EuGH: Aufrechterhaltung des Status als Selbstständige nach Schwangerschaft
EuGH, Urteil vom 19.9.2019 – C-544/18, Her Majesty’s Revenue and Customs gegen Henrika Dakneviciute
ECLI:EU:C:2019:761
Volltext: BB-ONLINE BBL2019-2547-5
Tenor
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes diese Tätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere selbständige Tätigkeit oder Beschäftigung findet.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollbehörde, Vereinigtes Königreich) und Frau Henrika Dakneviciute wegen der Weigerung dieser Behörde, ihr eine wöchentliche Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/38/EG
3 Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) lautet:
„Diese Richtlinie regelt
a) die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen“.
4 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 3 vor:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist …
…
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
a) Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;
b) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;
c) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;
…“
5 Art. 16 Abs. 1 und 3 der genannten Richtlinie bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. …
…
(3) Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.“
Richtlinie 2010/41/EU
6 Im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, und zur Aufhebung der Richtlinie 86/613/EWG des Rates (ABl. 2010, L 180, S. 1) heißt es:
„Schwangere selbständige Erwerbstätige … sind in wirtschaftlicher und körperlicher Hinsicht verletzlich; deshalb ist es notwendig, ihnen ein Recht auf Mutterschaftsleistungen zu gewähren …“
7 Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass selbständig erwerbstätige Frauen … im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht ausreichende Mutterschaftsleistungen erhalten können, die eine Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft während mindestens 14 Wochen ermöglichen.“
Recht des Vereinigten Königreichs
Verordnung von 2006 über die Zuwanderung (Europäischer Wirtschaftsraum)
8 Regulation 14 Abs. 1 der Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Zuwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum]) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung räumte einer „anspruchsberechtigten Person“ ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich für mehr als drei Monate ein.
9 Nach Regulation 6 Abs. 1 Buchst. b umfasste der Begriff „anspruchsberechtigte Person“ Arbeitnehmer und Selbständige.
10 Eine Person behielt nach Regulation 6 Abs. 2 ihre Arbeitnehmereigenschaft, wenn sie aufgrund von Krankheit oder Unfall vorübergehend nicht in der Lage war, zu arbeiten, oder (unter bestimmten Voraussetzungen), wenn sie unfreiwillig arbeitslos war oder wenn sie freiwillig aufgehört hatte, zu arbeiten, und eine mit ihrer früheren Beschäftigung im Zusammenhang stehende Berufsbildung begonnen hatte.
11 In Bezug auf „Selbständige“ sah Regulation 6 Abs. 3 vor, dass die Eigenschaft als Selbständiger erhalten bleibt, wenn die betreffende Person aufgrund von Krankheit oder Unfall vorübergehend nicht in der Lage war, zu arbeiten.
Gesetz von 1992 über Sozialversicherungsbeiträge und ‑leistungen
12 Section 146 Abs. 2 und 3 des Social Security Contributions and Benefits Act 1992 (Gesetz von 1992 über Sozialversicherungsbeiträge und ‑leistungen) lautet:
„(2) Den Anspruch auf wöchentliches Kindergeld hat nur, wer sich in der betreffenden Woche in Großbritannien befindet.
(3) Es können Umstände bestimmt werden, unter denen eine Person für die Zwecke [des Abs. 2] als in Großbritannien befindlich oder nicht in Großbritannien befindlich zu behandeln ist.“
(Allgemeine) Kindergeldverordnung von 2006
13 Regulation 23 Abs. 4 der Child Benefit (General) Regulations 2006 ([Allgemeine] Kindergeldverordnung von 2006) sieht vor:
„Eine Person ist für die Zwecke von Section 146(2) des [Gesetzes von 1992 über Sozialversicherungsbeiträge und ‑leistungen] als nicht in Großbritannien befindlich zu behandeln, wenn sie ab dem 1. Mai 2004 Kindergeld beantragt und
a) im Vereinigten Königreich kein Aufenthaltsrecht hat …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Frau Dakneviciute, eine litauische Staatsangehörige, arbeitete seit 2011 im Vereinigten Königreich als Arbeitnehmerin in Nachtschicht. Nachdem sie im Dezember 2013 erfahren hatte, dass sie schwanger war, beschloss sie, ab dem 25. Dezember 2013 eine selbständige Tätigkeit als Kosmetikerin auszuüben.
15 Ab dem 11. Mai 2014 erhielt sie Mutterschaftsgeld. Ihr Kind wurde am 8. August 2014 geboren.
16 Nach einer Zeit der Inaktivität zwischen dem 22. Juli 2014 und Ende Oktober 2014 übte sie die Tätigkeit als Kosmetikerin in einem geringen Umfang aus, bevor sie diese einstellte, da der daraus erzielte Gewinn nicht mehr ausreichte. Am 10. Februar 2015 beantragte sie Arbeitslosengeld, und im April 2015 nahm sie erneut eine unselbständige Tätigkeit auf.
17 Am 27. August 2014 hatte Frau Dakneviciute einen Antrag auf wöchentliches Kindergeld gestellt. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 1. Februar 2015 mit der Begründung abgelehnt, dass sie nach innerstaatlichem Recht kein Aufenthaltsrecht gehabt habe, das den Voraussetzungen für die Gewährung dieser Sozialleistung genüge.
18 Dieser Bescheid wurde mit Urteil vom 29. September 2015 vom First-tier Tribunal (Gericht erster Instanz, Vereinigtes Königreich) aufgehoben. Die Steuer- und Zollbehörde, die für die Verwaltung des Kindergelds zuständig ist, legte beim Upper Tribunal (Administrative Appeals Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Berufungskammer für Verwaltungssachen], Vereinigtes Königreich) gegen dieses Urteil Rechtsmittel ein.
19 In einer vorläufigen Entscheidung vom 12. Januar 2017 hob das vorlegende Gericht das Urteil des First-tier Tribunal (Gericht erster Instanz) als rechtsfehlerhaft auf. Es stellte nämlich fest, dass die von Frau Dakneviciute vom 22. Juli 2014 bis 9. Februar 2015 ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit als selbständige Kosmetikerin unwesentlich gewesen sei, so dass sie in diesem Zeitraum nicht mehr wirtschaftlich tätig gewesen sei. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist unstreitig, dass zum einen die Einstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit durch Frau Dakneviciute auf die körperlichen Belastungen im Spätstadium der Schwangerschaft und nach der Geburt zurückzuführen gewesen sei, und dass zum anderen ihre Rückkehr ins Arbeitsleben – zunächst im Rahmen der Arbeitsuche und dann in Form einer Beschäftigung – innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes erfolgt sei.
20 Nachdem es darauf hingewiesen hatte, dass der Gerichtshof im Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix (C‑507/12, EU:C:2014:2007), feststellte, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne von Art. 45 AEUV behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet, fragt sich das vorlegende Gericht, ob diese Lösung auf Personen übertragen werden könne, die ihr Recht auf Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV ausgeübt hätten.
21 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens nach Verkündung des Urteils vom 20. Dezember 2017, Gusa (C‑442/16, EU:C:2017:1004), weitere Erklärungen abgegeben hätten, in denen sie gegensätzliche Positionen in Bezug auf die Anwendung der in diesem Urteil gefundenen Lösung vertreten hätten. Nach Ansicht der Steuer- und Zollbehörde ist diese Entscheidung nicht auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation übertragbar, da u. a. eine Person, die eine selbständige Tätigkeit ausübe, nicht verpflichtet sei, ihre Arbeit persönlich auszuführen, und es ihr freistehe, ihre Tätigkeit mit anderen Mitteln auszuüben, u. a. indem sie sich durch eine andere Person vertreten lasse. Frau Dakneviciute ist hingegen der Auffassung, die Ausführungen in den Rn. 36 und 40 bis 44 des Urteils vom 20. Dezember 2017, Gusa (C‑442/16, EU:C:2017:1004), untermauerten die Ansicht, dass die auf dem Urteil vom 19. Juni 2014, Saint-Prix (C‑507/12, EU:C:2014:2007), beruhende Auslegung des Unionsrechts auf Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausübten, übertragbar sei.
22 Unter diesen Umständen hat das Upper Tribunal (Administrative Appeals Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Berufungskammer für Verwaltungssachen]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Wenn eine Unionsbürgerin, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist,
i) sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält (Aufnahmemitgliedstaat),
ii) im Sinne von Art. 49 AEUV im Aufnahmemitgliedstaat als Selbständige tätig war,
iii) ab Mai 2014 Mutterschaftsgeld bezogen hat (zu einer Zeit, in der sie sich aufgrund ihrer Schwangerschaft vermindert in der Lage sah, zu arbeiten),
iv) bezüglich deren festgestellt wurde, dass sie ab Juli 2014 keiner tatsächlichen und effektiven selbständigen Tätigkeit mehr nachging,
v) die im August 2014 ein Kind zur Welt gebracht hat und
vi) im Zeitraum nach der Geburt und vor der Beantragung von Arbeitslosengeld als Arbeitsuchende im Februar 2015 keine tatsächliche und effektive selbständige Tätigkeit wieder aufgenommen hat,
ist Art. 49 AEUV dann dahin auszulegen, dass eine solche Person, die ihre selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige im Sinne dieser Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes wieder eine wirtschaftliche Tätigkeit aufnimmt oder eine Arbeit sucht?
Zur Vorlagefrage
23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes diese Tätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere selbständige Tätigkeit oder Beschäftigung findet.
24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht zur Feststellung, ob Frau Dakneviciute im vorliegenden Fall wöchentliches Kindergeld nach der (Allgemeinen) Kindergeldverordnung von 2006 in Anspruch nehmen kann, wissen muss, ob sie im Zeitraum vom 22. Juli 2014 bis zum 9. Februar 2015, in dem sie nach dem vom vorlegenden Gericht festgestellten Sachverhalt wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt eine unwesentliche selbständige Tätigkeit aufgegeben und dann wieder aufgenommen hat, nach Unionsrecht ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich hatte.
25 Es ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 ein einziger Rechtsakt ist, in dem die vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden Instrumente des Unionsrechts kodifiziert und überarbeitet werden, um die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Aus Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 geht hervor, dass sie die Bedingungen näher regeln soll, unter denen dieses Recht ausgeübt werden kann und zu denen im Fall eines Aufenthalts von über drei Monaten insbesondere die Bedingung gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie gehört. Nach dieser Bedingung müssen Unionsbürger die Eigenschaft eines Arbeitnehmers oder eines Selbständigen im Aufnahmemitgliedstaat aufweisen (Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 26).
27 Der Gerichtshof hat aber entschieden, dass Art. 7 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, in dem die Fälle aufgeführt sind, in denen einem Unionsbürger, der keine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger mehr ausübt, diese Eigenschaft und das damit verbundene Aufenthaltsrecht trotzdem erhalten bleibt, nicht den Fall einer Frau erfasst, die ihre Erwerbstätigkeit wegen des Spätstadiums ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes vorübergehend aufgibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 30).
28 Er hat gleichwohl festgestellt, dass Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die Fälle, in denen einem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat nicht mehr ausübt, die Erwerbstätigeneigenschaft für die Zwecke des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie dennoch erhalten bleibt, nicht abschließend aufzählt (Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass die Tatsache, dass die körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes eine Frau dazu zwingen, ihre Erwerbstätigkeit während des für ihre Erholung erforderlichen Zeitraums aufzugeben, grundsätzlich nicht geeignet ist, ihr die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne von Art. 45 AEUV abzusprechen. Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nämlich nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet (Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 40 und 41).
30 Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in der vorstehenden Randnummer angeführte Auslegung, die im Rahmen einer Situation erfolgt ist, die unter Art. 45 AEUV fällt, auf den Fall einer Person übertragen werden kann, die eine selbständige Tätigkeit im Sinne von Art. 49 AEUV ausübt.
31 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Art. 45 und 49 AEUV den gleichen rechtlichen Schutz gewährleisten, so dass es auf die Qualifizierung der wirtschaftlichen Tätigkeit insoweit nicht ankommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Februar 1991, Roux, C‑363/89, EU:C:1991:41, Rn. 23).
32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sollen nämlich sämtliche Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die sie benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsmitgliedstaats eine Tätigkeit ausüben wollen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Simma Federspiel, C‑419/16, EU:C:2017:997, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Eine Unionsbürgerin würde aber von der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit abgehalten, wenn sie für den Fall ihrer Schwangerschaft im Aufnahmemitgliedstaat und der dadurch bedingten, sei es auch noch so kurzzeitigen, Aufgabe ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit Gefahr liefe, die Eigenschaft als Selbständige in diesem Staat zu verlieren (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 44).
34 Folglich muss einer Frau, die sich in der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils dargelegten Situation befindet, die Eigenschaft als Person, die eine selbständige Tätigkeit im Sinne von Art. 49 AEUV ausübt, unter den gleichen Bedingungen erhalten bleiben können.
35 Außerdem hat der Gerichtshof anerkannt, dass sich Personen, die eine unselbständige Tätigkeit ausüben, und Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausüben, in einer vergleichbar schwierigen Lage befinden, wenn sie gezwungen sind, ihre Tätigkeit aufzugeben, und demnach in Bezug auf die Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat nicht ungleich behandelt werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Gusa, C‑442/16, EU:C:2017:1004, Rn. 42 und 43).
36 Frauen, die schwanger werden, befinden sich aber in einer vergleichbar schwierigen Situation, unabhängig davon, ob sie eine unselbständige oder eine selbständige Tätigkeit ausüben.
37 Der Unionsgesetzgeber hat die wirtschaftliche und körperliche Verletzlichkeit von schwangeren selbständigen Erwerbstätigen im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/41 ausdrücklich anerkannt. Daher verpflichtet Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass selbständig erwerbstätige Frauen ausreichende Mutterschaftsleistungen erhalten können, die eine Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft unter Bedingungen ermöglichen, die denjenigen für unselbständig Beschäftigte entsprechen.
38 Das von der Steuer- und Zollbehörde beim vorlegenden Gericht geltend gemachte Argument, das auch in der mündlichen Verhandlung beim Gerichtshof von der Regierung des Vereinigten Königreichs wiederholt worden ist, wonach eine Frau, die ihre selbständige Tätigkeit wegen der Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und der Geburt nicht persönlich ausüben kann, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit vorübergehend durch eine andere Person vertreten lassen könnte, kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Man kann nämlich nicht davon ausgehen, dass eine solche Vertretung immer möglich sein wird, insbesondere wenn die fragliche Tätigkeit eine persönliche Beziehung oder ein Vertrauensverhältnis zu einem Kunden voraussetzt.
39 Daraus folgt, dass eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, in Bezug auf die Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat im Vergleich zu einer unselbständig Beschäftigten in einer vergleichbaren Situation nicht unterschiedlich behandelt werden darf.
40 Im Übrigen werden die vorstehenden Erwägungen durch die Bestimmungen des Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 bestätigt. Da eine Abwesenheit aufgrund eines wichtigen Ereignisses wie einer Schwangerschaft oder Niederkunft die Kontinuität des fünfjährigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die für die Gewährung des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlich ist, unberührt lässt, können körperliche Belastungen im Spätstadium einer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes, die eine Frau zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit zwingen, für die Betroffene erst recht nicht zum Verlust der Eigenschaft als Selbständige führen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 45 und 46).
41 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes diese Tätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere selbständige Tätigkeit oder Beschäftigung findet.