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Arbeitsrecht
03.12.2020
Arbeitsrecht
EuGH: Arbeitnehmerentsenderichtlinie ist auf länderübergreifende Dienstleistungen anwendbar

EuGH, Urteil vom 1.12.2020 – C-815/18; Federatie Nederlandse Vakbeweging gegen Van den Bosch Transporten BV, Van den Bosch Transporte GmbH, Silo-Tank Kft.

ECLI:EU:C:2020:976

Volltext: BB-Online  BBL2020-2867-1

Tenor

1. Die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen ist dahin auszulegen, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

2. Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im internationalen Straßenverkehrssektor im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem Unternehmen tätig ist, das in einem anderen Mitgliedstaat als jenem ansässig ist, in dem der Betroffene normalerweise arbeitet, ein in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandter Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmungen ist, wenn seine Arbeitsleistung während des betreffenden begrenzten Zeitraums eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. Das Vorliegen einer solchen Verbindung wird im Rahmen einer Gesamtwürdigung von Gesichtspunkten wie der Art der von dem betreffenden Arbeitnehmer in diesem Hoheitsgebiet verrichteten Tätigkeiten, der Enge der Verbindung der Tätigkeiten dieses Arbeitnehmers zu dem Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats, in dem er tätig ist, und des Anteils bestimmt, den diese Tätigkeiten dort an der gesamten Beförderungsleistung ausmachen.

Dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung dieser Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, reicht für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer im Sinne der Richtlinie 96/71 in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats entsandt worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist.

3. Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind dahin auszulegen, dass das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern sind, als solches für die Beurteilung, ob eine Entsendung von Arbeitnehmern vorliegt, nicht relevant ist.

4. Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im Straßenverkehrssektor tätig ist und im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen Kabotagebeförderungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet, durchführt, grundsätzlich als in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem diese Beförderungen erfolgen, entsandt anzusehen ist. Die Dauer der Kabotagebeförderungen ist unbeschadet der etwaigen Anwendung von Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Entsendung unerheblich.

5. Art. 3 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 96/71 ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden ist, anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen ist. Dem in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriff entspricht ein Tarifvertrag, der nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist, aber dessen Einhaltung für die ihm unterliegenden Unternehmen die Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung eines anderen, seinerseits für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags darstellt, dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit jenen dieses anderen Tarifvertrags identisch sind.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV, von Art. 1 Abs. 1 und 3, von Art. 2 Abs. 1 sowie von Art. 3 Abs. 1 und 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1).

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Federatie Nederlandse Vakbeweging (niederländischer Gewerkschaftsverband, im Folgenden: FNV) auf der einen Seite und der Van den Bosch Transporten BV, der Van den Bosch Transporte GmbH und der Silo-Tank Kft. auf der anderen Seite über die Anwendung der Collectieve arbeidsovereenkomst Goederenvervoer (Tarifvertrag für den Güterverkehr) auf Fahrer aus Deutschland und Ungarn im Rahmen von Charterverträgen, die sich auf grenzüberschreitende Beförderungen beziehen.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 96/71

3          Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Richtlinie 96/71 lauten:

„(4) Die Erbringung von Dienstleistungen kann entweder als Ausführung eines Auftrags durch ein Unternehmen, in seinem Namen und unter seiner Leitung im Rahmen eines Vertrags zwischen diesem Unternehmen und dem Leistungsempfänger oder in Form des Zurverfügungstellens von Arbeitnehmern für ein Unternehmen im Rahmen eines öffentlichen oder privaten Auftrags erfolgen.

(5) Voraussetzung für eine solche Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs sind ein fairer Wettbewerb sowie Maßnahmen, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer garantieren.“

4          Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie bestimmt:

„(1) Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer gemäß Absatz 3 in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden.

(2) Diese Richtlinie gilt nicht für Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine.

(3) Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden länderübergreifenden Maßnahmen treffen:

a) einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht,

oder

b) einen Arbeitnehmer in eine Niederlassung oder ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht,

oder

c) als Leiharbeitsunternehmen oder als einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellendes Unternehmen einen Arbeitnehmer in ein verwendendes Unternehmen entsenden, das seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder dort seine Tätigkeit ausübt, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitunternehmen oder dem einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.

… “

5          Art. 2 („Begriffsbestimmung“) dieser Richtlinie lautet:

„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.

(2) Für die Zwecke dieser Richtlinie wird der Begriff des Arbeitnehmers in dem Sinne verwendet, in dem er im Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird, gebraucht wird.“

6          Art. 3 („Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“) der Richtlinie sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,

– durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften

und/oder

– durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, festgelegt sind:

a) Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten;

b) bezahlter Mindestjahresurlaub;

c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;

d) Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen;

e) Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz;

f) Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen;

g) Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen.

(3) Die Mitgliedstaaten können gemäß ihren üblichen Verfahren und Praktiken nach Konsultation der Sozialpartner beschließen, Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe c) in den in Artikel 1 Absatz 3 Buchstaben a) und b) genannten Fällen nicht anzuwenden, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt.

(4) Die Mitgliedstaaten können gemäß ihren Rechtsvorschriften und/oder Praktiken vorsehen, dass durch Tarifverträge im Sinne des Absatzes 8 für einen oder mehrere Tätigkeitsbereiche in den in Artikel 1 Absatz 3 Buchstaben a) und b) genannten Fällen von Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe c) sowie von dem Beschluss eines Mitgliedstaats nach Absatz 3 abgewichen werden kann, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt.

(8) Unter ‚für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen oder Schiedssprüchen‘ sind Tarifverträge oder Schiedssprüche zu verstehen, die von allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind.

Gibt es kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder Schiedssprüchen im Sinne von Unterabsatz 1, so können die Mitgliedstaaten auch beschließen, [F]olgendes zugrunde zu legen:

– die Tarifverträge oder Schiedssprüche, die für alle in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam sind,

und/oder

– die Tarifverträge, die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen,

sofern deren Anwendung auf die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen eine Gleichbehandlung dieser Unternehmen in Bezug auf die in Absatz 1 Unterabsatz 1 genannten Aspekte gegenüber den im vorliegenden Unterabsatz genannten anderen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, gewährleistet.

(10) Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, unter Einhaltung des Vertrags für inländische und ausländische Unternehmen in gleicher Weise

– Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für andere als die in Absatz 1 Unterabsatz 1 aufgeführten Aspekte, soweit es sich um Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung handelt,

– Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die in Tarifverträgen oder Schiedssprüchen nach Absatz 8 festgelegt sind und andere als im Anhang genannte Tätigkeit betreffen, vorzuschreiben.“

Richtlinie 2014/67/EU

7          Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems („IMI-Verordnung“) (ABl. 2014, L 159, S. 11) sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten dürfen nur die Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen vorschreiben, die notwendig sind, um eine wirksame Überwachung der Einhaltung der Pflichten, die aus dieser Richtlinie und der Richtlinie 96/71 erwachsen, zu gewährleisten, vorausgesetzt, sie sind im Einklang mit dem Unionsrecht gerechtfertigt und verhältnismäßig.

Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten insbesondere folgende Maßnahmen vorsehen:

b) die Pflicht zur Bereithaltung oder Verfügbarmachung und/oder Aufbewahrung in Papier- oder elektronischer Form des Arbeitsvertrags oder eines gleichwertigen Dokuments im Sinne der Richtlinie 91/533/EWG des Rates [vom 14. Oktober 1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen (ABl. 1991, L 288, S. 32)], einschließlich – sofern angebracht oder relevant – der zusätzlichen Angaben nach Artikel 4 jener Richtlinie, der Lohnzettel, der Arbeitszeitnachweise mit Angabe des Beginns, des Endes und der Dauer der täglichen Arbeitszeit sowie der Belege über die Entgeltzahlung oder der Kopien gleichwertiger Dokumente während des Entsendezeitraums an einem zugänglichen und klar festgelegten Ort im eigenen Hoheitsgebiet, wie dem Arbeitsplatz oder der Baustelle, oder bei mobilen Arbeitnehmern im Transportgewerbe an der Operationsbasis oder in dem Fahrzeug, in dem die Dienstleistung erbracht wird;

… “

Richtlinie (EU) 2020/1057

8          Im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2020/1057 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2020 zur Festlegung besonderer Regeln im Zusammenhang mit der Richtlinie 96/71 und der Richtlinie 2014/67 für die Entsendung von Kraftfahrern im Straßenverkehrssektor und zur Änderung der Richtlinie 2006/22/EG über die Durchsetzungsanforderungen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 (ABl. 2020, L 249, S. 49) heißt es:

„… Die Vorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmern gemäß der Richtlinie [96/71] … gelten für den Straßenverkehrssektor …“

Verordnung (EG) Nr. 1072/2009

9          Der 17. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs (ABl. 2009, L 300, S. 72) stellt klar, dass die Richtlinie 96/71 für Verkehrsunternehmen gilt, die Kabotagebeförderungen durchführen.

10        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ einen Mitgliedstaat, in dem ein Verkehrsunternehmer tätig ist und der ein anderer als sein Niederlassungsmitgliedstaat ist;

6. ,Kabotage‘ gewerblichen innerstaatlichen Verkehr, der im Einklang mit dieser Verordnung zeitweilig in einem Aufnahmemitgliedstaat durchgeführt wird;

…“

11        Art. 8 („Allgemeiner Grundsatz“) Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Die in Absatz 1 genannten Güterkraftverkehrsunternehmer sind berechtigt, im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung aus einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittland in den Aufnahmemitgliedstaat nach Auslieferung der Güter bis zu drei Kabotagebeförderungen mit demselben Fahrzeug oder im Fall von Fahrzeugkombinationen mit dem Kraftfahrzeug desselben Fahrzeugs durchzuführen. Bei Kabotagebeförderungen erfolgt die letzte Entladung, bevor der Aufnahmemitgliedstaat verlassen wird, innerhalb von sieben Tagen nach der letzten Entladung der in den Aufnahmemitgliedstaat eingeführten Lieferung.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12        Van den Bosch Transporten ist ein Güterkraftverkehrsunternehmen mit Standort in Erp (Niederlande). Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte, eine Gesellschaft deutschen Rechts, und Silo-Tank, eine Gesellschaft ungarischen Rechts, sind Schwestergesellschaften, die derselben Unternehmensgruppe angehören. Diese drei Gesellschaften haben denselben Leiter und denselben Anteilseigner.

13        Van den Bosch Transporten ist Mitglied der Vereniging Goederenvervoer Nederland (niederländischer Verband für den Güterverkehr). Dieser Verband und die FNV schlossen den Tarifvertrag für den Güterverkehr, der am 1. Januar 2012 in Kraft trat und am 31. Dezember 2013 auslief. Er wurde nicht für allgemein verbindlich erklärt. Die Collectieve arbeidsovereenkomst Beroepsgoederenvervoer over de weg en verhuur van mobiele kranen (Tarifvertrag für den gewerblichen Güterkraftverkehr und die Vermietung von Mobilkränen, im Folgenden: Tarifvertrag für den gewerblichen Güterkraftverkehr) wurde dagegen vom 31. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2013 für allgemein verbindlich erklärt. Der besluit van de Minister van Sociale Zaken en Werkgelegenheid (Erlass des Ministers für Soziales und Arbeit) vom 25. Januar 2013 (Stcrt. 2013, Nr. 2496) befreite jedoch die unter den Tarifvertrag für den Güterverkehr fallenden Unternehmen von der Anwendung des Tarifvertrags für den gewerblichen Güterkraftverkehr. Diese Befreiung galt u. a. für Van den Bosch Transporten.

14        Art. 44 („Charterbestimmung“) des Tarifvertrags für den Güterverkehr, dessen Wortlaut mit dem von Art. 73 des Tarifvertrags für den gewerblichen Güterkraftverkehr nahezu identisch war, sah vor:

„(1) Arbeitgeber müssen in Nachunternehmerverträgen, die im Rahmen ihres in den Niederlanden ansässigen Unternehmens oder von diesem aus von als Arbeitgeber handelnden selbständigen Unternehmern ausgeführt werden, festlegen, dass die allgemeinen Arbeitsbedingungen dieses Tarifvertrags auf die Arbeitnehmer dieser selbständigen Unternehmer anzuwenden sind, soweit sich dies aus der Richtlinie 96/71 ergibt, … und zwar auch dann, wenn von den Parteien als auf den Vertrag anwendbares Recht ein anderes Recht als das der Niederlande gewählt wurde.

(2) Der Arbeitgeber hat die Arbeitnehmer im Sinne von Absatz 1 über die auf sie anzuwendenden Arbeitsbedingungen in Kenntnis zu setzen.

…“

15        Van den Bosch Transporten hatte mit Van den Bosch Transporte und Silo-Tank Charterverträge geschlossen, die sich auf grenzüberschreitende Beförderungen bezogen.

16        Arbeitnehmer aus Deutschland und Ungarn, die an Van den Bosch Transporte bzw. an Silo-Tank arbeitsvertraglich gebunden waren, gingen ihrer Tätigkeit als Fahrer im Rahmen dieser Charterverträge nach. In der Regel fand die Vercharterung in dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum ab Erp statt, und die Fahrten endeten dort auch. Die meisten auf der Grundlage der fraglichen Charterverträge durchgeführten Beförderungen fanden jedoch außerhalb des Hoheitsgebiets des Königreichs der Niederlande statt.

17        Die grundlegenden Arbeitsbedingungen, wie sie im Tarifvertrag für den Güterverkehr festgelegt waren, wurden auf die Fahrer aus Deutschland und Ungarn nicht angewandt.

18        Die FNV erhob gegen Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank eine Klage, mit der sie beantragte, diese Gesellschaften zur Einhaltung des Tarifvertrags für den Güterverkehr und insbesondere von dessen Art. 44 zu verpflichten. Nach Ansicht der FNV hätte nach dieser Bestimmung Van den Bosch Transporten bei der Einschaltung von Fahrern aus Deutschland und Ungarn die grundlegenden Arbeitsbedingungen dieses Tarifvertrags auf sie in ihrer Eigenschaft als entsandte Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie 96/71 anwenden müssen.

19        Mit Zwischenurteil im ersten Rechtszug wurde entschieden, dass die grundlegenden Arbeitsbedingungen des Tarifvertrags für den Güterverkehr tatsächlich auf die Fahrer aus Deutschland und Ungarn Anwendung finden müssten, die Van den Bosch Transporten einsetzte.

20        Das Berufungsgericht hob dieses Zwischenurteil auf und verwies die Rechtssache an den erstinstanzlichen Richter zurück. Es wies jedoch die von Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank vertretene Auffassung zurück, dass Art. 44 des Tarifvertrags für den Güterverkehr für nichtig zu erklären sei, weil die sich für sie daraus ergebende Verpflichtung eine ungerechtfertigte Beschränkung des in Art. 56 AEUV gewährleisteten freien Dienstleistungsverkehrs darstelle. Zur Begründung dieser Entscheidung führte das Berufungsgericht im Wesentlichen aus, dass, obwohl dieser Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden sei, die ihm unterliegenden Unternehmen von der Anwendung des Tarifvertrags für den gewerblichen Güterkraftverkehr, der wiederum allgemein verbindlich sei, befreit worden seien, dessen Art. 73 im Wesentlichen mit Art. 44 des Tarifvertrags für den Güterverkehr identisch sei und dessen Inhalt sich auch sonst praktisch mit dem Tarifvertrag für den Güterverkehr decke. Daher erzeuge der Tarifvertrag für den Güterverkehr insbesondere in Bezug auf die Verpflichtung, die auch für den Nachunternehmer gelten müsse, die gleiche Wirkung wie der Tarifvertrag für den gewerblichen Güterkraftverkehr, zumal diese beiden Tarifverträge im Übrigen zum selben Zeitpunkt ihre Gültigkeit verlören. In materieller Hinsicht sei der Tarifvertrag für den Güterverkehr daher so zu behandeln, als ob er tatsächlich für allgemein verbindlich erklärt worden wäre, und zwar sowohl gegenüber den in den Niederlanden ansässigen Unternehmern des betreffenden Sektors als auch gegenüber allen ausländischen Befrachtern.

21        Daraus folge, dass Art. 44 des Tarifvertrags für den Güterverkehr nicht als eine ungerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne des Art. 56 AEUV anzusehen sei.

22        Im Übrigen ging das Berufungsgericht davon aus, dass die fraglichen Nachunternehmerverträge unter die Richtlinie 96/71 fallen müssten, damit den Nachunternehmern gemäß Art. 44 des Tarifvertrags über den Güterverkehr überhaupt die Verpflichtung auferlegt werden könne, den Arbeitnehmern die in diesem Tarifvertrag vorgesehenen Arbeitsbedingungen zuzugestehen. Hierzu brachten Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank vor diesem Gericht vor, dass die Wendung „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats [entsenden]“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 96/71 wörtlich auszulegen sei, während sie nach der Ansicht der FNV so weit zu verstehen sei, dass davon auch der Fall einer Entsendung „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder von diesem aus“ erfasst sei. Im letztgenannten Fall sei es unerheblich, in welchen Mitgliedstaaten der betreffende Fahrer seine aufeinanderfolgenden Tätigkeiten im Rahmen der Vercharterung tatsächlich verrichte.

23        Das Berufungsgericht war der Ansicht, dass der wörtlichen Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 96/71 der Vorzug zu geben sei, so dass Vercharterungen wie die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fielen, sondern nur solche, die zumindest hauptsächlich „im Hoheitsgebiet“ eines anderen Mitgliedstaats erfolgten.

24        Die FNV erhob gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts insoweit Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), als diese Entscheidung auf einer wörtlichen Auslegung des Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 96/71 beruhe. Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank erhoben dagegen insoweit eine Anschlusskassationsbeschwerde, als das Berufungsgericht entschieden habe, dass Art. 44 des Tarifvertrags für den Güterverkehr nicht als ungerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit anzusehen sei.

25        Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Kassationsbeschwerde u. a. die Frage nach der Auslegung der Wendung „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und 3 bzw. der Wendung „im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 in Bezug auf den internationalen Güterkraftverkehr, wie er von Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank durchgeführt werde, aufwerfe. Diese Auslegung sei für die Feststellung entscheidend, ob im internationalen Güterkraftverkehr tätige Fahrer wie jene, um die es in der vorliegenden Rechtssache gehe, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 96/71 fielen. Dabei habe man sich im Vorfeld die Frage zu stellen, ob die Richtlinie 96/71 für den internationalen Güterkraftverkehr gelte.

26        Das vorlegende Gericht ist außerdem der Ansicht, dass die Kassationsbeschwerde die Frage aufwerfe, ob der Umstand, dass die Unternehmen, welche die betreffenden Arbeitnehmer entsendeten, hier in einer Unternehmensgruppe, mit der Gesellschaft, zu der diese Arbeitnehmer entsandt würden, verbunden seien, für die Auslegung der oben genannten Bestimmungen der Richtlinie 96/71 relevant sei.

27        Im Übrigen werde in dieser Kassationsbeschwerde hilfsweise vorgebracht, das Berufungsgericht habe verkannt, dass ein Teil der von Van den Bosch Transporte und Silo-Tank für Van den Bosch Transporten verrichteten Fahrten im Rahmen von Kabotagebeförderungen vollständig im Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande erfolgt sei. Daher stelle sich die Frage, ob solche Beförderungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 96/71 fielen.

28        Schließlich führt das vorlegende Gericht aus, dass die Anschlusskassationsbeschwerde für den Fall eingelegt worden sei, dass es der Kassationsbeschwerde ganz oder teilweise stattgebe. Der zur Stützung dieser Anschlusskassationsbeschwerde vorgebrachte Kassationsgrund werfe ebenfalls Auslegungsfragen auf, die es erforderlich machten, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

29        Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Richtlinie 96/71 dahin auszulegen, dass diese auch auf einen Arbeitnehmer anzuwenden ist, der als Fahrer im internationalen Güterkraftverkehr tätig ist und seine Arbeit folglich in mehr als einem Mitgliedstaat verrichtet?

2. a) Wenn Frage 1 bejaht wird: Welcher Maßstab oder welche Gesichtspunkte sind zugrunde zu legen, um zu bestimmen, ob ein als Fahrer im internationalen Güterkraftverkehr tätiger Arbeitnehmer „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 96/71 entsendet wird und ob dieser Arbeitnehmer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 „während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als de[s]jenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet“?

b) Ist für die Beantwortung von Frage 2.a) der Umstand von Bedeutung, dass das Unternehmen, das den in Frage 2.a) genannten Arbeitnehmer entsendet, mit dem Unternehmen, in das dieser Arbeitnehmer entsendet wird – z. B. über einen Konzern –, verbunden ist, und, falls ja, inwiefern?

c) Wenn die Arbeit des in Frage 2.a) genannten Arbeitnehmers teilweise eine Kabotagebeförderung beinhaltet – d. h. eine Transportleistung, die ausschließlich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen erbracht wird, in dessen Hoheitsgebiet dieser Arbeitnehmer normalerweise arbeitet –, ist dann bei diesem Arbeitnehmer in jedem Fall davon auszugehen, dass er hinsichtlich dieses Teils der Arbeiten vorübergehend im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats arbeitet? Falls ja, gilt in dem Zusammenhang eine Untergrenze, z. B. in Form eines Mindestzeitraums pro Monat, in dem diese Kabotagebeförderung stattfindet?

3. a) Wenn Frage 1 bejaht wird: Wie ist der Begriff „für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 und 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 auszulegen? Liegt ein autonomer Begriff des Unionsrechts vor, und reicht es folglich aus, dass die in Art. 3 Abs. 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 festgelegten Bedingungen in tatsächlicher Hinsicht erfüllt sind, oder verlangen diese Bestimmungen zugleich, dass der Tarifvertrag nach dem nationalen Recht für allgemein verbindlich erklärt wurde?

b) Wenn ein Tarifvertrag nicht als ein für allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag im Sinne von Art. 3 Abs. 1 und 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 qualifiziert werden kann, steht Art. 56 AEUV dann dem entgegen, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen, das einen Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsendet, vertraglich zur Einhaltung von Bestimmungen eines solchen, im letztgenannten Mitgliedstaat geltenden Tarifvertrags verpflichtet wird?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

31        Wie sich aus Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 96/71 im Licht ihres vierten Erwägungsgrundes ergibt, gilt diese Richtlinie für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen entsenden, wobei diese länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen entweder in der Ausführung eines Auftrags durch ein Unternehmen in seinem Namen und unter seiner Leitung im Rahmen eines Vertrags zwischen diesem Unternehmen und dem Leistungsempfänger oder im Zurverfügungstellen von Arbeitnehmern für ein Unternehmen im Rahmen eines öffentlichen oder privaten Auftrags bestehen kann.

32        Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 96/71 schließt seinerseits vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie nur solche Dienstleistungen aus, an denen die Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine beteiligt sind.

33        Folglich gilt diese Richtlinie mit Ausnahme der letztgenannten Dienstleistungen grundsätzlich für jede länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen, die mit einer Entsendung von Arbeitnehmern verbunden ist, unabhängig davon, zu welchem Wirtschaftssektor eine solche Dienstleistung gehört, also auch im Straßenverkehrssektor.

34        Diese Auslegung wird durch Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 untermauert, der den Begriff „entsandter Arbeitnehmer“ im Sinne dieser Richtlinie dahin gehend definiert, dass er „jede[n] Arbeitnehmer“ erfasst, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet, ohne dass diese Bestimmung auf irgendeine Beschränkung hinsichtlich des Tätigkeitssektors dieses Arbeitnehmers Bezug nehmen würde.

35        Die Anwendbarkeit der Richtlinie 96/71 auf den Straßenverkehrssektor wird ausdrücklich bestätigt durch andere Unionsrechtsakte, wie etwa die Richtlinie 2014/67 und die Richtlinie 2020/1057: Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/67 führt bei den Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen, die notwendig sind, um eine wirksame Überwachung der Einhaltung der Pflichten, die u. a. aus der Richtlinie 96/71 erwachsen, zu gewährleisten, Maßnahmen an, die spezifisch die „mobilen [Arbeitnehmer] im Transportgewerbe“ betreffen, und im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2020/1057 heißt es, dass die Vorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmern gemäß der Richtlinie 96/71 „für den Straßenverkehrssektor [gelten]“.

36        Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank sowie die ungarische und die polnische Regierung wenden jedoch in ihren Erklärungen ein, dass die Bestimmungen, auf denen der freie Dienstleistungsverkehr beruhe und die als Grundlage für den Erlass der Richtlinie 96/71 gedient hätten, es ausschließen würden, dass die Tätigkeiten des Güterkraftverkehrs in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fielen. Folglich sei Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 96/71, wonach diese für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat gelte, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer entsendeten, dahin auszulegen, dass diese Vorschrift sich auf den „Dienstleistungsverkehr“ im Sinne von Art. 56 AEUV beziehe, der nicht den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs umfasse, der speziell durch die Bestimmungen des Titels des AEU-Vertrags über den Verkehr, nämlich die Art. 90 bis 100 AEUV, geregelt werde.

37        Insoweit ist daran zu erinnern, dass zwar der freie Dienstleistungsverkehr im Verkehrsbereich nicht durch Art. 56 AEUV geregelt wird, der den freien Dienstleistungsverkehr im Allgemeinen betrifft, sondern durch die Bestimmungen des Titels des AEU-Vertrags über den Verkehr, auf die Art. 58 Abs. 1 AEUV verweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Dobersberger, C‑16/18, EU:C:2019:1110, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38        Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 96/71, wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, allgemeine Geltung hat. Außerdem bezweckt diese Richtlinie, wie sich aus ihrem ersten Erwägungsgrund ergibt, die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, und sie sieht in ihrem fünften Erwägungsgrund vor, dass die erforderliche Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs im Rahmen eines fairen Wettbewerbs und im Rahmen von Maßnahmen zu erfolgen hat, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer garantieren.

39        Im Unterschied z. B. zur Verordnung Nr. 1072/2009, die für die Zwecke des in ihren Art. 3 und 4 verankerten Grundsatzes der „Gemeinschaftslizenz“ eine Reihe „gemeinsamer Regeln“ „für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten“ sowie „Bedingungen“ „für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind“, im Sinne von Art. 91 Abs. 1 Buchst. a und b AEUV enthält (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/15 [Freihandelsabkommen mit Singapur] vom 16. Mai 2017, EU:C:2017:376, Rn. 208), soll mit der Richtlinie 96/71 also nicht die gemeinsame Verkehrspolitik im Sinne von Art. 91 durchgeführt werden. Sie enthält auch keine „Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit“ oder „zweckdienliche Maßnahmen“ im Bereich Verkehr im Sinne von Art. 91 Abs. 1 Buchst. c und d AEUV.

40        Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Umstand, dass die Richtlinie 96/71 auf Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr gestützt ist, ohne dass ihre Rechtsgrundlage darüber hinaus Bestimmungen über den Verkehr umfasst, die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor, insbesondere im Güterkraftverkehrssektor, nicht von ihrem Anwendungsbereich ausschließen kann.

41        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

Zur zweiten Frage

Zu Frage 2.a)

42        Mit seiner Frage 2.a) möchte das vorlegende Gericht wissen, unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer, der im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem in einem anderen Mitgliedstaat tätigen Unternehmen eine Tätigkeit als Fahrer im internationalen Straßenverkehrssektor ausübt, als in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandter Arbeitnehmer im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und 3 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 gelten kann.

43        Wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 96/71 im Licht ihres vierten Erwägungsgrundes, dass diese Richtlinie für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat gilt, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen entsenden, wobei diese länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen entweder in der Ausführung eines Auftrags durch ein Unternehmen in seinem Namen und unter seiner Leitung im Rahmen eines Vertrags zwischen diesem Unternehmen und dem Leistungsempfänger oder im Zurverfügungstellen von Arbeitnehmern für ein Unternehmen im Rahmen eines öffentlichen oder privaten Auftrags bestehen kann.

44        Gemäß Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie „gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet“.

45        Ein Arbeitnehmer kann im Hinblick auf die Richtlinie 96/71 nur dann als in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandt angesehen werden, wenn seine Arbeitsleistung eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Dobersberger, C‑16/18, EU:C:2019:1110, Rn. 31), was eine Gesamtwürdigung aller Gesichtspunkte voraussetzt, die die Tätigkeit des betreffenden Arbeitnehmers kennzeichnen.

46        Hierzu ist festzustellen, dass sich das Vorliegen einer solchen Verbindung zu dem betreffenden Hoheitsgebiet insbesondere anhand der Merkmale der Dienstleistung, für deren Erbringung der betreffende Arbeitnehmer eingesetzt wird, zeigen kann. Ein relevanter Gesichtspunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Verbindung stellt auch die Art der Tätigkeiten dar, die dieser Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verrichtet.

47        Bei mobilen Arbeitnehmern wie im grenzüberschreitenden Verkehr tätigen Kraftfahrern ist hierfür auch von Bedeutung, wie eng die Verbindung zwischen den Tätigkeiten, die ein solcher Arbeitnehmer im Rahmen der Erbringung der ihm zugewiesenen Beförderungsleistung verrichtet, und dem Hoheitsgebiet jedes betroffenen Mitgliedstaats ist.

48        Das Gleiche gilt für den Anteil dieser Tätigkeiten an der Gesamtheit der betreffenden Dienstleistungen. Insoweit sind das Be- oder Entladen von Waren, die Instandhaltung oder die Reinigung von Transportfahrzeugen von Bedeutung, sofern sie tatsächlich von dem betreffenden Fahrer und nicht von Dritten durchgeführt werden.

49        Dagegen kann ein Arbeitnehmer, der in dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in den er entsandt wird, Leistungen von sehr beschränktem Umfang erbringt, nicht als „entsandt“ im Sinne der Richtlinie 96/71 angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Dobersberger, C‑16/18, EU:C:2019:1110, Rn. 31). Dies gilt etwa für einen Fahrer, der das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Gütertransports auf der Straße nur durchquert. Gleiches gälte für einen Fahrer, der lediglich einen grenzüberschreitenden Transport vom Sitzmitgliedstaat des Transportunternehmens bis zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats oder umgekehrt durchführt.

50        Im Übrigen reicht der Umstand, dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung seiner Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats „entsandt“ worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist.

51        Nach alledem ist auf die Frage 2.a) zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen sind, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im internationalen Straßenverkehrssektor im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem Unternehmen tätig ist, das in einem anderen Mitgliedstaat als jenem ansässig ist, in dem der Betroffene normalerweise arbeitet, ein in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandter Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmungen ist, wenn seine Arbeitsleistung während des betreffenden begrenzten Zeitraums eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. Das Vorliegen einer solchen Verbindung wird im Rahmen einer Gesamtwürdigung von Gesichtspunkten wie der Art der von dem betreffenden Arbeitnehmer in diesem Hoheitsgebiet verrichteten Tätigkeiten, der Enge der Verbindung der Tätigkeiten dieses Arbeitnehmers zu dem Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats, in dem er tätig ist, und des Anteils bestimmt, den diese Tätigkeiten dort an der gesamten Beförderungsleistung ausmachen.

52        Dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung seiner Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, reicht für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer im Sinne der Richtlinie 96/71 in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats entsandt worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist.

Zu Frage 2.b)

53        Mit seiner Frage 2.b) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen sind, dass das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern sind, für die Beurteilung des Vorliegens einer Entsendung von Arbeitnehmern relevant ist.

54        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie zwar gemäß ihrem Art. 1 Abs. 3 Buchst. b für die Entsendung eines Arbeitnehmers in eine Niederlassung oder ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gilt, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.

55        Die Richtlinie 96/71 erfasst somit zwar ausdrücklich den Fall einer Entsendung innerhalb einer Unternehmensgruppe, doch wird, wie sich aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils ergibt, die Eigenschaft als entsandter Arbeitnehmer davon abhängig gemacht, ob eine hinreichende Verbindung zwischen seiner Arbeitsleistung und dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen besteht, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.

56        Das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern sind, vermag als solches nichts darüber auszusagen, wie eng die Verbindung zu dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ist, in das der betreffende Arbeitnehmer entsandt wird, und somit nicht den Ausschlag dafür zu geben, ob die Verbindung zwischen der Arbeitsleistung dieses Arbeitnehmers und diesem Hoheitsgebiet hinreichend ist, um feststellen zu können, dass ein Fall einer Entsendung im Sinne der Richtlinie 96/71 vorliegt.

57        Folglich ist auf die Frage 2.b) zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen sind, dass das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern sind, als solches für die Beurteilung, ob eine Entsendung von Arbeitnehmern vorliegt, nicht relevant ist.

Zu Frage 2.c)

58        Mit der Frage 2.c) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen sind, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im Straßenverkehrssektor tätig ist und im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen Kabotagebeförderungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet, durchführt, als in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem diese Beförderungen erfolgen, entsandt angesehen werden kann, und, wenn ja, ob insoweit eine Untergrenze in Bezug auf die Dauer dieser Beförderungen existiert.

59        Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 96/71 in Verbindung mit der Verordnung Nr. 1072/2009 zu lesen ist, deren 17. Erwägungsgrund besagt, dass diese Richtlinie für Verkehrsunternehmen gilt, die Kabotagebeförderungen durchführen.

60        Nach Art. 2 Nrn. 3 und 6 der Verordnung Nr. 1072/2009 werden Kabotagebeförderungen definiert als gewerblicher innerstaatlicher Verkehr, der im Einklang mit dieser Verordnung zeitweilig in einem Aufnahmemitgliedstaat durchgeführt wird, wobei der Aufnahmemitgliedstaat derjenige ist, in dem ein Verkehrsunternehmer tätig ist und der ein anderer als sein Niederlassungsmitgliedstaat ist.

61        Zu den Voraussetzungen, unter denen die gebietsfremden Verkehrsunternehmer Kabotagebeförderungen in einem Aufnahmemitgliedstaat durchführen dürfen, sieht Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 vor, dass diese Verkehrsunternehmer berechtigt sind, im Aufnahmemitgliedstaat bis zu drei Kabotagebeförderungen im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung in diesen Staat innerhalb von sieben Tagen nach der letzten Entladung der in diesen Staat eingeführten Lieferung durchzuführen.

62        Aus den drei vorstehenden Randnummern ergibt sich, dass die Kabotagebeförderungen vollständig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats stattfinden, was die Annahme zulässt, dass die Arbeitsleistung des Fahrers im Rahmen solcher Beförderungen eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist.

63        Daher ist ein Fahrer, der solche Beförderungen durchführt, grundsätzlich als im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats entsandt anzusehen.

64        Auch wenn die Dauer solcher Kabotagebeförderungen an sich das Bestehen einer hinreichenden Verbindung zwischen der Arbeitsleistung des Fahrers, der sie durchführt, und dem Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht in Frage zu stellen vermag, lässt diese Beurteilung doch die Anwendung von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 96/71 unberührt.

65        Folglich ist auf die Frage 2.c) zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen sind, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im Straßenverkehrssektor tätig ist und im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen Kabotagebeförderungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet, durchführt, grundsätzlich als in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem diese Beförderungen erfolgen, entsandt anzusehen ist. Die Dauer der Kabotagebeförderungen ist unbeschadet der etwaigen Anwendung von Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Entsendung unerheblich.

Zur dritten Frage

Zu Frage 3.a)

66        Mit der Frage 3.a) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden ist, anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen ist.

67        Nach Art. 3 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 96/71 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass die Unternehmen, die Arbeitnehmer entsenden, den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern eine Reihe von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die, sofern sie die im Anhang der Richtlinie genannten Bauarbeiten betreffen, in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, u. a. durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge im Sinne von Art. 3 Abs. 8 festgelegt werden. Nach Art. 3 Abs. 10 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten für inländische Unternehmen und für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten in gleicher Weise Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die insbesondere in Tarifverträgen wie den in Art. 3 Abs. 8 genannten festgelegt werden und die andere Tätigkeiten als Bauarbeiten betreffen, vorschreiben.

68        Nach Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie 96/71 sind unter „für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen“ Tarifverträge zu verstehen, die von allen in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind.

69        Wie der Generalanwalt in Nr. 129 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, verweist Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 zwar nicht ausdrücklich auf das nationale Recht, doch ist dies implizit der Fall, da diese Bestimmung verlangt, dass der betreffende Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt wurde. Eine Allgemeinverbindlicherklärung kann aber nur nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats erfolgen.

70        Diese Feststellung wird durch den Wortlaut von Art. 3 Abs. 8 Unterabs. 2 der Richtlinie bestätigt. Indem der Unionsgesetzgeber vorgesehen hat, dass die Mitgliedstaaten, wenn es kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gibt, Tarifverträge zugrunde legen können, die für alle in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam sind und/oder die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen, hat er nämlich notwendigerweise auf ein nationales System Bezug genommen.

71        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Güterverkehrssektor tätigen Unternehmen unter den Tarifvertrag für den Güterverkehr fallen. Zwar ist dieser Tarifvertrag als solcher nicht für allgemein verbindlich erklärt worden. Gleichwohl war seine Einhaltung Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung des Tarifvertrags für den gewerblichen Güterkraftverkehr, der seinerseits für allgemein verbindlich erklärt worden war. Außerdem war der Inhalt der Bestimmungen dieser beiden Tarifverträge praktisch identisch. Die Einhaltung dieser Bestimmungen erscheint somit für alle im Güterverkehrssektor tätigen Unternehmen als verbindlich.

72        Nach alledem ist auf die Frage 3.a) zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden ist, anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen ist. Dem in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriff entspricht ein Tarifvertrag, der nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist, aber dessen Einhaltung für die ihm unterliegenden Unternehmen die Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung eines anderen, seinerseits für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags darstellt, dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit jenen dieses anderen Tarifvertrags identisch sind.

Zu Frage 3.b)

73        In Anbetracht der Antwort auf die Frage 3.a) ist die Frage 3.b) nicht mehr zu beantworten.

Kosten

74        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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