-N Berlin) ist der Kläger ordentlich unkündbar.
Im Jahr 2007 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger wegen erheblicher krankheitsbedingter Fehlzeiten außerordentlich mit sozialer Auslauffrist. In dem daraufhin geführten Rechtsstreit einigten sich die Parteien im Berufungsverfahren vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg am 7. August 2008 auf die unveränderte Fortführung des Arbeitsverhältnisses.
Mit Schreiben vom 31. März 2009 (Bl. 77 ff. d. A.) erteilte die Beklagte dem Kläger nach Anhörung eine Abmahnung wegen verspäteter Krankmeldung am 22. Januar 2009. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2009 (Bl. 81 ff. d. A.) erteilte sie dem Kläger nach Anhörung eine weitere Abmahnung wegen Nichtvorlage einer Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den 9. November 2009. Seit dem 8. September 2011 ist der Kläger verpflichtet, bereits ab dem ersten Tag einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Mit Schreiben vom 3. Februar 2012 (Bl. 90 d. A.) erteilte die Beklagte dem Kläger nach Anhörung eine Abmahnung wegen Nichtvorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit ab dem 24. Januar 2012.
Verschlafen Beschäftigte oder treten sie aus sonstigen Gründen ohne ausreichende Entschuldigung ihren Dienst nicht oder verspätet an, wird die Fehlzeit als „Urlaub ohne Bezüge“ (kurz: „uo“) verbucht mit der Folge, dass sich die Vergütung für den jeweiligen Monat reduziert. In besonderen Fällen wie beispielweise bei einmaligem Verschlafen liegt es Ermessen des Sachgebietsleiters, die Fehlzeit über das Kurzzeitarbeitskonto (Kurzzeitkonto) auszugleichen mit der Folge, dass sich zwar das Guthaben auf dem Kurzzeitkonto, nicht jedoch die Vergütung für den jeweiligen Monat reduziert. Am 8. Oktober 2012, 28. November 2012 und 23. Dezember 2012 verspätete sich der Kläger jeweils um 55 bzw. 90 Minuten, weil er verschlafen hatte. In allen drei Fällen gestattete ihm der Sachgebietsleiter, die Fehlzeit über das Kurzzeitkonto auszugleichen. In der Folgezeit wurden Verspätungen des Klägers stets als „uo“ verbucht.
Mit Schreiben vom 12. März 2013 (Bl. 94 d. A.) erteilte die Beklagte dem Kläger nach Anhörung eine letztmalige Abmahnung wegen Nichtvorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den ersten Tag seiner Arbeitsunfähigkeit ab dem 6. Februar 2013.
Mit Schreiben vom 17. und 25. April 2013 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger erneut aus krankheitsbedingten Gründen außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 31. Dezember 2013. Das Arbeitsgericht Berlin gab der hiergegen vom Kläger erhobenen Klage mit Urteil vom 31. Oktober 2013 - 58 Ca 6355/13 - statt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ablichtung des Urteils (Bl. 134 ff. d. A.) verwiesen. Über die hiergegen von der Beklagten vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegte Berufung - 23 Sa 2028/13 - ist noch nicht entschieden. Mit Beschluss vom 7. April 2014 wurde das Verfahren wegen Vorgreiflichkeit des vorliegenden Rechtsstreits ausgesetzt.
Am 2. Oktober 2013 erschien der Kläger nicht zum Dienst. Am 3. Oktober 2013 meldete er sich arbeitsunfähig krank und legte am 7. Oktober 2013 eine am 4. Oktober 2013 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor.
Am 4. Dezember 2013 war der Kläger zur Frühschicht ab 7:00 Uhr eingeteilt. Gegen 10:30 Uhr rief er bei der zuständigen Sachbearbeiterin Frau S. an und erklärte sinngemäß, er habe verschlafen, gehe jetzt zum Arzt und lasse sich für heute krankschreiben. Ob er außerdem äußerte, er schaffe es nicht mehr, zum Dienst zu erscheinen, ist unklar. Am 6. Dezember 2013 übergab der Kläger, der an diesem und dem vorangegangenen Tag dienstfrei hatte, dem Dienstzuteiler Herrn U. eine am 5. Dezember 2013 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den 4. und 5. Dezember 2013. Auf dem ihm daraufhin vorgelegten Formular „Dienstversäumnis ganztägig“ gab der Kläger als Grund für sein Nichterscheinen am 4. Dezember 2013 an, er habe den Wecker nicht gehört. Wegen der Einzelheiten des ausgefüllten Formulars wird auf dessen Ablichtung (Bl. 245 d. A.) verwiesen.
Mit Schreiben vom 11. Dezember 2013 (Bl. 246 ff. d. A.) hörte die Beklagte den Kläger wegen des dringenden Verdachts der versuchten Erschleichung von Entgeltfortzahlung für den 4. Dezember 2013 an und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 17. Dezember 2013. Mit Schreiben vom 17. Dezember 2013 nahm der Kläger auszugsweise wie folgt Stellung:
„Am 04.12 habe ich verschlaffen ja weil ich den Wecker nicht hörte ich habe mich um 10:30 bei Frau S. gemeldet.Ich habe ihr gesagt. Das ich heute das nicht mehr in der zeit schaffe und nicht komme. Da ich ja Atstflichtig bin muß ich für den tag einen ates briegen und gehe zum Arzt.
…
Ich habe schon mal versucht für den Tag wo ich verschlaffen habe einen UO oder vom Kurzeitkonto den Tag abziehen zulassen wurde mir immer verwert. weil ich ates flichtig bin laut Dz.Deshalb verstehe ich nicht warum ich jetzt eine Stellungsnahme schreiben muß. Ich bekomme eine Abmahnung weil ich kein Ates bringe für einen Tag oder ich kriege eine weil ich verschlafen habe.macht in meinen Augen keinen sinn.Ich hätte gerne den Tag vom Kurzeitkonto genommen oder UO wenn ich es bekommen würde bekomme ich aber nicht so wurde es mir vom eineiger Zeit von einen alten Dz.gesagt.den Namen sage ich jetzt nicht. Es ist nicht erwüncht das ich es kriege laut Hr. D..“
Wegen des weiteren Inhalts des Schreibens wird auf dessen Ablichtung (Bl. 248 d. A.) verwiesen.
Mit Schreiben vom 18. Dezember 2013 (Bl. 249 ff. d. A.) bat die Beklagte den Personalrat um Zustimmung zu einer beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Tat- bzw. Verdachtskündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger, hilfsweise mit sozialer Auslauffrist. Am 20. Dezember 2013 stimmte der Personalrat der beabsichtigten Kündigung zu. Mit Schreiben vom 27. Dezember 2013, welches dem Kläger noch an demselben Tag zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich fristlos. Mit einem weiteren Schreiben vom 2. Januar 2014 kündigte sie das Arbeitsverhältnis vorsorglich erneut mit sozialer Auslauffrist bis zum 30. September 2014.
Mit der beim Arbeitsgericht Berlin am 8. Januar 2014 eingegangenen, der Beklagten am 16. Januar 2014 zugestellten Klage hat sich der Kläger gegen die fristlose Kündigung vom 27. Dezember 2013 gewandt. Wegen der vorsorglichen Kündigung vom 2. Januar 2014 mit sozialer Auslauffrist ist beim Arbeitsgericht Berlin ein Rechtsstreit unter dem Aktenzeichen 16 Ca 234/14 anhängig.
Der Kläger hat vorgetragen, er sei davon ausgegangen, dass er auch im Fall einer nicht rechtzeitigen Arbeitsaufnahme ein ärztliches Attest vorlegen müsse. Eine vorsätzliche Betrugshandlung habe er nicht begangen und habe auch nicht versucht, sich zu bereichern. Ferner hat der Kläger die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB sowie die ordnungsgemäße Personalratsanhörung gerügt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 3. September 2014 hat der Kläger auf die Frage der Vorsitzenden, was den passiert wäre, wenn er für den 4. Dezember 2013 keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht hätte, erklärt, er hätte wohl eine Abmahnung bekommen, aber er habe ja schon welche.
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 27. Dezember 2013 nicht beendet worden ist;
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände geendet hat, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht;
3. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder zu 2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Kundenbetreuer weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat gemeint, es sei erwiesen, dass der Kläger eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit am 4. Dezember 2013 vorgetäuscht habe, um Entgeltfortzahlung zu erhalten. Jedenfalls bestehe der dringende Verdacht eines Entgeltfortzahlungsbetruges. Dadurch sei das erforderliche Vertrauen in die Redlichkeit des Klägers zerstört, weshalb ihr die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht, auch nicht bis zum Ablauf einer sozialen Auslauffrist zumutbar sei.
Mit Urteil vom 3. September 2014, auf dessen Tatbestand (Bl. 169 - 173 d. A.) wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien verwiesen wird, hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ein wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB liege vor. Die Kündigung sei auch im Übrigen wirksam. Der Kläger habe für den 4. Dezember 2013 ein Attest vorgelegt, um sein vorausgegangenes objektiv unentschuldigtes Fehlen zu entschuldigen und negativen Folgen für sein Arbeitsverhältnis zu entgehen. Ob er darüber hinaus auch unberechtigterweise Entgeltfortzahlung habe erschleichen wollen, sei nicht entscheidend. Er habe sich jedenfalls einen Entschuldigungsgrund für sein unentschuldigtes Fehlen besorgen wollen, weil er bei Fehlzeiten keinen Urlaubstag ohne Bezüge und auch keinen Abzug vom Kurzzeitkonto mehr erhalte. Dadurch habe der Kläger das Vertrauen der Beklagten insbesondere in seine Krankmeldungen zerstört. Die Beklagte müsse schon wegen der Entgeltfortzahlungspflicht darauf vertrauen können, dass der Kläger nur dann eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreiche, wenn er tatsächlich arbeitsunfähig krank sei. Sämtliche in Betracht kommenden milderen Mittel seien bereits ausgeschöpft gewesen. Die Beklagte sei dem Kläger bei einem verspäteten Dienstantritt mehrfach entgegengekommen. Auch sei der Kläger wegen seiner Unzuverlässigkeit mehrfach abgemahnt worden. Die Einlassung des Klägers, er sei davon ausgegangen, er müsse in jedem Fall des Fehlens eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, sei auch unter Berücksichtigung der verschiedenen Verständnismöglichkeiten nicht nachvollziehbar. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils (Bl. 173 - 180 d. A.) verwiesen.
Gegen dieses dem Kläger am 15. September 2014 zugestellte Urteil richtet sich die am 15. Oktober 2014 beim Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung des Klägers, welche er mit am 22. Oktober 2014 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz begründet hat.
Der Kläger setzt sich mit dem angefochtenen Urteil auseinander und trägt vor, sein Verhalten bezüglich des 4. Dezember 2013 sei zwar vertragswidrig gewesen. Dennoch berechtige es die Beklagte nicht zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung. Dass er keinen Lohnbetrug habe begehen wollen, ergebe sich schon aus dem unstreitigen Sachverhalt. Es fehle sowohl an einer Täuschungshandlung als auch einer Täuschungsabsicht. Er habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht vorgelegt, um die Beklagte zu täuschen oder finanziell zu schädigen, sondern um seiner Attestpflicht nachzukommen. Er sei fälschlicherweise der Meinung gewesen, er müsse, da er bereits ab dem ersten Tag „attestpflichtig“ gewesen sei, auch bei Verspätungen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen. Die Kündigung sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil die Beklagte den unentschuldigten Fehltag am 2. Oktober 2013 nicht zum Anlass für eine Abmahnung genommen habe.
Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht am 12. Februar 2015 hat der Kläger erklärt, er habe es am 4. Dezember 2013 nicht mehr geschafft, noch zum Dienst zu gehen, weil seine Frau nicht zu Hause gewesen sei und er erst die Kinder habe versorgen müssen. Gegenüber seinem behandelnden Arzt habe er angegeben, Kopfschmerzen zu haben, weil er anderenfalls keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten hätte. Wenn er es, nachdem er verschlafen habe, noch zum Dienst geschafft habe, sei die Fehlzeit als „uo“ gebucht worden. Wenn er es jedoch nicht mehr geschafft habe, habe ihm der frühere Dienstzuteiler Herr P. gesagt, er müsse ein Attest bringen, weil er attestpflichtig sei.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. September 2014 - 21 Ca 254/14 - teilweise abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten von 27. Dezember 2013 nicht aufgelöst worden ist.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und trägt ergänzend vor, wegen des erneuten Fehlverhaltens des Klägers am 2. Oktober 2013 habe sie sich nach intensiven Überlegungen dazu entschlossen, dem Kläger eine letzte Chance einzuräumen und ihm eine „endgültig letzte Abmahnung“ auszusprechen. Hierzu sei es dann jedoch nicht mehr gekommen. Ein Grund, weshalb unentschuldigtes Fehlen des Klägers nicht als „uo“ habe gebucht werden sollen, bestehe nicht. Insbesondere habe es keine Pflicht gegeben, stattdessen, ohne arbeitsunfähig krank zu sein, ein ärztliches Attest vorzulegen. Abgesehen davon sei aufgrund der zahlreichen abgemahnten Verstöße des Klägers gegen seine Melde- bzw. Nachweispflichten aber auch schon der Vorwurf erneuten unentschuldigten Fehlens allgemein geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Hierbei habe es der Kläger jedoch nicht belassen, sondern darüber hinaus eine Erkrankung vorgespiegelt. Frau S. habe die telefonische Mitteilung des Klägers am 4. Dezember 2013 nur dahin verstehen können, dass dieser verschlafen und beim Aufwachen ein Krankheitsgefühl verspürt habe. Dass es ihr, der Beklagten, allein um die formelle Erfüllung der Attestpflicht gehe, habe der Kläger nicht ernsthaft annehmen können. Es sei auch wenig glaubhaft, dass er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur wegen seiner Attestpflicht vorgelegt habe. Einer weiteren Abmahnung habe es nicht bedurft. Es sei ihr auch nicht zumutbar gewesen, den Kläger weitere neun Monate bis zum Ablauf der sozialen Auslauffrist am 30. September 2014 weiter zu beschäftigen.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 21. Oktober 2014 (Bl. 192 - 195 d. A.) und vom 5. Februar 2015 (Bl. 281 d. A.) sowie auf den Schriftsatz der Beklagten vom 28. November 2014 (Bl. 219 - 236 d. A.) Bezug genommen.
Aus den Gründen
Die Berufung hat Erfolg. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 27. Dezember 2013 nicht aufgelöst worden. Das angefochtene Urteil war deshalb insoweit abzuändern und der Klage stattzugeben.
I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist nach § 8 Abs. 2, § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. c ArbGG statthaft sowie form- und fristgerecht i. S. v. § 64 Abs. 6, § 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO eingelegt und begründet worden.
II. Die Berufung ist auch begründet. Die zulässige sowie innerhalb der Frist der §§ 4, 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG, § 167 ZPO erhobene Klage ist auch im Übrigen begründet. Ein wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB für die streitgegenständliche Kündigung ist nicht gegeben. Die Kündigung ist daher unwirksam.
1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer der kündigenden Vertragspartei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob der kündigenden Vertragspartei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (BAG vom 21.11.2013 - 2 AZR 797/11 - Rn. 15 m. w. N., AP Nr. 53 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung). Bei einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer - wie vorliegend der Kläger - ist dabei auf die „fiktive“ Kündigungsfrist abzustellen (BAG vom 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 - Rn. 12, AP Nr. 234 zu § 626 BGB).
a) Als wichtiger Grund „an sich“ geeignet sind nicht nur erhebliche Pflichtverletzungen im Sinne von nachgewiesenen Taten. Auch der Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Täuscht ein Arbeitnehmer eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nur vor und lässt sich Entgeltfortzahlung gewähren, handelt es sich in der Regel um eine schwerwiegende Pflichtverletzung, die eine außerordentliche Tatkündigung oder im Fall eines Verdachts auch eine außerordentliche Verdachtskündigung „an sich“ rechtfertigen kann (vgl. BAG vom 26.08.1993 - 2 AZR 154/93 - Rn. 32 zitiert nach juris, AP Nr. 112 zu § 626 BGB).
aa) Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, dass für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhaltes unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (BAG vom 25.10.2012 - 2 AZR 700/11 - Rn. 13 m. w. N., AP Nr. 51 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung).
bb) Der Verdacht muss auf - vom Arbeitgeber darzulegende und gegebenenfalls zu beweisende - Tatsachen gestützt sein. Der Verdacht muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, dass eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermag. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (BAG vom 23.05.2013 - 2 AZR 102/12 - Rn. 21, AP Nr. 52 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung; vom 25.10.2012 - 7 AZR 700/11 - Rn. 14, a. a. O.).
b) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung oder eines dahingehenden dringenden Verdachts jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, dass Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind (BAG vom 21.11.2013 - 2 AZR 797/11 - Rn. 17, a. a. O.; vom 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 - Rn. 18, a. a. O.). Eine Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist(BAG vom 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 - Rn. 18, a. a. O.).
2. In Anwendung dieser Grundsätze ist die Kündigung vom 27. Dezember 2013 weder als Tat- noch als Verdachtskündigung wirksam.
a) Ein dringender Verdacht, dass der Kläger der Beklagten bewusst eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit am 4. Dezember 2013 vorgetäuscht hat, besteht nicht.
Zwar war der Kläger am 4. Dezember 2013 nicht zum Dienst erschienen und hatte der Beklagten für diesen Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt, gleichwohl er nicht krank war, sondern lediglich verschlafen hatte und meinte, nicht mehr zum Dienst erscheinen zu können, weil seine Frau nicht zu Hause war und er erst die Kinder versorgen musste. Auch hat er in der mündlichen Verhandlung am 12. Februar 2015 vor dem Landesarbeitsgericht unumwunden zugegeben, seinem behandelnden Arzt Kopfschmerzen nur vorgespiegelt zu haben, weil er andernfalls kein Attest erhalten hätte. Auf dem Formular „Dienstversäumnis ganztägig“, welches dem Kläger bei Abgabe der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 6. Dezember 2013 vorgelegt worden war, hat er als Grund für sein Nichterscheinen zum Dienst am 4. Dezember 2013 aber nicht etwa angegeben, er sei krank gewesen. Vielmehr hat er dort vermerkt, er habe den Wecker nicht gehört. Es hätte daher Anlass bestanden, den Kläger auf diesen Widerspruch anzusprechen bzw. konkret nachzufragen, ob er verschlafen habe oder tatsächlich krank gewesen sei. Stattdessen ist die Beklagte im Anhörungsschreiben vom 11. Dezember 2013 davon ausgegangen, er habe eine Arbeitsunfähigkeit vortäuschen wollen, um Entgeltfortzahlung zu erschleichen. Wenn es dem Kläger tatsächlich darum gegangen wäre, der Beklagten eine Arbeitsunfähigkeit vorzuspiegeln, hätte es jedoch sehr viel näher gelegen, auf dem Formular „Dienstversäumnis ganztägig“ anzugeben, er habe verschlafen und sich beim Aufwachen krank gefühlt, oder, er sei krank gewesen und habe deshalb verschlafen.
Es kann deshalb auch dahingestellt bleiben, ob der Kläger, als er am 4. Dezember 2013 um 10:30 Uhr bei Frau S. anrief, nur gesagt hat, er habe verschlafen, gehe jetzt zum Arzt und lasse sich für den Tag krankschreiben, oder ob er - wie er in seiner Stellungnahme vom 17. Dezember 2013 angegeben hat - außerdem gesagt hat, er schaffe es heute nicht mehr in der Zeit, und wie Frau S. die Äußerungen des Klägers verstanden hat.
Der Beklagten ist zuzugeben, dass nur schwer nachvollziehbar ist, wie ein Arbeitnehmer darauf kommen kann, er müsse auch dann, wenn er nicht krank ist, sondern nur verschlafen hat und deshalb nicht zum Dienst erscheint, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen. Denn da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit dient, müsste jedem Arbeitnehmer ohne Weiteres klar sein, dass eine Pflicht zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur bestehen kann, wenn er tatsächlich arbeitsunfähig krank ist. Ob ein Arbeitnehmer das, was jedem einleuchten müsste, auch entsprechend einordnet, hängt allerdings immer auch von den individuellen Fähigkeiten des jeweiligen Arbeitnehmers ab.
Vorliegend bestand beim Kläger offensichtlich ein Einordnungsdefizit. Denn er hat seine Verpflichtung, bereits ab dem ersten Fehltag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen, offenbar als rein formale Anforderung verstanden. Denn in der mündlichen Verhandlung am 12. Februar 2015 hat er angegeben, wenn er verschlafen habe, es aber noch zum Dienst geschafft habe, sei die Fehlzeit „uo“ gebucht worden. Wenn er es hingegen nicht geschafft und den ganzen Tag gefehlt habe, habe er ein Attest beibringen müssen, weil er attestpflichtig sei. Dies habe ihm der frühere Dienstzuteiler Herr P. so gesagt. Es erschien auch durchaus plausibel, dass Herr P. sich in der Weise gegenüber dem Kläger geäußert hat bzw. der Kläger Äußerungen von Herrn P. so verstanden hat. Denn Arbeitnehmer, die verschlafen haben, fehlen üblicherweise nicht einen gesamten Tag, sondern verspäten sich lediglich. Dass ein Arbeitnehmer - wie der Kläger -, wenn er verschlafen hat, aufgrund seiner häuslichen Umstände überhaupt nicht mehr zum Dienst erscheint, ist hingegen eher ungewöhnlich.
Dass der Kläger nur über eingeschränkte Fähigkeiten verfügt, Sachverhalte richtig einzuordnen, wird insbesondere auch durch seine Stellungnahme vom 17. Dezember 2013 deutlich. So heißt es in der Stellungnahme, er habe schon mal versucht, einen Tag, an dem er verschlafen habe, als „uo“ buchen oder vom Kurzzeitkonto abziehen zu lassen. Dies sei ihm jedoch verwehrt worden, weil der attestpflichtig sei. Offenbar war dem Kläger nicht klar, dass Verspätungen wegen Verschlafens und sonstige unentschuldigte Fehlzeiten auch dann, wenn sie als „uo“ verbucht oder von Kurzzeitkonto abgezogen werden, Vertragspflichtverletzungen sind, da ein Arbeitnehmer grundsätzlich verpflichtet ist, den Dienst pünktlich anzutreten und gegebenenfalls dafür zu sorgen, dass er den Wecker hört bzw. nicht verschläft. Außerdem scheint er trotz des gegen ihn in dem Anhörungsschreiben vom 11. Dezember 2013 erhobenen Betrugsvorwurfs nicht mit einer Kündigung gerechnet zu haben, sondern angenommen zu haben, er solle eine weitere Abmahnung erhalten. Denn anders lässt es sich nicht erklären, dass es in der Stellungnahme weiter heißt, er verstehe nicht, weshalb er eine Stellungnahme abgeben müsse. Entweder bekomme er eine Abmahnung, weil er kein Attest vorlege, oder er bekomme eine Abmahnung, weil er verschlafen habe.
b) Der Umstand, dass der Kläger am 4. Dezember 2013 verschlafen hatte und damit objektiv unentschuldigt gefehlt hat, rechtfertigt die Kündigung ebenfalls nicht.
Zwar kann grundsätzlich auch unentschuldigtes Fehlen einen Grund für eine außerordentliche Kündigung „an sich“ darstellen (vgl. BAG vom 15.03.2001 - 2 AZR 147/00 - Rn. 15 zitiert nach juris, EzA § 626 BGB n. F. Nr. 185). Jedoch ist unentschuldigtes Fehlen in aller Regel nicht als eine so schwerwiegende Pflichtverletzung anzusehen, als dass eine Abmahnung vor dem Ausspruch einer Kündigung entbehrlich wäre. Die Abmahnungen, die die Beklagte dem Kläger in der Vergangenheit wegen Verletzung seiner Anzeige- und Nachweispflichten nach § 5 EFZG erteilt hatte, konnten die erforderliche Abmahnung nicht ersetzen. Zwar geht es sowohl bei einer Verletzung der Anzeige- und Nachweispflichten nach § 5 EFZG als auch bei Verspätungen und ganztägigen Dienstversäumnissen wegen Verschlafens um die Zuverlässigkeit des Arbeitnehmers, weshalb beide Vertragspflichtverletzungen einen ähnlichen Pflichtenkreis betreffen. Gleichwohl konnte vorliegend nicht auf eine weitere Abmahnung verzichtet werden. Denn der Zweck einer Abmahnung beschränkt sich nicht allein darauf, dem Arbeitnehmer vor Augen zu halten, dass er bei einer erneuten Pflichtverletzung mit einer Kündigung rechnen muss (sog. Warnfunktion). Vielmehr soll einem Arbeitnehmer durch eine Abmahnung auch deutlich gemacht werden, welche konkreten Pflichten ihm obliegen bzw. was konkret von ihm erwartet wird (sog. Hinweisfunktion) (vgl. BAG vom 23.07.2009 - 2 AZR 606/08 - Rn. 13, AP Nr. 3 zu § 6 GewO; vom 21.05.1987 - 2 AZR 313/86 - Rn. 29 zitiert nach juris, RzK I 1 Nr. 19). Diese Hinweisfunktion können die früheren Abmahnungen im Hinblick auf Dienstversäumnisse wegen Verschlafens nicht erfüllen. Denn bei sämtlichen Abmahnungen ging es immer nur darum, dass der Kläger eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nicht rechtzeitig angezeigt oder seiner Nachweispflicht nicht nachgekommen war. Wenn er zu spät zum Dienst erschienen war, weil er verschlafen hatte, wurde ihm die Fehlzeit vom Kurzzeitkonto abgezogen oder als „uo“ gebucht. Eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens hatte der Klägerin bis zum Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung nicht erhalten.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2, § 64 Abs. 4 ArbGG, § 92 Abs. 1 und 2 Nr. 1 ZPO. Danach hat die Beklagte die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Denn durch den rechtskräftig abgewiesenen erstinstanzlichen allgemeinen Feststellungsantrag und den nicht zur Entscheidung angefallenen erstinstanzlichen Weiterbeschäftigungsantrag sind keine höheren Kosten entstanden.
IV. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor.