LAG Baden-Württemberg: Abfindung wegen Rentenkürzung
LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 30.5.2016 – 1 Sa 1/16
Amtliche Leitsätze
Die Bestimmung in § 5 Abs. 7 Satz 1 TV ATZ, wonach Arbeitnehmer, die nach Inanspruchnahme der Altersteilzeit eine Rentenkürzung wegen einer vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente zu erwarten haben, für je 0,3 % Rentenminderung eine Abfindung in Höhe von 5 % der Vergütung erhalten, ist dahingehend auszulegen, dass die Rentenkürzung tatsächlich eingetreten sein muss. Es ist nicht maßgebend, dass eine Rentenkürzung im Zeitpunkt des Abschlusses der Altersteilzeitvereinbarung zu erwarten war (Zusammenhang: Wegfall einer erwarteten Rentenkürzung nach Einführung der „Rente mit 63“ ab dem 01.07.2014).
Sachverhalt
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Zahlung einer Abfindung nach dem Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeitarbeit (im Folgenden: „TV ATZ“) hat.
Der am ... Mai 1951 geborene Kläger war aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 26. Juni 2000 bei der Beklagten seit 1. Oktober 2000 als Personalleiter beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis bestimmte sich nach dem Bundes-Angestelltentarifvertrag und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände jeweils geltenden Fassung. Der Kläger war zuletzt in die Vergütungsgruppe III BAT eingruppiert.
Am 14. Juli 2008 schlossen die Parteien einen Änderungsvertrag über ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis. Dieses begann am 1. Oktober 2008 und endete am 31. Mai 2014. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit während des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses von 19,25 Stunden leistete der Kläger im Teilzeitmodell. Seine Aufgabe als Personalleiter gab er hierbei auf.
Ursprünglich beabsichtigte der Kläger, nach dem Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit nach Vollendung seines 63. Lebensjahrs in Anspruch zu nehmen. In diesem Fall wäre seine Rente um 7,2 % gekürzt worden. Im Frühjahr 2014 nahmen die Überlegungen der Bundesregierung, eine „Rente mit 63“ einzuführen, Gestalt an. Die Bundesregierung brachte am 25. März 2014 einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag ein. Ein Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juli 2014 war hierbei vorgesehen. Am 21. Mai 2014 stellte der Kläger einen Antrag auf Bewilligung dieser Rente beginnend ab 1. Juli 2014. Mit Bescheid vom 10. Juli 2014 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung dem Kläger eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab 1. Juli 2014 in Höhe von EUR 1.840,76. Außerdem erhielt der Kläger ab demselben Zeitpunkt eine Betriebsrente der Zusatzversorgungskasse in Höhe von 846,38 EUR. Insgesamt belief sich die Altersversorgung des Klägers auf 2.687,14 EUR (brutto).
Im Juni 2014 erhielt der Kläger weder Arbeitslosengeld noch eine sonstige Lohnersatzleistung. Mit Schreiben vom 28. November 2014 machte er gegenüber der Beklagten einen Abfindungsanspruch nach § 5 Abs. 7 TV ATZ geltend. Hierbei wies er darauf hin, dass er einen Anspruch auf eine vorgezogene, mit Abschlägen von 7,2 % versehene Altersrente nach Altersteilzeit gehabt habe. Nach dem genannten Tarifvertrag stehe ihm eine Abfindung in Höhe von 5.260,20 EUR zu. Da er im Monat Juni keine Renteneinkünfte gehabt habe, bitte er um die Zahlung eines reduzierten Abfindungsbetrags von 2.687,14 EUR. Hierauf äußerte sich die Beklagte schriftlich nicht. Daraufhin machte der Kläger mit Anwaltsschreiben vom 12. März 2015 den Abfindungsanspruch erneut, aber erfolglos geltend.
Mit seiner am 29. April 2015 eingegangenen Klage begehrte der Kläger zunächst die Zahlung einer Abfindung in Höhe von 2.687,14 EUR. Er trug vor, nach § 5 Abs. 7 TV ATZ habe er Anspruch auf eine Abfindung in Höhe von 5 % der Vergütung für je 0,3 % an Rentenminderung. Die Abfindung betrage unstreitig 5.260,20 EUR. Im Zeitpunkt der Beendigung seines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses sei jedoch bekannt gewesen, dass die „Rente mit 63“ am 1. Juli 2014 in Kraft treten werde und er daher eine abschlagsfreie Rente nach neuem Recht erhalten könne. Im Monat Juni habe er keine Renteneinkünfte gehabt. Nach dem Wortlaut der Tarifnorm komme es darauf an, ob nach der Inanspruchnahme der Altersteilzeit eine Rentenkürzung zu erwarten sei. Da im Zeitpunkt des Abschlusses des Altersteilzeitarbeitsvertrages eine Rentenkürzung zu erwarten gewesen sei, stehe ihm der Abfindungsbetrag zu.
Nachdem eine gütliche Einigung der Parteien im Gütetermin gescheitert war, machte der Kläger mit Klageerweiterung vom 18. September 2015 den vollen Abfindungsbetrag von 5.260,20 EUR geltend.
Der Kläger beantragte:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 5.260,20 EUR brutto nebst 5 % Zinsen aus 2.687,14 EUR seit dem 27. März 2015 und weiteren 2.573,06 EUR ab Rechtshängigkeit der Klageerweiterung zu bezahlen.
Die Beklagte beantragte,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
Sie trug vor, der Kläger habe keine vorzeitige Rente in Anspruch genommen. Die Tarifnorm ziele ganz offensichtlich auf eine völlig andere Konstellation, nämlich diejenige, die vor Einführung der „Rente mit 63“ gegeben war. Nachdem der Kläger aber die vom Gesetzgeber neu geschaffene Rente genutzt habe, sei der Anwendungsbereich der Tarifnorm nicht gegeben. Die Tarifnorm verfolge die Absicht, zukünftige dauerhafte Abschläge im Rentenbezug auszugleichen. Hierbei genüge allein die Aussicht auf eine Rentenkürzung nicht. Diese müsse tatsächlich eintreten. Im vorliegenden Fall habe es keine Rentenkürzung gegeben. Ein Schaden sei dem Kläger infolge des Verzichts auf eine Rente für den Monat Juni 2014 entstanden.
Mit Urteil vom 10. November 2015 wies das Arbeitsgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Auslegung des § 5 Abs. 7 TV ATZ ergebe, dass tatsächlich eine Rentenkürzung eingetreten sein müsse. Außerdem müsse die abschlagsgeminderte Rente unmittelbar an die Altersteilzeit anschließen. Zwar könne der Wortlaut der Tarifnorm die Auslegung des Klägers bestätigen. Allerdings sehe die Vorschrift auch vor, dass die Abfindung am Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses gezahlt werde. Dies spreche dagegen, eine auf den Vertragsschluss bezogene Prognose zugrunde zulegen. Nach dem maßgebenden Sinn und Zweck der Tarifregelung hätten die Tarifvertragsparteien eine Kompensationsregelung schaffen wollen. Die Kompensation beziehe sich auf den tatsächlichen Verlust beim Bezug von Altersruhegeld durch eine Abfindungszahlung. Eine Überkompensation des Arbeitnehmers hätten die Tarifvertragsparteien hingegen nicht bezweckt. Da es somit auf die tatsächliche Inanspruchnahme einer geminderten Rente ankomme, verlange § 5 Abs. 7 TV ATZ zudem, dass sich die geminderte Rente unmittelbar an die Altersteilzeit anschließe. Eine planwidrige Regelungslücke liege nicht vor. Für einen Ausgleich des Einkommensausfalls im Juni 2014 gebe es keine Anspruchsgrundlage. Der Kläger habe die Möglichkeit gehabt, ab dem 1. Juni 2014 eine abschlagsgeminderte Rente zu beantragen. Der Umstand, dass er erst ab dem 1. Juli 2014 die abschlagsfreie Rente beantragt habe, beruhe auf seiner freien Entscheidung.
Gegen das ihm am 9. Dezember 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. Januar 2016 Berufung eingelegt und diese am 8. Februar 2016 begründet. Er trägt vor, die vom Arbeitsgericht angeführte Unsicherheit im Wortlaut liege nicht vor. Er habe bei Abschluss des Altersteilzeitarbeitsvertrags eine Rentenkürzung bei vorzeitiger Inanspruchnahme zu erwarten gehabt. Die tarifvertragliche Regelung lasse eine andere Auslegung nicht zu, auch wenn sie als Überkompensation empfunden werden könne. Den Tarifvertragsparteien habe es freigestanden, für eine entsprechende Klarstellung zu sorgen. Eine Entscheidung der Tarifvertragsparteien könne nicht durch die Gerichte ersetzt werden.
Der Kläger beantragt:
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 10. November 2015 - 5 Ca 73/15 - wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 5.260,20 EUR brutto nebst 5 % Zinsen aus 2.687,14 EUR seit dem 27. März 2015 und weiteren 2.573,06 EUR ab Rechtshängigkeit der Klageerweiterung zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
Sie trägt vor, § 5 Abs. 7 TV ATZ setze voraus, dass tatsächlich eine Rentenkürzung erfolge. Es sei aber unstreitig, dass eine solche nicht vorliege, weil der Kläger eine ungekürzte Altersrente erhalte. Zutreffend weise das Arbeitsgericht auch darauf hin, dass sich die anspruchsgeminderte Rente unmittelbar an die Altersteilzeit anschließen müsse. Dies ergebe sich aus der Formulierung „nach Inanspruchnahme der Altersteilzeit“.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle über die mündlichen Verhandlungen verwiesen.
Aus den Gründen
I. Die Berufung des Klägers ist gemäß § 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG statthaft. Sie ist auch gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden.
II. Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung der in § 5 Abs. 7 TV ATZ geregelten Abfindung zusteht.
1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand aufgrund des Arbeitsvertrags vom 26. Juni 2000 der BAT/VKA und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge Anwendung. Damit galt für das Arbeitsverhältnis auch der Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeitarbeit vom 5. September 1998. Dieser Tarifvertrag enthält in § 5 Abs. 7 folgende Regelung:
„Arbeitnehmer, die nach Inanspruchnahme der Altersteilzeit eine Rentenkürzung wegen einer vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente zu erwarten haben, erhalten für je 0,3 v.H. Rentenminderung eine Abfindung in Höhe von 5 v.H. der Vergütung ..., die bzw. der dem Arbeitnehmer im letzten Monat vor dem Ende des Altersteilzeitverhältnisses zugestanden hätte, wenn er mit der bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit (§ 3 Abs. 1 Unterabs. 2) beschäftigt gewesen wäre. Die Abfindung wird zum Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses gezahlt.“
2. Bei der Auslegung dieser Tarifnorm ist das Arbeitsgericht zutreffend von den Grundsätzen ausgegangen, die das Bundesarbeitsgericht für die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags entwickelt hat. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., zuletzt BAG 13. Januar 2016 - 10 AZR 42/15 - mwN).
3. Bei Anwendung dieser Auslegungsgrundsätze ergibt sich im Streitfall aus § 5 Abs. 7 TV ATZ kein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Abfindung wegen Rentenkürzung.
a) Nach Auffassung der Kammer spricht bereits der Wortlaut der Tarifnorm mit der erforderlichen Eindeutigkeit gegen die Auslegung des Klägers, für die Zahlung der Abfindung komme es darauf an, dass im Zeitpunkt des Abschlusses der Altersteilzeitvereinbarung eine Rentenkürzung zu erwarten gewesen sei.
aa) Mit der Formulierung „eine Rentenkürzung wegen einer vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente zu erwarten haben“ wollten die Tarifvertragsparteien offensichtlich auf die rentenrechtliche Rechtslage Bezug nehmen, wonach verschiedene Altersrenten zwar vorzeitig in Anspruch genommen werden können, die vorzeitige Inanspruchnahme aber mit einer Rentenkürzung in Höhe von 0,3 % für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme verbunden ist (§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a SGB VI).
So verhielt es sich auch im Falle des Klägers. Dieser konnte aufgrund seines Geburtsjahrs 1951 noch eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit in Anspruch nehmen (§ 237 Abs. 1 SGB VI). Die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Altersrente war nach § 237 Abs. 3 Satz 2 SGB VI möglich; die Anhebung der Altersgrenze und die vorzeitige Inanspruchnahme bestimmten sich nach der Anlage 19. Hiernach konnte der Kläger diese Altersrente mit Vollendung des 63. Lebensjahrs beziehen, musste aber Rentenabschläge in Höhe von 7,2 % hinnehmen.
bb) Diese Rechtslage änderte sich, als der Gesetzgeber mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 23. Juni 2014 (BGBl. I S. 787) die Altersrente für besonders langjährig Versicherte („Rente mit 63“) einführte. Nach § 236 b Abs. 2 SGB VI konnte der Kläger diese Altersrente abschlagsfrei mit Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch nehmen.
In der Erwartung, dass er ab dem 1. Juli 2014 eine abschlagsfreie Rente mit 63 beziehen könne, hatte der Kläger seinen Rentenantrag erst kurz vor Ende seines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses am 21. Mai 2014 gestellt. Die Bundesregierung hatte den Gesetzentwurf über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung am 25. März 2014 in den Deutschen Bundestag eingebracht (BT-Drucks. 18/909). Darin war ein Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juli 2014 vorgesehen. Exakt am 21. Mai 2014 hatte der Ausschuss für Arbeit und Soziales seine Beschlussempfehlung und seinen Bericht abgegeben (BT-Drs. 18/1489). Da der Ausschuss keine Änderung des Datums über das Inkrafttreten beschlossen hatte, war nunmehr mit hoher Sicherheit davon auszugehen, dass das Gesetz am 1. Juli 2014 in Kraft treten werde.
cc) Bei dieser Sachlage legt bereits der Wortlaut der Tarifnorm nahe, dass die Formulierung „zu erwarten haben“ auf den sicheren Eintritt der Rentenkürzung abstellt (so auch LAG Niedersachsen 6. August 2008 - 2 Sa 1738/07 - Rn 40). Die Tarifnorm enthält zwar eine zukunftsbezogene Formulierung (anders im Entscheidungsfall des LAG Schleswig-Holstein vom 19. Mai 2015 - 1 Sa 370 b/14, in dem es um die Auslegung der Formulierung „einen Rentenabschlag in Kauf nehmen müssen“ ging). Sie gibt aber nichts dafür her, dass auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses abgestellt werden müsse. Ein solcher zeitlicher Bezugspunkt könnte auch schwerwiegende Nachteile für die Arbeitnehmer zur Folge haben. Würde etwa der Gesetzgeber einen Rentenabschlag für eine bestimmte Rentenart erst nach Abschluss des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses einführen, so könnte der betreffende Arbeitnehmer die tarifliche Abfindung nicht erhalten, obwohl er im Zeitpunkt der Stellung des Rentenantrags eine Rentenkürzung zu erwarten hätte. Bereits der Wortlaut der Tarifnorm legt somit deutlich nahe, dass es für die zu erwartende Rentenkürzung auf die Sachlage bei Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses ankommt.
b) Dieses Auslegungsergebnis wird, wie das Arbeitsgericht zutreffend hervorgehoben hat, durch die Regelung des § 5 Abs. 7 Satz 2 TV ATZ über die Fälligkeit der Abfindung ein Stück weit bekräftigt, auch wenn die Regelung in ihrer Aussagekraft nicht überbewertet werden darf. Nach der genannten Vorschrift wird die Abfindung zum Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses gezahlt. Auch diese Regelung spricht dafür, dass die Tarifvertragsparteien auf die Sachlage am Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses abstellen wollten.
c) Vollends bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis durch den Sinn und Zweck der Tarifnorm.
aa) Die Vorschrift hat den Zweck, den Arbeitnehmern bei einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente eine gewisse Kompensation für die eintretende Rentenkürzung zu gewähren (LAG Niedersachsen aaO Rn 40; LAG Schleswig-Holstein aaO Rn 69). Hierdurch sollte ein zusätzlicher Anreiz für die Vereinbarung von Altersteilzeit geschaffen werden (Uttlinger/Breier BAT Teil E 5 Anm. 5.6.7). Die Abfindung soll dazu dienen, die Rentenkürzung in einem gewissen Umfang auszugleichen. Dieser Zusammenhang wird daraus deutlich, dass die Abfindungshöhe exakt mit dem Ausmaß der Rentenkürzung verknüpft wird, der Arbeitnehmer also für je 0,3 % an Rentenminderung eine Abfindung in Höhe von 5 % der Vergütung erhält.
Aus diesem Sinn und Zweck der Regelung folgt, dass solche Arbeitnehmer, die aus welchen Gründen auch immer keine Rentenkürzung hinnehmen müssen, keine Abfindung beanspruchen können. Der Grund für das Ausbleiben der Kürzung kann sein, dass der Arbeitnehmer überhaupt keine Rente beantragt, sondern weiterarbeitet (so im Fall des LAG Niedersachsen) oder aber aufgrund einer Rechtsänderung eine ungekürzte Rente in Anspruch nehmen kann (so im vorliegenden Fall und im Fall des LAG Schleswig-Holstein).
bb) Zutreffend hat das Arbeitsgericht in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der „Schaden“ des Klägers nicht durch eine Rentenkürzung, sondern durch eine autonom getroffene, wirtschaftlich sinnvolle Entscheidung hervorgerufen wurde. Als der Kläger im Frühjahr 2014 vor der Entscheidung stand, einen Rentenantrag zu stellen, hatte er folgende Wahl: Entweder beantragte er wie ursprünglich beabsichtigt, eine Altersrente nach Altersteilzeitarbeit zum 1. Juni 2014, also im unmittelbaren Anschluss an sein Altersteilzeitarbeitsverhältnis, oder er wartete ab und beantragte die Rente für besonders langjährig Versicherte ab dem 1. Juli 2014.
Die Entscheidung des Klägers, die zweitgenannte Rentenart zu beantragen, war wirtschaftlich sinnvoll. Hätte der Kläger die Altersrente nach Altersteilzeitarbeit ab dem 1. Juni 2014 beantragt, so hätte diese Rente nach ihrer Bewilligung nicht mehr in eine „Rente mit 63“ umgewandelt werden können. Denn nach § 34 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI ist nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters der Wechsel in eine andere Rente wegen Alters ausgeschlossen. Gegen diese Bestimmung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (LSG Baden-Württemberg 21. Mai 2015 - L 7 R 5354/14; LSG Rheinland-Pfalz 12. August 2015 - L 6 R 114/15).
Um im Monat Juni 2014 nicht ohne Einkommen zu sein, wäre dem Kläger lediglich die Möglichkeit geblieben, die Beklagte um eine Verlängerung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses zu bitten. Von dieser Möglichkeit wollte er aber nach den Erörterungen in der Berufungsverhandlung keinen Gebrauch machen. Der dem Kläger eingetretene „Schaden“ ist somit durch einen Geschehensablauf ausgelöst worden, der nicht vom Regelungswillen der Tarifvertragsparteien umfasst war. Die Tarifvertragsparteien wollten zu einem gewissen Umfang die Minderung der Altersversorgung ausgleichen. Der dem Kläger eingetretene „Schaden“ liegt auf einer anderen Ebene.
d) Wie das Arbeitsgericht schließlich zutreffend ausgeführt hat, liegt eine planwidrige Regelungslücke nicht vor. Der Einkommensverlust des Klägers im Monat Juni 2014 ist nicht dadurch eingetreten, dass die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Fallgestaltung unbewusst nicht in ihre Überlegungen einbezogen haben. Der Einkommensverlust ist vielmehr dadurch hervorgerufen worden, dass der Gesetzgeber die „Rente mit 63“ nach einem Stichtagsprinzip eingeführt hat. Die vor dem 1. Januar 1953 geborenen Versicherten konnten diese Rentenart nach Vollendung des 63. Lebensjahres bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen beziehen, allerdings erst ab dem 1. Juli 2014 und ohne die Möglichkeit eines Wechsels zwischen den Rentenarten. Von dem Stichtagsprinzip machte der Gesetzgeber im Hinblick auf die Sicherstellung der Finanzierbarkeit und der Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung Gebrauch (LSG Baden-Württemberg aaO Rn 25). Eine nachträgliche Umwandlung einer bereits bewilligten Rente in eine „Rente mit 63“ schloss er ersichtlich deswegen aus, um den Kreis der Bezieher nicht übermäßig auszuweiten. Nicht aufgrund einer tariflichen Regelungslücke, sondern aufgrund der geschilderten Rechtslage musste der Kläger im Monat Juni 2014 einen Einkommensverlust hinnehmen.
III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu tragen. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG lagen nicht vor. Nach Auffassung der Kammer ist die Auslegung der hiesigen Tarifnorm eindeutig. Eine höchstrichterlich zu klärende Rechtsfrage liegt somit nicht vor.