BAG: Wartezeitkündigung - Anwendbarkeit des AGG - Behinderungsbegriff des AGG - HIV-Infektion als Behinderung
Das BAG hat mit Urteil vom 19.12.2013 - 6 AZR 190/12 - entschieden: § 2 Abs. 4 AGG regelt für Kündigungen nur das Verhältnis zwischen dem Allge-meinen Gleichbehandlungsgesetz und dem Kündigungsschutzgesetz sowie den speziell auf Kündigungen zugeschnittenen Bestimmungen. Die zivilrechtlichen Generalklauseln werden dagegen von § 2 Abs. 4 AGG nicht erfasst. Ordentliche Kündigungen während der Wartezeit und in Kleinbetrieben sind deshalb unmittelbar am Maßstab des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zu messen. Das ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte und dem Zweck des § 2 Abs. 4 AGG. Der Wortlaut der Bestimmung steht dem nicht entgegen. Diese Auslegung führt nicht dazu, dass Kündigungen außerhalb des Geltungsbe-reichs des Kündigungsschutzgesetzes insbesondere wegen der möglichen Entschä-digung nach § 15 Abs. 2 AGG stärker sanktioniert würden als Kündigungen, für die das Kündigungsschutzgesetz gilt. Auch bei Kündigungen, die dem Kündigungs-schutzgesetz unterfallen, scheidet eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nicht aus. Die regelmäßig vorliegende Persönlichkeitsrechtsverletzung soll als solche unabhängig von der Frage sanktioniert werden, ob nach einer unwirksamen Kündi-gung das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Der Behindertenbegriff des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist maßgeb-lich, soweit das nationale Recht von einem weiteren Behindertenbegriff als das supranationale Recht ausgeht. Im Übrigen ist der Behindertenbegriff des Unions-rechts zugrunde zu legen. Eine Behinderung im Sinne des § 1 AGG liegt danach vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit eines Menschen langfristig eingeschränkt ist und dadurch - in Wechselwirkung mit verschiedenen sozialen Kontextfaktoren (Barrieren) - seine Teilhabe an der Gesellschaft, wozu auch die Teilhabe am Berufsleben gehört, substantiell beeinträchtigt sein kann. Auf einen bestimmten GdB kommt es nicht an. Dabei ist allerdings zu beachten, dass das Verständnis von Behinderung nicht statisch ist. Bei Anwendung dieses Behindertenbegriffs ist eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung. Eine solche Infektion führt zu einer chronischen Erkrankung, die sich auf die Teilhabe des Arbeitnehmers an der Gesellschaft auswirkt. Das gilt so lange, wie das gegenwärtig auf eine solche Infektion zurückzuführende soziale Vermeidungsverhalten und die darauf beruhenden Stigmatisierungen andauern. Für Behinderte, die einen GdB von weniger als 50 aufweisen, ist Art. 5 RL 2000/78/EG, demzufolge der Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen zu ergreifen hat, um Behinderten ua. die Ausübung eines Berufs zu ermöglichen, sofern diese Maßnahmen ihn nicht unverhältnismäßig belasten, nicht in nationales Recht umge-setzt worden. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat jedoch zwischenzeitlich ausgeführt, dass und wie Art. 5 RL 2000/78/EG unter Beachtung und in Überein-stimmung mit der UN-BRK auszulegen ist. Im Hinblick darauf ist Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK weder unmittelbar anzuwenden noch sind die Bestimmungen des AGG völkerrechtskonform auszulegen. Die Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen ergibt sich vielmehr bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 241 Abs. 2 BGB aus dieser Bestimmung. Eine Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers wegen fehlender Einsatzmög-lichkeiten ist nur wirksam, wenn der Arbeitgeber nicht imstande ist, das infolge der Behinderung vorliegende Beschäftigungshindernis durch angemessene Vorkehrun-gen zu beseitigen. Dies hat der Arbeitgeber darzulegen. Die Aufzählung möglicher Vorkehrungen im 20. Erwägungsgrund der RL 2000/78/EG ist nicht abschließend. Ob solche Vorkehrungen den jeweiligen Arbeit-geber im Einzelfall unverhältnismäßig belasten, hat das zuständige nationale Gericht festzustellen, wobei es insbesondere den damit verbundenen finanziellen und sons-tigen Aufwand unter Berücksichtigung der Größe und der Finanzkraft des Arbeitge-bers sowie der Möglichkeit, öffentliche Mittel und andere Unterstützungen in An-spruch zu nehmen, in die Abwägung einzubeziehen hat. Das Allgemeine Gleichbe-handlungsgesetz verlangt nicht, dass die Einstellung und Beschäftigung eines Behinderten für den Arbeitgeber zum „Zuschussgeschäft“ wird. Dies gilt besonders in der Wartezeit.