BAG: Betriebs(teil)übergang i. S. d. RL 2001/23/EG …
… und damit i. S v. § 613a BGB – Massenentlassungsanzeige i. S. d. RL 98/59/EG und damit i. S. v. § 17 Abs. 1 KSchG – Begriff „Betrieb“ i. S. d. RL 98/59/EG – wirtschaftliche Einheit i. S. d. Richtlinie 2001/23/EG – Dienstleistungsauftrag im Luftverkehrssektor – funktionelle Selbständigkeit – sog. „bloße“ Funktions- bzw. Auftragsnachfolge – Darlegungs- und Beweislast – Betriebsteilübergang und Sozialauswahl
Das BAG hat mit Urteil vom 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – wie folgt entschieden:
1. Im Luftverkehrssektor ist bei der Beurteilung der Frage, ob ein Betriebs(teil)- übergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit iSv. § 613a BGB stattgefunden hat, der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium anzusehen. Dabei ist das Eintreten in Leasingverträge über Flugzeuge und deren tatsächliche Nutzung von besonderer Bedeutung. Erhebliches Gewicht hat zudem die etwaige Übernahme weiterer Ausrüstungsgegenstände, der etwaige Eintritt in bestehende Charterflugverträge, die etwaige Ausweitung von Flügen auf Routen, die zuvor von dem bisherigen Inhaber der Leasingverträge bedient wurden, die etwaige Reintegration von Beschäftigten und deren Einsatz für Tätigkeiten, die mit ihren bisherigen Aufgaben übereinstimmen (Rn. 86).
2. Welche Bedeutung im Bereich des Luftverkehrs der Frage der Zuordnung von Personal zu einer Einheit zukommt, ist eine in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ungeklärte Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG (Art. 267 AEUV). Nicht geklärt ist dabei insbesondere, ob grundsätzlich „bestimmtes“ Personal - formell oder tatsächlich - zugeordnet (gewesen) sein muss, um eine wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit auch iSv. § 613a BGB annehmen zu können, oder ob auch der Einsatz wechselnden bzw. rotierenden Personals - ggf. aus einem Personalpool - ausreichen kann. Soweit auch bei wechselndem bzw. rotierendem Personal eine wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG gegeben sein kann, ist zudem ungeklärt, welche Arbeitsverhältnisse unter solchen Umständen grundsätzlich von einem etwaigen Betriebs(teil)übergang erfasst sind (Rn. 101 ff., Rn. 153 ff. sowie Rn. 156 ff.).
3. Die Identität einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG (und damit auch iSv. § 613a BGB) setzt unter anderen Merkmalen eine funktionelle Selbständigkeit voraus. Dabei ist es nicht erforderlich, dass es sich um eine völlige Selbständigkeit handelt. Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2001/23/EG geht nämlich ausdrücklich hervor, dass diese nicht nur für den Übergang von Unternehmen und Betrieben, sondern auch dann gilt, wenn ein Teil eines Unternehmens oder Betriebs übertragen wird. Deshalb ist anzunehmen, dass eine umfassende Personalkompetenz der Führungskräfte nicht vorausgesetzt ist, insbesondere keine disziplinarische, die idR konzentriert in der Personalabteilung - soweit vorhanden - liegt (Rn. 82 f., Rn. 121).
4. Wechselt bei der Erbringung von Dienstleistungen die die Tätigkeit ausführende Person, setzt eine Bewertung als Fortführung der „bloßen“ Tätigkeit durch einen anderen (sog. - bloße - Funktionsnachfolge bzw. Auftragsnachfolge) voraus, dass (nur) die „bloße“ Tätigkeit übernommen worden ist. Soweit nicht allein der Auftrag zur Ausführung der Tätigkeit übernommen wird, sondern auch andere Faktoren - etwa materielle Betriebsmittel oder immaterielle Aktiva - kommt das Prüfprogramm des § 613a BGB (und damit das der Richtlinie 2001/23/EG) zur Anwendung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwieweit Arbeitnehmer für Tätigkeiten eingesetzt werden, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, und zwar unabhängig von der etwaigen rechtlichen Gestaltung. Auch in der einseitigen Entscheidung des bisherigen Dienstleisters, die Arbeitsverträge des Personals zu kündigen, gefolgt von einer einseitigen Entscheidung des Übernehmers des Auftrags, im Wesentlichen dasselbe Personal zur Erfüllung derselben Aufgaben einzustellen, kann eine „Übernahme“ von Personal iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit auch iSv. § 613a BGB liegen (Rn. 140, Rn. 143, Rn. 148).
5. Angesichts der zwingenden Regelungen der Richtlinie 2001/23/EG, von denen nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers abgewichen werden darf, sowie angesichts der zwingenden Vorschriften der Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer gegen eine wegen des Übergangs erfolgte Kündigung im Besonderen und angesichts der Verpflichtung, die praktische Wirksamkeit der Regeln zum Kündigungsverbot des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG zu gewährleisten, ist es nicht sicher, ob und ggf. inwieweit es unionsrechtskonform ist, mit der früheren Rechtsprechung ua. des erkennenden Senats anzunehmen, bei einer gegen den bisherigen Arbeitgeber oder den (vermeintlichen) neuen Inhaber gerichteten Feststellungsklage obliege die Darlegungs- und Beweislast dem Arbeitnehmer, soweit die Unwirksamkeit der Kündigung allein davon abhänge, ob das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB eingreift bzw. dass der Arbeitnehmer die für die Wahrung der Identität einer wirtschaftlichen Einheit relevanten Umstände im Einzelnen vortragen und unter Beweis stellen müsse (Rn. 168).
6. Es spricht manches dafür, dass die Rechtsprechung des erkennenden Senats, wonach im Fall eines Übergangs eines Teils eines Unternehmens/Betriebs und der Stilllegung des Betriebs im Übrigen vor Ausspruch von Kündigungen eine Sozialauswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmern durchgeführt werden muss, nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vereinbar ist, wonach der Schutz der Richtlinie 2001/23/EG im Fall der Übertragung eines Teils des Betriebs/Unternehmens für die in diesem Betriebs-/Unternehmensteil beschäftigten Arbeitnehmer gilt und deren Arbeitsverhältnisse ohne Weiteres - von Gesetzes wegen - vom Veräußerer auf den Erwerber übergehen (Rn. 157).
7. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Richtlinie 98/59/EG (bezüglich Massenentlassungen) ist der in dieser Richtlinie nicht definierte Begriff „Betrieb“ ein unionsrechtlicher Begriff. Seine Bedeutung bestimmt sich nicht nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, sondern ist in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen (Rn. 171).
8. Eine staatliche Stelle wie die Agentur für Arbeit darf nicht das durch das Unionsrecht gewährte Schutzniveau der Richtlinie 98/59/EG unterschreiten. Eine etwa ungeachtet dessen inhaltlich unionsrechtswidrige Antwort der Agentur für Arbeit auf eine arbeitgeberseitige Anfrage führt nicht zur Gewährung von Vertrauensschutz durch ein nationales Gericht. Die zeitliche Wirkung der sich aus dem Unionsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen kann nur der Gerichtshof selbst beschränken. Die Gewährung etwaigen Vertrauensschutzes - beispielsweise in das Verständnis des Betriebsbegriffs - obliegt nicht den nationalen Gerichten, sondern allein dem Gerichtshof (Rn. 192).
(Orientierungssätze)
BGB §§ 134, 613a Abs. 1 und Abs. 4; KSchG § 1 Abs. 2 und Abs. 3, § 17 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 4, § 18 Abs. 1, §§ 20, 24; ZPO § 291; Richtlinie 2001/23/EG; Richtlinie 98/59/EG