BAG: Ordentliche Kündigung - Kirchliches Arbeitsrecht - Ungleichbehandlung wegen der Religion - Vorrang von Unionsrecht
Das BAG hat mit Urteil vom 20.2.2019 – 2 AZR 746/14 – wie folgt entschieden:
1. § 9 Abs. 2 AGG ist aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG dahin auszulegen, dass eine der Kirche zugeordnete Einrichtung nicht das Recht hat, bei einem Verlangen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses Beschäftigte in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedlich zu behandeln, wenn nicht die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung
eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Einrichtung wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Frage, ob diese Kriterien erfüllt sind, unterliegt einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle (Rn. 17).
2. Dies setzt einen - objektiv bestehenden - direkten Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit voraus. Ein solcher Zusammenhang kann sich entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben - zB wenn sie mit der Mitwirkung an der Bestimmung des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation oder einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden ist - oder aus den Umständen ihrer Ausübung, zB der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen (Rn. 32).
3. Nationales Verfassungsrecht steht der unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG nicht entgegen. In seinem Anwendungsbereich geht das Unionsrecht entgegenstehendem nationalen Recht, auch nationalen Verfassungsrecht, vor (Rn. 47).
4. Das hier maßgebliche Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist nicht seinerseits in Deutschland unanwendbar. Es beruht weder auf einem Akt ultra vires noch berührt es die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ob diese mit dem Verständnis des Gerichtshofs vom Vorrang des Unionsrechts im Einklang steht, bedurfte ebenso wenig einer Entscheidung wie die Frage, wie ein Konflikt zwischen dem Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht bei unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf die Gültigkeit von Unionsrecht aufzulösen wäre (Rn. 48).
5. Die Entscheidung des Gerichtshofs der europäischen Union vom 11. September 2018 (- C-68/17 -) wirkt sich zwar auf das Verhältnis der Kirchen und der ihnen zugeordneten Einrichtungen zu den dort beschäftigten Arbeitnehmern aus. Sie knüpft die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen der Religion an tätigkeitsbezogene Voraussetzungen. Nach deutschem Verfassungsverständnis gehört es dagegen zum garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, den Religionsgemeinschaften auch insoweit ein der Kontrolle durch staatliche Gerichte weitgehend entzogenes Recht zuzugestehen, verbindlich selbst unterschiedliche Loyalitätsanforderungen abhängig allein von der Konfessionszugehörigkeit der Beschäftigten zu stellen.
Bei den inhaltlichen Anforderungen an Loyalitätspflichten für Arbeitnehmer, die in einer der Kirchen oder der ihnen zugeordneten Einrichtungen beschäftigt werden, und dem dafür geltenden gerichtlichen Prüfungsmaßstab, handelt es sich aber nicht um einen unverzichtbaren Teil der deutschen Verfassungsidentität, der einer Ausgestaltung durch Unionsrecht vollständig entzogen wäre (Rn. 70).
6. Auch das Unionsrecht erkennt das Recht auf Autonomie der Kirchen an. Die Vorgaben des Gerichtshofs in der Entscheidung vom 11. September 2018 (- C-68/17 -) sind zudem nur dann von Relevanz, wenn eine der Kirche zugeordnete Einrichtung unterschiedliche Loyalitätsanforderungen an Arbeitnehmer mit vergleichbaren (Leitungs-)Tätigkeiten allein aufgrund ihrer Konfession stellt. Die Bundesrepublik Deutschland verfügt in Fragen des Umgangs mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis bzw. mit religiösen Gemeinschaften weiterhin über ausreichenden Raum zur politischen Gestaltung dieses Lebensbereichs, weil die Kirchen bzw. die ihnen zugeordneten Einrichtungen auch nach Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen der Religion gegenüber anderen privaten oder öffentlichen Arbeitgebern privilegiert sind. Jenseits des Bereichs konfligierenden Diskriminierungsschutzes verbleibt den Religionsgemeinschaften auch unionsrechtlich uneingeschränkt das Recht auf Selbstbestimmung und auf Achtung des Status, den sie in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen (Rn. 70).
7. Die Legitimität des Ethos der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaft haben die staatlichen Gerichte grundsätzlich auch nach Unionsrecht nicht zu beurteilen. Es trifft daher nicht zu, dass eine Beurteilung des jeweiligen Ethos anhand weltlicher Maßstäbe zu erfolgen hätte bzw. staatliche Gerichte das kirchliche Ethos zu beurteilen hätten. Es bleibt vielmehr die alleinige Angelegenheit der jeweiligen Religionsgesellschaft festzulegen, wie die jeweilige Glaubenslehre zu interpretieren ist und welcher Angebote und Dienste es zur Verwirklichung dieser Glaubenslehre bedarf sowie in welcher Organisationsform die konkrete Umsetzung erfolgt. Bedienen sich kirchliche Einrichtungen - wie insbesondere in Diakonie und Caritas - für die Ausgestaltung ihrer Beschäftigungsverhältnisse des staatlichen Rechts, führt dies auch unionsrechtlich nicht zwingend zu einer Nichtanwendbarkeit der Grundsätze des kirchlichen Arbeitsrechts. Es hat lediglich ein Ausgleich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts mit dem Recht der Arbeitnehmer stattzufinden, vor Diskriminierung geschützt zu werden (Rn. 76).