BAG: Unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters - altersabhängige Herabsetzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ohne Herabsetzung des Arbeitsentgelts - Gesamtbetriebsvereinbarung - Auslegung - Vergütung einer Teilzeitkraft - Diskriminierungsverbot
Das BAG hat mit Urteil vom 22.10.2015 – 8 AZR 168/14 – wie folgt entschieden:
1. Nach § 9 Abs. 1 AAB beträgt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten ausschließlich der Pausen bis zum vollendeten 40. Lebensjahr 38 Stunden, ab dem vollendeten 40. Lebensjahr 36,5 Stunden und ab dem vollendeten 50. Lebensjahr 35 Stunden. Da die in § 9 Abs. 1 AAB vorgesehene, an das Lebensalter anknüpfende Herabsetzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden auf 36,5 bzw. 35 Stunden unter (Fort)Zahlung des Entgelts erfolgt, das bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden geschuldet ist, wirkt sich die Herabsetzung der Arbeitszeit unmittelbar auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung aus. Die Regelung bewirkt eine Erhöhung des Arbeitsentgelts pro Arbeitsstunde für die Vollzeitbeschäftigten, die das 40. bzw. das 50. Lebensjahr vollendet haben.
2. Die in § 9 Abs. 1 AAB bestimmte Staffelung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit nach dem Lebensalter benachteiligt die jüngeren Beschäftigten gegenüber den älteren Beschäftigten entgegen §§ 1, 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1 AGG unmittelbar wegen des Alters. Sie ist nicht nach § 10 AGG gerechtfertigt.
3. Derjenige, der sich auf die Zulässigkeit einer unterschiedlichen Behandlung wegen des Alters nach § 10 AGG beruft, trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass mit der Ungleichbehandlung ein legitimes Ziel iSv. § 10 Satz 1 AGG angestrebt wird und dass die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind iSv. § 10 Satz 2 AGG. Um darzutun, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters nach § 10 AGG gerechtfertigt ist, reicht es nicht aus, wenn der Arbeitgeber allgemein behauptet, dass die die unterschiedliche Behandlung bewirkende Maßnahme oder Regelung geeignet sei, der Beschäftigungspolitik, dem Arbeitsmarkt und/oder der beruflichen Bildung zu dienen. Derartige allgemeine Behauptungen lassen nämlich nicht den Schluss zu, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Der Arbeitgeber hat hierzu vielmehr substantiierten Sachvortrag zu leisten.
4. Da der Grundsatz der Gleichbehandlung bei Bestehen einer diskriminierenden Regelung - solange keine Regelungen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erfolgen - nur dadurch gewährleistet werden kann, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der privilegierten Gruppe, können die vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer/innen der Beklagten, die das 40., aber noch nicht das 50. Lebensjahr vollendet haben, dieselben Vorteile beanspruchen, wie die Vollzeitbeschäftigten, die das 50. Lebensjahr bereits vollendet haben und deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nach der letzten Stufe der Regelung in § 9 Abs. 1 AAB 35 Stunden beträgt.
5. Die einem vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer der Beklagten, der bereits das 40., jedoch noch nicht das 50. Lebensjahr vollendet hat, zustehende Anpassung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit „nach unten“ auf 35 Stunden unter (Fort)Zahlung der bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden geschuldeten Vergütung ist für Teilzeitbeschäftigte, mit denen eine Teilzeitquote vereinbart ist, entsprechend ihrer Teilzeitquote umzusetzen. Dies folgt aus § 1 Abs. 2 AAB, wonach die Regeln der AAB für Teilzeitbeschäftigte „wie für Vollzeitbeschäftigte“, mithin entsprechend gelten.
6. Hingegen ist § 9 Abs. 1 AAB, der ausschließlich eine Herabsetzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit vorsieht, auf Teilzeitbeschäftigte, mit denen - wie mit der Klägerin - eine feste wöchentliche Stundenzahl vereinbart ist, nicht entsprechend anwendbar. Diesen Teilzeitbeschäftigten räumt die Beklagte vielmehr eine Wahlmöglichkeit ein: Sie können sich zwischen einer anteiligen Reduzierung ihrer Arbeitszeit unter Beibehaltung des bisherigen Monatsentgelts und einer - in § 9 Abs. 1 AAB nicht vorgesehenen - anteiligen Erhöhung ihres Monatsentgelts unter Beibehaltung der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit entscheiden.
7. Für Teilzeitbeschäftigte, mit denen - wie mit der Klägerin - eine feste wöchentliche Arbeitszeit vereinbart ist, die sich - wie die Klägerin - für eine anteilige Erhöhung ihres Monatsentgelts unter Beibehaltung der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit entschieden und die bereits das 40., jedoch noch nicht das 50. Lebensjahr vollendet haben, ist der Anspruch auf diskriminierungsfreie Behandlung nach dem pro-rata-temporis-Grundsatz des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG umzusetzen. Danach besteht ein Anspruch auf Zahlung eines entsprechend höheren monatlichen Arbeitsentgelts (pro-rata-temporis-Grundsatz) aus § 4 Abs. 1 TzBfG iVm. §§ 1, 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1 und Abs. 2 AGG, § 9 Abs. 1 AAB.
8. Für den auf § 4 Abs. 1 TzBfG gestützten Anspruch reicht es aus, dass vergleichbare Vollzeitbeschäftigte Anspruch auf eine diskriminierungsfreie Behandlung haben, selbst wenn dieser Anspruch noch nicht geltend gemacht wurde.
9. Der Anspruch auf diskriminierungsfreie Behandlung nach der letzten Stufe der Regelung in § 9 Abs. 1 AAB muss nicht im Rahmen der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG geltend gemacht werden. Diese Bestimmung findet bereits nach ihrem Wortlaut nur auf Ansprüche nach § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG, dh. nur auf Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche Anwendung. Bei dem Anspruch auf diskriminierungsfreie Behandlung auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 TzBfG und von § 9 Abs. 1 AAB handelt es sich um einen Anspruch auf „Anpassung nach oben“, nicht um einen Schadensersatzanspruch.