Sächsisches LAG: Ausgleichsanspruch – Schulungs- und Reisezeiten-Kappung
Sächsisches LAG, Urteil vom 21.3.2022 – 2 Sa 77/21
Volltext: BB-Online BBL2022-1523-4
Leitsatz
Die in § 37 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BetrVG geregelte Einbeziehung der Arbeitsbefreiung nach Absatz 2 des § 37 BetrVG gilt für Ausgleichsansprüche nach Absatz 3 BetrVG entsprechend. Auch diese sind in die Berechnung des Umfangs des Ausgleichsanspruchs einzubeziehen, wenn an einem Tag sowohl Betriebsratsarbeit als solche als auch Schulungs- und/oder Reisezeiten außerhalb der Arbeitszeit des Betriebsratsmitglieds angefallen sind.
Sachverhalt
Die Parteien streiten um Ansprüche des Klägers auf Freistellung von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung aufgrund von Schulungs- und Reisezeiten, die im Zusammenhang mit seiner Betriebsratsmitgliedschaft angefallen sind sowie für Betriebsratstätigkeiten als solche. Im Streit steht insbesondere (aber nicht nur) die Frage, ob § 37 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BetrVG die Ausgleichsansprüche auch für vollzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder begrenzt oder ob diese Regelung nur für teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder gilt.
Die Parteien sind seit August 2009 durch Arbeitsvertrag verbunden. Bei der Beklagten, die an 17 Standorten in 3 Ländern Filialen des Lebensmitteleinzelhandels betreibt, kommt ein Tarifvertrag zur Anwendung. Dieser sieht für Vollzeitbeschäftigte eine Wochenarbeitszeit von 38 Stunden vor. Für den Kläger wird ein Arbeitszeitkonto geführt. Die Arbeitnehmer der Beklagten werden – soweit hier relevant - aufgrund von Dienstplänen bedarfsorientiert mit stark schwankenden Einsatzzeiten hinsichtlich Beginn, Ende und Dauer der jeweiligen Schichten eingesetzt. Es besteht weiterhin eine Dienstreiserichtlinie mit folgenden Definitionen einer Dienstreise:
„Eine berufliche Auswärtstätigkeit (Dienstreise) liegt vor, wenn der Arbeitnehmer (AN) vorübergehend außerhalb seiner Wohnung und nicht an seiner ersten Tätigkeitsstätte (ETS) tätig wird.
Eine Dienstreise beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem der AN sich auf Reisen begibt und endet mit dem Moment, zu dem er entweder an seine erste Tätigkeitsstätte oder zu seiner Wohnung zurückkehrt. Begibt sich der AN unmittelbar von seiner Wohnung aus auf Reisen (ohne vorher an seiner ersten Tätigkeitsstätte zu erscheinen), so beginnt die Dienstreise mit Verlassen der Wohnung.“
Wegen des weiteren Inhalts der Dienstreiserichtlinie wird auf die Anlage K3, Bl. 10 f d.A., Bezug genommen.
Der als Kaufmann vollzeitbeschäftigte Kläger ist Mitglied des bei der Beklagten in der Filiale B. gebildeten Betriebsrats. In den Zeiträumen ... 2019 bis ... 2020 nahm der Kläger an Betriebsratsschulungen in L (... 2019) und C (... 2020) wie folgt teil (zusammenfassende Darstellung der tabellarische Auflistung im Schriftsatz vom 28.10.2020, Seite 2 ff; BI. 41 bis 43 d.A. sowie der Auflistung im Schriftsatz vom 28.04.2021, dort Seite 4 ff, Bl. 94 ff d.A.):
...
Die vom Kläger angegebenen Zeiten für den ... (5,58 Stunden) wurden dabei im geltend gemachten Umfang berücksichtigt. Im Übrigen hat die Beklagte die Zeiten jeweils auf 7,6 Stunden pro Tag gekürzt.
Mit der am 06.08.2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen, der Beklagten am 13.08.2020 zugestellten Klage machte der Kläger zunächst die Zahlung von 183,25 Euro brutto für 8,46 Stunden aus November 2019 geltend, die die Beklagte nicht als Zeitguthaben dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben hatte. Mit Klageerweiterung vom 28.10.2020, zugestellt am 05.11.2020, begehrte der Kläger die Zahlung weiterer 339,74 Euro brutto für die im Juni 2020 angefallenen nicht gutgeschriebenen Zeiten.
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, ihm stehe ein Ausgleichsanspruch für sämtliche durch die Betriebsratstätigkeit, die Schulungen und die Fahrten angefallenen Stunden zu. Insbesondere die Reisezeiten seien wie vergütungspflichtige Arbeitszeit anzusehen, denn Reisezeiten, die aufgrund der Mandatsausübung anfallen, seien mit Reisezeiten gleichzusetzen, die für die Erbringung der Arbeitsleistung anfallen. Die von der Beklagten vorgenommene Kürzung sei unrechtmäßig. Der Anspruch ergebe sich jedenfalls aus der Dienstreiserichtlinie bzw. aus dem Anspruch auf Gleichbehandlung. Der Kläger dürfe insoweit nicht schlechter gestellt werden, als die anderen Arbeitnehmer.
Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt:
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Freizeitausgleich im Umfang von 16,85 Stunden zu gewähren.
Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat erstinstanzlich geltend gemacht,
dass die Reisezeiten nicht im Zusammenhang mit der Mandatsausübung als solcher angefallen seien, sondern mit den Schulungen. Diesbezüglich sei der Ausgleichsanspruch nach § 37 Abs. 6 S. 2 Halbsatz 2 BetrVG auf die Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers begrenzt. Letztere sei mit der tarifvertraglich geregelten durchschnittlichen werktäglichen Arbeitszeit von unstreitigen 7,6 Stunden anzunehmen. Es seien keine betriebsbedingten Gründe dafür ersichtlich, dass Schulungs- bzw. Reisezeiten außerhalb der Arbeitszeit eines Vollzeitarbeitnehmers erfasst werden müssten. Die Dienstreiserichtlinie gelte nur für beruflich veranlasste Auswärtstätigkeiten, nicht für die Betriebsratstätigkeit. Soweit der Kläger Gleichbehandlung mit anderen Arbeitnehmern geltend mache, gebe es für Schulungsund Reisezeiten im Zusammenhang mit Betriebsratstätigkeit mit § 37 Abs. 6 Satz 2 BetrVG eine gesetzliche Regelung, die die Ungleichbehandlung erlaube.
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 21.01.2021 abgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass unter Beachtung der Begrenzung auf die Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers nach § 37 Abs. 6 S. 2 BetrVG auszugleichende Zeiten angefallen seien. Zwar seien grundsätzlich bei Teilnahme an Schulungs- oder Bildungsveranstaltungen auch die in diesem Zusammenhang angefallenen Wege-, Fahrt- und Reisezeiten zu erstatten. Dem sei die Beklagte aber bis zur auch für vollzeittätige Betriebsratsmitglieder geltenden Grenze des § 37 Abs. 6 S. 2 Halbsatz 2 BetrVG nachgekommen, sodass keine weitergehenden Ansprüche bestünden. Dass diese Grenze nicht – wie von der Beklagten angenommen – bei 7,6 Stunden pro Tag liege, habe der Kläger nicht dargelegt. Es sei nicht ersichtlich, wie die übliche Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeitarbeitnehmers an den jeweiligen Schulungstagen gewesen sei. Der Kläger könne sich auch nicht mit Erfolg auf das Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG und/oder den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz berufen. Denn § 37 Abs. 6 S. 2 Halbsatz 2 BetrVG stelle insoweit eine speziellere Regelung dar, die § 78 S. 2 BetrVG vorgehe. Unabhängig von der gesetzlichen Regelung bestünden sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer einerseits und der Betriebsratsmitglieder andererseits.
Gegen das dort am 28.01.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt, welche am 26.02.2021 beim Sächsischen Landesarbeitsgericht eingegangen ist und mit Eingang am 28.04.2021 innerhalb gemäß Antrag vom 25.03.2021 bis zum 29.04.2021 verlängerter Frist begründet wurde.
Die Klagepartei führt - den erstinstanzlichen Vortrag vertiefend - aus, das Arbeitsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Grenze des § 37 Abs. 6 S. 2 Halbsatz 2 BetrVG auch für vollzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder gelte. Aus Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte der Norm ergebe sich, dass vollzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder für aus betrieblichen Gründen außerhalb der Arbeitszeit liegende Schulungen und damit in Verbindung stehende Reisezeiten in vollem Umfang einen Ausgleichsanspruch erwerben würden. Die „Kappungsgrenze“ gelte nur für teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder. Auf die Ausführungen zur Auslegung der Norm im Schriftsatz vom 28.04.2021, dort Seite 20 bis 28 (Bl.110 bis 118 d.A.), wird Bezug genommen. Die Reisezeiten seien als Betriebsratstätigkeit anzusehen und nach § 37 Abs. 3 BetrVG auszugleichen.
Im Übrigen sei für die Reisezeiten die bei der Beklagten unstreitig bestehende Dienstreiserichtlinie anzuwenden. Anderenfalls würde der Kläger hinsichtlich seiner Betriebsratsarbeit schlechter gestellt, als ein vergleichbarer Arbeitnehmer der Beklagten. Dies sei mit § 78 S.
2 BetrVG nicht vereinbar. Die Beklagte nehme darüber hinaus zu Unrecht die Kappungsgrenze bei 7,6 Stunden pro Tag an. Der Kläger arbeite keineswegs stets 7,6 Stunden, sondern sehr unterschiedlich. Die Dauer der individuellen Arbeitszeit des Klägers lag – unstreitig – im Jahr 2019 zwischen 3,75 Stunden und 9,5 Stunden pro Tag. Auf den Vortrag zu beispielhaft genannten Arbeitstagen im Schriftsatz vom 28.04.2021, dort Seite 31 (Bl. 121 d.A.) wird Bezug genommen. Schlussendlich habe die Beklagte die Schulungs- und Reisezeiten eines anderen Betriebsratsmitglieds für die Schulung Anfang November 2019 im Umfang der tatsächlichen Dauer abgerechnet. Ein Grund für diese Ungleichbehandlung sei nicht erkennbar. Mit Schriftsatz vom 16.02.2022 ergänzt der Kläger sein Berufungsvorbringen und macht geltend, dass unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben die Tätigkeit des Klägers als Arbeitszeit anzusehen sei. Es handele sich daher bei Schulungsteilnahmen generell nicht um Zeiten, die „außerhalb der Arbeitszeit“ im Sinne des § 37 Abs. 6 BetrVG liegen würden. Auf die weiteren Ausführungen im vorgenannten Schriftsatz (Bl. 182 bis 187 d.A.) wird Bezug genommen.
Nach Hinweis des Gerichts im Termin der mündlichen Verhandlung beantragt der Kläger, das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 21.01.2021, Az. 11 Ca 1406/20, abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Freizeitausgleich für die Schulungsteilnahme und Betriebsratstätigkeit im Zeitraum vom 04.-08.11.2019, vom 25.11.-29.11.2019 und vom 29.06.-03.07.2020 im Umfang von 16,85 Stunden zu gewähren.
Hilfsweise:
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Umfang von 16,85 Stunden zu gewähren.
Die Beklagte beantragt
die Zurückweisung der Berufung.
Die Beklagte hat sich den Ausführungen des Erstgerichts im Urteil angeschlossen und Letzteres unter Vertiefung ihres Vorbringens verteidigt. Soweit der Kläger nunmehr geltend mache, es handele sich unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben um Arbeitszeit, vermenge er verschiedene Arbeitszeitbegriffe. Die vom Kläger in Bezug genommene Rechtsprechung betreffe den Arbeitsschutz und sei daher nicht übertragbar. Folge man dem Ansatz des Klägers, bestünde überhaupt kein Anspruch auf Freizeitausgleich, da § 37 Abs. 3 BetrVG voraussetze, dass die Betriebsratstätigkeit „außerhalb der Arbeitszeit“ erfolgte.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird Bezug genommen auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 21.03.2022.
Aus den Gründen
Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte und gemäß den §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i. V. m. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegte und begründete, damit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die zulässige Klage zu Recht abgewiesen, denn sie ist unbegründet.
Dem Kläger steht weiterer Freizeitausgleich für die im Streit stehenden Zeiten nicht zu, so dass auch der Hilfsantrag, der als echter Hilfsantrag für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag gestellt wurde, unbegründet ist. Über den Hilfsantrag war zu entscheiden, denn die – zulässige - innerprozessuale Bedingung ist eingetreten.
I.
Gründe, die zur Unzulässigkeit des Hauptantrags führen könnten, sind nicht erkennbar und nicht geltend gemacht. Jedenfalls mit der im Termin der mündlichen Verhandlung vorgenommenen Anpassung ist der Klageantrag auch hinreichend bestimmt. Der Hilfsantrag ist dahingehend auszulegen, dass auch hier die entsprechenden Zeiten, für die Arbeitsbefreiung gewährt werden soll, im Falle einer Tenorierung zur Klarstellung aufzunehmen wären. Eine entsprechende Tenorierung scheitert aber aufgrund des fehlenden Anspruchs des Klägers.
II.
Die Klage ist insgesamt unbegründet, denn die dem Kläger zustehenden Ansprüche auf Freizeitausgleich/Arbeitsbefreiung für die streitbefangenen Zeiträume hat die Beklagte bereits berücksichtigt.
1.
Gemäß § 37 Abs. 2 BetrVG sind Mitglieder des Betriebsrats von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien, wenn und soweit es nach Umfang und Art des Betriebs zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Ist die Betriebsratstätigkeit aus betriebsbedingten Gründen außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen, hat das Betriebsratsmitglied als Ausgleich hierfür Anspruch auf entsprechende Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts. Betriebsbedingte Gründe liegen auch vor, wenn die Betriebsratstätigkeit wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten der Betriebsratsmitglieder nicht innerhalb der persönlichen Arbeitszeit erfolgen kann, § 37 Abs. 3 BetrVG. Die Absätze 2 und 3 des § 37 BetrVG gelten entsprechend für die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit des Betriebsrats erforderlich sind. Betriebsbedingte Gründe im Sinne des Absatzes 3 liegen dabei auch vor, wenn wegen Besonderheiten der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung die Schulung des Betriebsratsmitglieds außerhalb seiner Arbeitszeit erfolgt; in diesem Fall ist der Umfang des Ausgleichsanspruchs unter Einbeziehung der Arbeitsbefreiung nach Absatz 2 pro Schulungstag begrenzt auf die Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers, § 37 Abs. 6 BetrVG.
2.
Es steht zwischen den Parteien außer Streit, dass die Voraussetzungen eines Ausgleichsanspruchs bei den hier fraglichen Schulungen grundsätzlich erfüllt sind.
2.1.
Dies gilt insbesondere dafür, dass es sich um Schulungen handelte, die Kenntnisse vermittelten, welche für die Betriebsratsarbeit des Klägers erforderlich sind.
2.2.
Es steht jedenfalls zuletzt weiterhin außer Streit, dass sowohl die Schulungen als auch die Betriebsratstätigkeiten außerhalb der persönlichen Arbeitszeit des Klägers stattfanden, denn er war nach Bekanntgabe der Schulungszeiten in die Dienstpläne der fraglichen Wochen nicht mit regulärer Tätigkeit aufgenommen worden, sondern – im Wesentlichen - mit „Schulungsteilnahme“ im Umfang von 7,6 Stunden geplant (tatsächlich liegt hierin nach Einschätzung der Kammer der eigentliche Kern des Streit, denn die Beklagte nimmt dem Kläger damit von vorneherein den sonst entstehenden Anspruch auf Befreiung von der beruflichen Tätigkeit nach § 37 Abs. 2 BetrVG, der – ausgehend von den vorgetragenen individuellen Arbeitszeiten u.U. bis zu 9,5 Stunden am Tag – über die Kappung auf 7,6 Stunden deutlich hinausgehen könnte). Zu Recht gehen hier beide Parteien davon aus, dass nach neuerer und gut begründeter Ansicht des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 15.05.2019, Az. 7 AZR 396/17, juris) die Betriebsratstätigkeit nicht nur dann „außerhalb der Arbeitszeit“ i.S.v. § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG liegt, wenn sie zusätzlich geleistet wird. Abzustellen ist vielmehr mit dem Wortlaut des § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG auf die zeitliche Lage. War der Kläger also nicht mit seiner regulären Tätigkeit in den Dienstplan aufgenommen, erbrachte er die Betriebsratstätigkeit außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit. Gleiches gilt hier für die Schulungen und die notwendig gewordenen Reisen.
Entgegen der Ansicht des Klägers ist dies auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (nachfolgend: Richtlinie) sowie des Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht anders zu beurteilen. Der Argumentation des Klägers folgend dürften § 37 Abs. 3 und 6 BetrVG insgesamt mit den genannten europarechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sein. Davon ist aber nicht auszugehen. Die Richtlinie definiert in Art. 2 Nr. 1 Arbeitszeit als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. In Abgrenzung dazu ist nach Nr. 2. Ruhezeit „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“. Die vom Kläger ausgeübte Betriebsratstätigkeit kann nicht als Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie angesehen werden, denn er steht dem Arbeitgeber in dieser Zeit gerade nicht zur Verfügung. Vielmehr nimmt er die Interessen der Arbeitnehmerschaft des Betriebes wahr. Zweifelsohne führt er in dieser Zeit auch nicht seine geschuldete Arbeitstätigkeit als Kaufmann aus oder erledigt sonst irgendwelche Aufgaben für die Beklagte. Das ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass ein Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, selbst dafür Sorge zu tragen, dass ein Betriebsrat gebildet wird. Gerichtsbekannt aus jahrelanger beruflicher Erfahrung der Vorsitzenden läuft die Bildung eines Betriebsrats den Interessen vieler Arbeitgeber sogar ausdrücklich entgegen. Die Tätigkeit ist daher aus – wenn vielleicht nicht gutem, so doch nachvollziehbarem - Grund als Ehrenamt ausgestaltet und fällt damit – wie jedes Ehrenamt – in die „Ruhezeit“. § 37 Abs. 2 ff BetrVG schaffen diesbezüglich einen Ausgleich zugunsten des Klägers und schränken damit die (nach Ansicht des Klägers nötige) Anerkennung als Arbeitszeit also gerade nicht ein, sondern dehnen sie – der Sache nach - aus.
Anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta. Danach hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub. Wie ausgeführt, fällt die ehrenamtlich wahrzunehmende Betriebsratstätigkeit grundsätzlich unter die „Ruhezeit“. Eine Verletzung der arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften scheidet nach hier vertretener Ansicht damit von vorneherein aus (die Einordnung ist aber streitig, vgl. zum Meinungsstand die Entscheidung des BAG vom 18.01.2017, 7 AZR 224/15, juris).
2.3.
Die Lage außerhalb der persönlichen Arbeitszeit war auch betriebsbedingt.
2.3.1.
Gemäß § 37 Abs. 6 S. 2 BetrVG liegen betriebsbedingte Gründe im Sinne des Absatzes 3 auch vor, wenn wegen Besonderheiten der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung die Schulung des Betriebsratsmitglieds außerhalb seiner Arbeitszeit erfolgt.
Solche Besonderheiten können sowohl die Lage der Arbeitszeit als auch ihren Umfang betreffen (BAG Urteil vom 10.11.2004 – 7 AZR 131/04, AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 140, juris; Urteil vom 16.02.2005 – 7 AZR 330/04, AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 141, juris). Das Gesetz nennt für die Bewertung, ob Besonderheiten der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung vorliegen, keinen Bezugspunkt. Sie sind deshalb an dem Üblichen zu messen. Dieses Übliche kann zum einen das Betriebsübliche sein (nur in diesem Sinne wohl Löwisch BB 2001, 1742; übliche Normalarbeitstag im Betrieb: Löwisch/Kaiser Rn. 107). Ist in einem Betrieb die Lage der täglichen Arbeitszeit allgemein festgelegt, so stellt eine Abweichung hiervon eine Besonderheit iSd Abs. 6 Satz 2 dar. Besonderheiten der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung liegen auch vor, wenn die betriebliche Arbeitszeitgestaltung als solche von sonst allgemein üblichen Formen abweicht. Das gilt z.B. für Betriebe mit Schichtarbeit (statt vieler: FittingKOBetrVG, BetrVG § 37 Rn. 109). Ein der Betriebssphäre zuzurechnender Grund liegt vor, wenn es dem Betriebsratsmitglied aufgrund der Arbeitsorganisation – einschließlich der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung – nicht möglich ist, an Schulungsmaßnahmen während seiner Arbeitszeit teilzunehmen (BAG, Urteil vom 10.11.2004, a.a.O.).
2.3.2.
Unstreitig werden die Arbeitnehmer des Arbeitsbereichs, in welchem auch der Kläger tätig ist, von der Beklagten bedarfsorientiert in Schichten eingesetzt. Ein betrieblicher Grund liegt hier schon deshalb vor, weil die Beklagte den Kläger mit seiner regulären Tätigkeit aus diesen Schichten „ausplant“, wenn seitens des Betriebsrates Schulungstermine mitgeteilt werden. Aufgrund der hierdurch entstehenden unterschiedlichen Arbeitszeiten der Betriebsratsmitglieder kann die Betriebsratstätigkeit nicht von allen – hier insbesondere nicht vom Kläger – innerhalb der persönlichen Arbeitszeit wahrgenommen werden bzw. erfolgten die Schulungen wegen der Besonderheiten der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung außerhalb der Arbeitszeit des Klägers. Auch dies steht zwischen den Parteien letztlich nicht im Streit. Zwar macht die Beklagte sowohl erstinstanzlich als auch mit der Berufungserwiderung im Schriftsatz vom 30.06.2021, dort Seite 9/10 (Bl. 157/158 d.A.), geltend, der Kläger habe nicht dazu vorgetragen, dass Betriebsratstätigkeit bzw. Schulungsteilnahme aus betrieblichen Gründen außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen gewesen sei. Dies steht aber im Widerspruch zum sonstigen Verhalten der Beklagten, die selbst davon ausgeht, dass die Voraussetzungen des Ausgleichsanspruchs nach § 37 Abs. 6 BetrVG bis zur Kappungsgrenze gegeben sind.
Jedenfalls kann sich die Beklagte auf fehlende betriebliche Gründe nicht berufen, wenn – wie hier – eine bedarfsorientierte Einsatzplanung erfolgt und der Kläger von vorneherein nicht mit seiner vertraglich geschuldeten Tätigkeit in die Schichten eingeplant wird, sobald eine Schulungsteilnahme angemeldet wird.
2.3.3.
Soweit sich der Kläger mit Schriftsatz vom 28.04.2021 (dort Seite 37, Bl. 127 d.A.) gegen den Ansatz der Beklagten wendet, wonach ein Erreichen bzw. Überschreiten der Dauer der individuellen Arbeitszeit gleichbedeutend sei mit „außerhalb der Arbeitszeit“, hat die Beklagte diesen Ansatz im Prozess nicht verfolgt. Er lässt sich dem dazu vorgelegtem vorgerichtlichen Schreiben der Beklagten vom 24.11.2020 (Anlage BK 4, Bl. 135 d.A.) in dieser Form auch nicht entnehmen.
3.
Danach hat der Kläger für die Durchführung von Betriebsratstätigkeiten am ... 2019 (Betriebsversammlung 4,3 Std., Betriebsratssitzung 1,47 Std. und Ausbau der Kamera 1,33 Std.), am ... 2019 (Betriebsratssitzung 4,5 Std.) und am ... 2019 (Konfliktgespräch mit Arbeitgeber, ohne konkrete zeitliche Angabe, siehe dazu noch unten) Anspruch auf Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts nach § 37 Abs. 3 BetrVG. Die Beklagte hat dem Arbeitszeitkonto des Klägers für diese Tage jeweils eine Stundenanzahl gutgeschrieben, die die vorgenannten Zeiten der Betriebsratstätigkeit übersteigen. Dass der Kläger eine entsprechende Arbeitsbefreiung tatsächlich nicht in Anspruch nehmen konnte, insbesondere nicht innerhalb des Ausgleichszeitraums des § 37 Abs. 3 Satz 3 BetrVG, ist nicht geltend gemacht. Die Kammer muss daher davon ausgehen, dass diese Ansprüche erfüllt sind.
Soweit der Kläger auch im Berufungsbegründungsschriftsatz die Ansicht vertritt, die hier angefallenen Reisezeiten seien als Betriebsratstätigkeit (im Sinne einer Mandatsausübung) anzusehen und deswegen nach § 37 Abs. 3 BetrVG auszugleichen, fehlt es an Vortrag dazu, dass und ggfls. welche der Zeiten konkret als unmittelbar und ausschließlich mit einer Betriebsratstätigkeit zusammenhängend angefallen sein sollten. Grundsätzlich können zwar auch Wege-, Fahrt- und Reisezeiten, die ein Betriebsratsmitglied zur Erfüllung notwendiger betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben außerhalb seiner Arbeitszeit aufwendet, einen Anspruch auf Freizeitausgleich gemäß § 37 Abs. 3 BetrVG auslösen. Dies gilt unter anderem (dazu noch unten im Zusammenhang mit der Dienstreiserichtlinie) aber nur, soweit sie mit der Durchführung der entsprechenden Betriebsratstätigkeit in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehen (BAG, Urteil vom 16. April 2003 – 7 AZR 423/01 –, BAGE 106, 87-94, Rn. 24). Diejenigen Reisezeiten, die als An- und Abreise zur Schulung entstanden sind, ohne dass sie zusätzlich verursacht wurden, weil der Kläger – wie hier tatsächlich auch auf Anforderung des Arbeitgebers – Betriebsratstätigkeiten ausführen musste, können nur über den Umweg des § 37 Abs. 6 BetrVG einen Ausgleichsanspruch auslösen, denn sie sind insoweit den Schulungszeiten hinzuzurechnen, siehe gleich unten. Der Kläger tut dies auch selbst, wie sich aus der Anlage K1 (Bl. 6 d.A.) ergibt (dort z.B. für den 04.11.2019: „16:40 – 19:40 Uhr BR-Seminar in Leipzig inkl. Anreise/Abreise).
Die mit der Mandatsausübung eventuell angefallen Zeiten konnten aber offenbleiben, weil erstens die Beklagte für die hier in Frage kommenden Tage sämtliche vom Kläger geltend gemachten Zeiten gutgeschrieben hat (mit Ausnahme des 28.11.2019, dazu noch unten) und zweitens auch die nach § 37 Abs. 3 BetrVG ausgleichspflichtige Betriebsratstätigkeit in die Zeit einzurechnen ist, die nach dem Vergleich mit der Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Mitarbeiters höchstens zu berücksichtigen ist (auch dazu noch unten). Ein höherer Ausgleichsanspruch des Klägers könnte sich danach nur ergeben, wenn an einem Tag insgesamt die Betriebsratstätigkeit als solche inklusive unmittelbar damit zusammenhängender Reisezeit (also ohne Schulungs- und Reisezeiten dafür) die Vergleichsarbeitszeit überschreiten würde, weil § 37 Abs. 3 BetrVG eine Kappung nicht vorsieht. Das ist hier aber weder vorgetragen noch erkennbar.
4.
Für die Zeiten der Schulung selbst als auch für die damit im Zusammenhang angefallenen Anreise- und Abreisezeiten beruhen mögliche Ansprüche auf § 37 Abs. 6 BetrVG. Ausgehend vom Vortrag des Klägers sind auch diese Ansprüche erfüllt.