LAG Nürnberg: Auslegung Tarifvertrag - erzwingbare Mitbestimmung - Zusatzurlaub
LAG Nürnberg, Beschluss vom 8.8.2024 – 5 TaBV 10/24
Volltext: BB-Online BBL2024-2995-3
Leitsatz
§ 12 I. A. Nr. 10 des Bundesmanteltarifvertrages (BMTV) für die Süßwarenindustrie eröffnet kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht (Initiativrecht) des Betriebsrats zur Einführung eines Zusatzurlaubs für Beschäftigte mit mehr als 25-jähriger Betriebszugehörigkeit (wie LAG Niedersachsen vom 28.05.2024 - 11 TaBV 76/23).
Rechtsbeschwerde wurde am 01.10.2024 beim BAG unter dem Aktenzeichen 1 ABR 30/24 eingelegt.
Aus den Gründen
I. Die Beteiligte zu 2) betreibt ein Unternehmen zur Herstellung und zum Vertrieb von Eis und Tiefkühlprodukten. Der Antragsteller ist der am A-Stadt Betrieb der Beteiligten zu 2) gebildete Betriebsrat.
Die Beteiligten streiten über das Bestehen eines erzwingbaren Mitbestimmungsrechts des Antragstellers hinsichtlich eines Zusatzurlaubs für langzeitige Mitarbeiter nach § 12 I. A. Ziff. 10 des Bundesmanteltarifvertrages für die Angestellten, gewerblichen Arbeitnehmer und Auszubildenden der Süßwarenindustrie w.F. vom 14.05.2007 (nachfolgend BMTV).
§ 12 I. A. BMTV lautet auszugsweise:
„9. Die Dauer des Urlaubs beträgt für alle Arbeitnehmer 30 Tage. (…)
10. Die Gewährung eines zusätzlichen Urlaubs für Arbeitnehmer, die dem Betrieb länger als 25 Jahre angehören, ist betrieblich zu regeln.“
Im Betrieb der Beteiligten zu 2) existiert derzeit keine Betriebsvereinbarung über Zusatzurlaub für langzeitige Mitarbeiter. Am 02.12.2022 erging durch eine gerichtlich eingesetzte Einigungsstelle ein Spruch mit der Feststellung, dass die Einigungsstelle für eine Regelung zur Gewährung eines zusätzlichen Urlaubs für Arbeitnehmer, die dem Betrieb länger als 25 Jahre angehören, unzuständig ist (vgl. Anlage A 2 zur Antragsschrift vom 16.12.2022, Bl. 27 d.A. sowie Anlage zum Schriftsatz vom 17.01.2023, Bl. 58 ff d.A.). Auf die Begründung des Spruchs wird Bezug genommen. Daraufhin leitete der Beteiligte zu 1) dieses Beschlussverfahren mit Antragsschrift vom 16.12.2022 beim Arbeitsgericht Nürnberg ein. Durch eine andere Einigungsstelle betreffend den Betrieb H-Stadt erging zu derselben Thematik am 04.11.2022 ebenfalls ein Spruch, in dem ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bejaht wurde (vgl. Anlage A 5 zur Antragsschrift vom 16.12.2022, Bl. 32 ff d.A.). Mit Beschluss vom 17.08.2023 (Az.: 2 BV 7/22) stellte das Arbeitsgericht Lüneburg die Unwirksamkeit des Spruchs fest (vgl. Anlage zum Schriftsatz vom 17.01.2024, BI. 115 ff. d.A.).
Mit Beschluss vom 01.07.2024, Aktenzeichen: 11 TaBV 76/23 hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg zurückgewiesen (Bl. 46 ff der Beschwerdeakte).
Hinsichtlich des weiteren Sachvortrags der Beteiligten sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf die Gründe der mit der Beschwerde angegriffenen arbeitsgerichtlichen Entscheidung verwiesen.
Das Arbeitsgericht Nürnberg hat mit Beschluss vom 31.01.2024 den Antrag des Beteiligten zu 1) abgewiesen und ausgeführt, dass eine Auslegung des § 12 I. A. Ziff. 10 BMTV ergibt, dass sich aus der Tarifnorm kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht für den Beteiligten zu 1) ableiten lässt. Der Wortlaut und der Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelungen spreche dafür, dass gerade kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht gewährt werden solle. Vielmehr sei dem Wortlaut des § 12 I. A. Ziff. 10 BMTV zu entnehmen, dass nur für den Fall, dass der Arbeitgeber eine Entscheidung über das „Ob“ der Gewährung eines zusätzlichen Urlaubs getroffen habe und nur über das „Wie“ zu entscheiden sei, eine betriebliche Regelung zu treffen ist. Eine zwingende Gewährung von zusätzlichem Urlaub sei der Vorschrift der Tarifnorm nicht zu entnehmen. Ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des „Ob“ der Gewährung eines zusätzlichen Urlaubs ergäbe sich weder ausdrücklich noch mit hinreichender Klarheit aus der tariflichen Regelung. Auch eine historische Betrachtung führe nicht zu dem vom Beteiligten zu 1) beanspruchten Auslegungsergebnis.
Gegen diesen ihm am 22.02.2024 zugestellten Beschluss hat der Beteiligte zu 1) mit Schriftsatz vom 22.03.2024 Beschwerde eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Begründungsfrist am 22.05.2024 begründet.
Unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens ist der Beteiligte zu 1) der Auffassung, dass das Arbeitsgericht in seinem Beschluss keine von der systematischen Auslegung sauber abgegrenzte Wortauslegung vornehme und den Wortlaut der Tarifnorm dabei praktisch unberücksichtigt lasse. Zudem werte das Arbeitsgericht die historische Genese der Tarifnorm falsch. So beginne das Arbeitsgericht seine Auslegung mit einem systematischen Vergleich zu einem vergleichsweise zur Auslegung herangezogenen § 12 III. Ziff. 6 BMTV. Das Gericht benenne dabei jedoch nicht einmal die im Rahmen seiner systematischen Überlegung herangezogene Version des Tarifvertrages. Bei der Analyse des Wortlauts der Norm wäre es sinnvoll gewesen, einen Vergleich zu den Normen heranzuziehen, die bei der Änderung des Wortlauts „ist betrieblich zu regeln“ in der damaligen Version des Tarifvertrags vom 13.12.1952 enthalten gewesen sei. Diese Version enthalte jedoch keinen § 12 III. Ziff. 6 BMTV. Es ist davon auszugehen, dass das Arbeitsgericht einen systematischen Wortlautvergleich mit dem heutigen § 12 III. Ziff. 7 BMTV vorgenommen hat. Es erscheine jedoch abwegig aus einer Jahrzehnte später gewählten Formulierung Rückschlüsse darauf zu ziehen, welchen Sinn die tarifschließenden Parteien mit einer konkreten Formulierung im Dezember 1952 verfolgt hätten. Auch der Wortlautvergleich zum heutigen § 12 III. Ziff. 1 BMTV scheine abwegig. Wiederum erfolge keine Auseinandersetzung mit dem Wortlaut der eigentlichen verfahrensentscheidenden Norm. Eine ernsthafte Auslegung der Norm müsste sich aber intensiver mit den zwei Kernbegriffen der Norm auseinandersetzen: „ist … zu regeln“ und „… betrieblich zu regeln“. Im Hinblick auf diese Formulierung bestünde gerade kein Entscheidungsspielraum über das
„Ob“. Dabei wäre auch zu beachten, dass eine Beschränkung der ausdrücklich angeordneten betrieblichen Regelung auf das „Wie“ keinen Sinn ergeben würde. Bei einer Beschränkung auf das bloße „Wie“ wäre der betrieblichen Regelung des zusätzlichen Urlaubs nicht nur die Frage des „Ob“ entzogen, sondern auch die Frage der Höhe eines solchen zusätzlichen Urlaubs. Hiervon könne jedoch offensichtlich nicht ausgegangen werden, da § 12 I. A. Ziff. 10 BMTV von den tarifschließenden Parteien in systematischer Hinsicht bewusst den Regelungen zu „Urlaubsanspruch und Urlaubsdauer“ zugeordnet worden sei.
Auch die Regelungshistorie werde vom Arbeitsgericht Nürnberg falsch interpretiert. Richtig sei, dass auch das BetrVG 1952 einen allgemeinen, der heutigen Regelung in § 77 Abs. 3 BetrVG entsprechenden Tarifvorbehalt vorgesehen hätte. Eine entsprechende Öffnung des Tarifvertrages stelle § 12 I. A. Nr. 10 BMTV her. Diese Regelung gehe jedoch über diese Öffnung hinaus. Für eine bloße Öffnung habe der ursprüngliche Wortlaut der Regelung in der Fassung vor Einführung des BetrVG 1952 völlig ausgereicht. Die Tarifvertragsparteien hätten im Jahr 1952 offensichtlich mit Blick auf die Einführung der erzwingbaren Mitbestimmung die maßgebliche Regelung bewusst abgeändert und gerade nicht weiterhin nur eine Empfehlung ausgesprochen, sondern als einen konkreten Handlungsauftrag formuliert.
Das Arbeitsgericht unterschätze schließlich die Reichweite der insoweit missverständlichen Aussage des Bundesarbeitsgerichts, dass der Tarifvertrag ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht „ausdrücklich“ vorsehen müsse. Dies werde im Verlauf der Begründung der vorgenannten Entscheidung 1 ABR 65/08 deutlich. Schließlich lasse das Arbeitsgericht den vom Bundesarbeitsgericht in dem Beschluss 1 ABR 56/94 etablierten Grundsatz, dass Tarifnormen im Zweifel so auszulegen seien, dass sie nicht lediglich appellativen Charakter hätten, sondern eine relative rechtliche Wirkung entfalten sollten, praktisch unberücksichtigt.
Der Beteiligte zu 1) stellt folgenden Antrag:
Auf die Beschwerde des Betriebsrates wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 31.01.2024 (12 BV 120/22) abgeändert und festgestellt, dass der Betriebsrat ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht hinsichtlich Zusatzurlaubs für langzeitige Mitarbeiter nach § 12 I. A. Ziff. 10 des Bundesmanteltarifvertrags für die Angestellten, gewerblichen Arbeitnehmer und Auszubildenden der Süßwarenindustrie i.d.F. vom 14.05.2007 hat.
Die Beteiligte zu 2) stellt folgenden Antrag:
Die Beschwerde ist zurückzuweisen.
Die Beteiligte zu 2) verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.
Schon die ursprüngliche Regelung in der Fassung vom 02.01.1950 sei sprachlich eindeutig gewesen und habe keinen Rechtsanspruch auf die Einführung einer betrieblichen Regelung über einen Zusatzurlaub begründet. Rechtsirrig gehe der Beteiligte zu 1) davon aus, die Tarifvertragsparteien hätten im Jahr 1952 offensichtlich mit Blick auf die Einführung der erzwingbaren Mitbestimmung die maßgebliche Regelung bewusst abgeändert. Dagegen ordne das Arbeitsgericht Lüneburg die Änderung des Wortlautes zutreffend in den historischen Kontext ein und erkenne, dass die Tarifvertragsparteien nicht mehr geregelt hätten, als die gesetzlich vorgesehene Tarifsperre für den Regelungsgegenstand des Zusatzurlaubs aufzuheben und den Betriebsparteien zu gestatten, über diese Angelegenheit freiwillige Betriebsvereinbarungen zu schließen. Weiter habe das Arbeitsgericht gewürdigt, dass die Tarifvertragsparteien in der Fassung des BMTV vom 23.03.1997 in § 3 Abs. 3 bereits eine Regelung zur Freistellung älterer Arbeitnehmer vorsehe und damit die von ihm für regelungsbedürftig erachtete Frage einer bezahlten zusätzlichen Freistellung für länger im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer selbst geregelt hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die Protokollniederschrift Bezug genommen.
II. 1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist statthaft (§ 87 Abs. 1 ArbGG) und auch in der zulässigen Weise eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2 S. 1, 89 Abs. 1 und
2 ArbGG, 517, 520 ZPO).
Auch das notwendige Feststellungsinteresse ist vorliegend zu bejahen.
2. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, das ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bezüglich des in § 12 I A Ziff. 10 des Bundesmanteltarifvertrages (BMTV) für die Süßwarenindustrie angesprochenen Zusatzurlaubes für Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit (ab 25 Jahren) nicht besteht.
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat in einem vergleichbaren Rechtsstreit ebenfalls das Vorliegen eines erzwingbaren Mitbestimmungsrechts verneint (LAG Niedersachsen vom 28.05.2024 Az. 11 TaBV 76/23). Die erkennende Kammer macht sich die dort niedergelegten Gründe der Entscheidung wie folgt zu eigen:
(1) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (etwa BAG 29.9.04, 1 ABR 29/03, BAGE 112, 87).
(2) Die Auslegung des Wortlautes der Tarifvorschrift führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar haben die Tarifvertragsparteien den maßgeblichen Text nur 2 Jahre nach der Ursprungsfassung des Jahres 1950, die lediglich die Formulierung „empfohlen“ enthielt, abgeändert in „ist betrieblich zu regeln“. Dem Beschwerdeführer ist auch im Grundsatz zuzustimmen, dass in der Gesetzessprache die Formulierung, wonach etwas zu tun „ist“, regelmäßig einen Handlungsauftrag ausdrückt oder einem „müssen“ gleichzusetzen ist. Insofern ist schon anzunehmen, dass es sich bei der Textänderung des Jahres 1952 nicht bloß um eine „redaktionelle Anpassung“ gehandelt hat, sondern eine inhaltliche Veränderung im Sinn einer stärkeren Verrechtlichung gewollt war.
Andererseits sind die Akteure oder eine Verfahrensweise bezüglich eines solchen Handlungsauftrages in der Tarifnorm nicht benannt. Nach dem reinen Wortlaut kommt auch eine Umsetzung durch den Arbeitgeber allein in Betracht. Das betrifft insbesondere betriebsratslose Betriebe. Auch die Regelungsform einer Betriebsvereinbarung ist nicht angesprochen. Der Wortlaut der auszulegenden Tarifnorm lässt sich auch auf den Fall übertragen, demnach ein Mitbestimmungsrecht erst dann zwingend entsteht, wenn der Arbeitgeber eine Gewährung eines Zusatzurlaubs aufgrund eigenem Willen umsetzen möchte und wäre damit als reine Öffnungsklausel zu qualifizieren.
(3) In systematischer Hinsicht ist die Regelung dem Paragraphen über den Erholungsurlaub zugeordnet. Das Bundesurlaubsgesetz galt im Jahr 1952 noch nicht. In § 11 I A Ziff. 8 BMTV war die Höhe des Urlaubsanspruchs doppelt gestaffelt, nämlich nach Lebensalter und nach Betriebszugehörigkeit. Ab 36 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von 11 Jahren war der Höchstanspruch von 18 Werktagen erreicht. Ziff. 9 enthielt die Klausel über Zusatzurlaub nach 25 Jahren der Betriebszugehörigkeit, Ziff. 10 den Zusatzurlaub für Schwerbeschädigte. Die Klausel über den Zusatzurlaub blieb aber auch unverändert, nachdem der tarifliche Maximalurlaub seit 1990 auf 30 Tage angestiegen war.
(4) Im Hinblick auf die Tarifgeschichte ergibt sich der außergewöhnliche Befund, dass die Tarifnorm seit 1952 über einen Zeitraum von inzwischen mehr als 70 Jahren im Wortlaut vollständig unverändert über sämtliche Neufassungen des Tarifvertrages hinweg bestanden hat. Lediglich die Zählung hat sich von § 11 Ziff. 4 auf § 12 I A Nr. 10 verschoben. Gerade angesichts der Thematik der in den 1990er Jahren einsetzenden Altersteilzeit kann nicht angenommen werden, dass von den Tarifvertragsparteien der Absatz über den Zusatzurlaub schlicht vergessen oder übersehen worden ist. Vielmehr muss angenommen werden, dass auch bei der letzten Neufassung des Tarifvertrages im Jahr 2007 die Tarifvertragsparteien dem Absatz einen rechtlichen Regelungsinhalt beigemessen haben.
Allerdings stellt sich das Erkenntnisproblem, dass der Regelungswille oder die Motivation der Tarifvertragsparteien bei der Abfassung des bis heute gültigen Wortlauts im Jahr 1952 nicht mehr positiv feststellbar ist. Weder hat einer der Beteiligten Materialien über die Tarifvertragsverhandlungen selbst vorlegen können, noch sind etwa aus früheren Jahrzehnten praktizierte betriebliche Regelungen oder gerichtliche Entscheidungen zu der Tarifvorschrift vorgelegt worden. Der von der Beteiligten zu 1. vorgelegte Verbands-Kommentar aus dem Jahr 1952 belegt nur in aller Kürze eine sprachliche Änderung gegenüber der Ursprungsfassung des Tarifvertrages im Jahr 1950, ohne dies näher zu erläutern.
Recht eindeutig steht die Überarbeitung des Tariftextes im Dezember 1952 im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem erstmaligen Inkrafttreten eines Betriebsverfassungsgesetzes im Juli 1952. Der erste Bundesmanteltarifvertrag für die Süßwarenindustrie datiert hingegen bereits vom 2.1.1950. Zum damaligen Zeitpunkt war die Betriebsverfassung noch durch alliiertes Kontrollratsgesetz geregelt. Erstmalig im Betriebsverfassungsgesetz 1952 waren in § 56 zwingende Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in sozialen Angelegenheiten vorgesehen (heute § 87 Abs. 1 BetrVG 1972). Zugleich waren in einem eigenständigen Paragraphen - § 59 - die Angrenzung zwischen den Regelungsbefugnissen der Tarifvertragsparteien (das Tarifvertragsgesetz galt bereits seit 1949) und der Regelungsbefugnis der Betriebsparteien durch Betriebsvereinbarung geregelt.
Bereits im Betriebsverfassungsgesetz 1952 angelegt ist aber auch, dass die Regelungsform der Betriebsvereinbarung und das Bestehen zwingender Mitbestimmungsrechte nicht notwendig miteinander gekoppelt sind. Eine Betriebsvereinbarung kann als „freiwillige“ auch über Regelungsmaterien abgeschlossen werden, die nicht der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats und somit dessen Initiativrecht unterliegen. Umgekehrt gilt auch für Tatbestände der zwingenden Mitbestimmung der Vorrang der tariflichen oder tarifüblichen Regelung. Wenn in § 59 BetrVG 1952 erstmalig ausdrücklich die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung davon abhängig gemacht wird, dass dies in der entsprechenden tariflichen Regelung ausdrücklich zugelassen ist, ist durchaus erklärlich, dass die Tarifvertragsparteien der Süßwarenindustrie die bloße Formulierung einer „Empfehlung“ im Tariftext des Jahres 1950 als nicht ausreichend oder zumindest klarstellungsbedürftig angesehen haben. Im historischen Kontext kann die Regelung sinnvoll (nur) als sogenannte Öffnungsklausel eingeordnet werden. Als solche beschränkt sie sich nicht auf eine bloße „Appellfunktion“, sondern stellt eine zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit freiwilliger Betriebsvereinbarungen dar und steht damit auch nicht im Widerspruch zur Entscheidung des BAG vom 09.05.1995 1 ABR 56/94.
Zweifel daran, dass eine erzwingbare Mitbestimmung des Betriebsrats gewollt war, ergeben sich auch aus der weiteren Tarifgeschichte: In der Zeit von März 1979 bis Januar 2005 war in § 3 III BMTV ein tariflicher Anspruch von Arbeitnehmern ab dem vollendeten 60. Lebensjahr auf eine „zusätzliche Freistellung“ von 18 Arbeitstagen enthalten. Allerdings ist § 11 BMTV im Jahr 1979 eben auch nicht gestrichen worden.
Auch im Zusammenhang mit tariflichen Altersteilzeitregelungen ist § 12 I A Nr. 10 BMTV nicht aufgehoben worden.
(5) Nach ständiger Formulierung des Bundesarbeitsgerichts kann in Zweifelsfällen auch die Tarifpraxis zur Auslegung einer Tarifnorm herangezogen werden. Diesbezüglich ist festzustellen, dass der Beteiligte zu 2. auch etwa aus der jüngeren Vergangenheit, etwa ab den 1980er Jahren keine Fälle hat belegen können, wonach ein Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung nach § 12 BMTV Süßwarenindustrie unter Berufung auf ein zwingendes Mitbestimmungsrecht durchgesetzt hat (siehe hierzu LAG Niedersachsen vom 28.05.2024, Az. 11 TaBV 76/23).
Abschließend ist die erkennende Kammer auch der Auffassung, dass keine Anhaltspunkte im Tarifvertrag vorzufinden sind, die Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern könnte den Betriebsparteien hinsichtlich der Höhe eines in Betracht kommenden Zusatzurlaubes schrankenlos ein Mitbestimmungsrecht einräumen zu wollen, bei dem im Hinblick auf die Regelung des § 76 Abs. 5 S. 4 BetrVG auch eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle möglich ist. Hierfür fehlen die notwendigen Anhaltspunkte. Es verbleibt daher dabei, dass tarifvertragliche Öffnungsklauseln, die vom Tarifvertrag abweichende Betriebsvereinbarung zulassen, den Betriebsparteien in der Regel nur das Recht zum Abschluss freiwilliger Betriebsvereinbarungen einräumt. Ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht einer Betriebspartei besteht nur dann, wenn der zu regelnde Sachverhalt von Gesetzes wegen der erzwingbaren Mitbestimmung unterliegt oder der Tarifvertrag dies ausdrücklich vorsieht (siehe hierzu BAG vom 23.02.2010 - 1 ABR 65/08). Beide Sachverhalte liegen jedoch nicht vor.
3. Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen gemäß §§ 92 Abs. 1 S. 2, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).