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Arbeitsrecht
31.03.2008
Arbeitsrecht
: Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen

Prof. Dr. Hermann Reichold


Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen

- Zusammenfassende Thesen -

1.         Das Tarifrecht reagiert seismografisch auf aktuelle tarifpolitische Entwicklungen. Seitdem sich kleine Spartengewerkschaften abgekoppelt haben von großen Industriegewerkschaften, gibt es Gewerkschaftswettbewerb und die Abkehr vom DGB-Ideal „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft". Die langjährige BAG-Rechtsprechung zur Tarifeinheit im Betrieb gerät dadurch endgültig ins Wanken.

2.            Rechtsdogmatisch gilt es zu unterscheiden zwischen (echter) Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität. Während echte Tarifkonkurrenz als normative Geltung von zwei kollidierenden Tarifverträgen im individuellen Arbeitsverhältnis zwingend einer Auflösung bedarf (soweit nicht schon die vorrangige Auslegung hilft), kann die Tarifpluralität als die normative Geltung mehrerer kollidierender Tarifverträge in einem Betrieb grundsätzlich hingenommen werden, soweit dadurch verschiedene Inhaltsnormen für verschiedene Arbeitnehmerguppen gesetzt werden. Eine ähnliche Situation wird ja auch hingenommen nach Betriebsübergang oder im Gemeinschaftsbetrieb verschiedener Unternehmen.

Beispiel:

Im Krankenhaus gilt für das Pflegepersonal der ver.di-Tarif, für die Ärzte gelten MB-Tarifnormen; oder: nach Fusion gelten für „übertragene" Arbeitnehmer ver.di-Tarifnormen, für „übernehmende" Arbeitnehmer IG Metall-Tarifnormen.

3.         Die normative Geltung mehrerer Tarifverträge im Betrieb ist von §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG vorgesehen und mit Art. 9 Abs. 3 GG auch vereinbar. Die Tarifautonomie fordert als „kollektive Privatautonomie" den Vorrang der mitgliedschaftlichen Legitimation und fördert damit den Wettstreit konkurrierender Regelungskonzepte. Die Verdrängung des weniger „passenden" Tarifs nach dem Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb kann daher - auch gewohnheitsrechtlich - keine pauschale Anerkennung mehr finden (so h.L.).

Beispiel:

Ärzte mit MB-Mitgliedschaft sind nach MB-Tarif zu bezahlen, Ärzte mit ver.di-Mitgliedschaft nach ver.di-Tarif. Der Arbeitgeber wird freilich eine Gehaltsspaltung im gleichen Betrieb durch Bezugnahmeklausel zu verhindern wissen (so wie bei den nicht organisierten Ärzten).

4.         Der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb kann auch nicht dadurch „gerettet" werden, dass man ein besonderes Vereinheitlichungsinteresse des Arbeitgebers bei „zufälligen" Pluralitäten (so Bayreuther) anerkennt. Wie sich aus der Rechtsprechung zur zulässigen Ungleichbehandlung im Betrieb nach Betriebsübergang ergibt, kann der Arbeitgeber zwar neue (bessere) Einheitsbedingungen schaffen, muss das  aber nicht tun (BAG NZA 2006, 265). „Down-Sizing"-Strategien können deshalb nicht als „notwendige" Vereinheitlichung verkauft werden.

5.            Tarifeinheit im Betrieb ist allerdings partiell anzuerkennen, insoweit tarifliche Normen auf eine betrieblich einheitliche Anwendung bzw. Umsetzung angewiesen sind, insb. bei betrieblichen Normen (sog. betriebsweite Tarifkonkurrenz). Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG bereitet aber bei Tarifpluralität keine Probleme, weil sie auf die jeweils geltenden Tarifverträge differenziert Anwendung finden kann. Betriebsvereinbarungen nach § 87 Abs. 1 BetrVG können sich ebenfalls auf tariflich differente Arbeitnehmergruppen unterschiedlich beziehen. Das Regelungsproblem tritt schon bisher beim gemeinsamen Betrieb unterschiedlicher Unternehmen auf. Problematisch bleiben die Fälle, in denen unterschiedliche tarifliche Vorgaben dem Regelungsgegenstand wegen dessen zwingend betriebseinheitlicher Geltung nicht angemessen sind (z.B. bei Organisationstarifen für eine unternehmenseinheitliche Betriebsverfassung, § 3 BetrVG, oder bei Kündigungsrichtlinien, § 1 IV KSchG). Dann entscheidet das Quantitätsprinzip, d.h. es gilt allein der repräsentativere Tarif im Betrieb (im Zweifel der der Industriegewerkschaft).

6.         Als Folgenprobleme werden sich sowohl das - zu bejahende - berechtigte Auskunftsinteresse des Arbeitgebers an der Tarifbindung des Arbeitnehmers (erst nach Einstellung möglich) als auch die Neuformulierung der Bezugnahmeklausel in der Praxis wohl lösen lassen. Die Formulierung von Bezugnahmeklauseln konnte bislang auf „den" einschlägigen Tarif verweisen und dabei auf das „objektive" Prinzip der Gleichstellung vertrauen. Diese Sicherheit hat der 4. Senat schon mit Urteil vom 14.12.2005 zerstört. Bei Tarifpluralität müssen neue Formulierungen gesucht werden, so wenn z.B. auf den „nach der betrieblichen Tätigkeit einschlägigen jeweils geltenden Tarif" verwiesen wird.

7.            Arbeitskampfrechtliche Restriktionen, die zu Lasten der schwächeren Spartengewerkschaften mit dem Prinzip der Tarifeinheit begründet werden, sind bei Zulassung von Tarifpluralität nicht mehr begründbar. Auch das sog. Übermaßverbot rechtfertigt nicht die Einschränkung des Wettbewerbs der Gewerkschaften um den besseren Tarifvertrag schon im Vorfeld. Weder eine frühere Tarifgemeinschaft noch ein bereits bestehender anderer Tarif können eine Verletzung der Friedenspflicht für die Spartengewerkschaft begründen. Allerdings wird dem Arbeitgeber bei Tarifpluralität ein außerordentliches Kündigungsrecht zur Koordination der Tarifverhandlungen mit mehreren Gewerkschaften einzuräumen sein. Er muss sich nicht einem ständigen Streikdruck verschiedener Gewerkschaften aussetzen. Die Gewerkschaften ihrerseits sollten sich vor der Einleitung eigener Streikmaßnahmen um den Nachweis gescheiterter Schlichtungsbemühungen mit den anderen Gewerkschaften bemühen, um nicht ihrerseits das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verletzen.

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