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Arbeitsrecht
14.07.2020
Arbeitsrecht
BG: Betriebsbedingte Kündigung in der Air-Berlin-Insolvenz - Betriebsteilübergang - Massenentlassungsanzeige - Befugnisse des Schuldners in der vorläufigen Eigenverwaltung

Das BAG hat mit Urteil vom 14.5.2020 – 6 AZR 235/19 – wie folgt entschieden:

1. Die Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung nach § 270a Abs. 1 InsO bewirkt keine Unterbrechung des Verfahrens nach § 240 ZPO. Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens sind aber gegebenenfalls Fristverlängerungen zu gewähren oder Termine zu verlegen (Rn. 53 ff.).

2. Der Betriebsbegriff des § 24 Abs. 2 KSchG bezieht sich nur auf die Vorschriften des Ersten und Zweiten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes. Für den unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriff des § 613a Abs. 1 BGB ist er ohne Belang (Rn. 63).

3. Im Rahmen der Air-Berlin-Insolvenz fanden keine Betriebsteilübergänge auf andere Fluggesellschaften statt, denn bei Air Berlin waren keine Betriebsteile gebildet. Es handelte sich um einen einheitlichen Flugbetrieb, welcher zentral gesteuert wurde (Rn. 66 ff.).

4. Dies gilt auch bzgl. des sog. Wet Lease. Air Berlin stellte dabei die von ihr selbst geleasten Flugzeuge einer anderen Fluggesellschaft als weiterer Leasingnehmerin mit wechselnder Besatzung, Wartung und Versicherung zur Verfügung. Das Wet-Lease-Geschäft hatte weder eine eigene Leitung noch zugeordnetes Personal. Letzteres gilt auch bezogen auf den Zeitraum, als Air Berlin den eigenwirtschaftlichen Flugbetrieb bereits eingestellt hatte und nur noch das Wet-Lease-Geschäft betrieb. Damit wurde kein Betriebsteil geschaffen, sondern der Flugbetrieb plangemäß abgewickelt (Rn. 75 ff.).

5. Dies entspricht der Konzeption des Unionsrechts und seiner Umsetzung durch § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Richtlinie 2001/23/EG soll ebenso wie 613a Abs. 1 Satz 1 BGB die Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse gewährleisten. Mit dem Übergang einer wirtschaftlichen Einheit gehen nur die Arbeitsverhältnisse auf den neuen Arbeitgeber über, die dem „Betrieb“ oder „Betriebsteil“, dh. der übergehenden wirtschaftlichen Einheit, zugeordnet sind. Eine bisher nicht bestehende Zuordnung von Arbeitnehmern kann nicht durch eine betriebsbezogene Sozialauswahl erfolgen (Rn. 80).

6. Gab es vor einer in Etappen vollzogenen Betriebsstilllegung keine übergangsfähige Einheit, werden die in der letzten Phase der Zerschlagung des Betriebs in dem noch bestehenden „Restbetrieb“ weiter beschäftigten Arbeitnehmer durch die Fortsetzung der Abwicklung nicht erstmals einer wirtschaftlichen Einheit im Sinne des Betriebsübergangsrechts zugeordnet (Rn. 85 f.).

7. Bei vorläufiger Eigenverwaltung ist der Schuldner unter Berücksichtigung der Gläubigerinteressen berechtigt, die Stilllegung des Unternehmens zu beschließen. Wird später das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt, kann dieser sich die Stilllegungsentscheidung zu eigen machen und umsetzen (Rn. 94 ff.).

8. Die Erfüllung der Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG obliegt allein dem Arbeitgeber. Dieser hat in dem dafür vorgesehenen strukturierten Verfahren die Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 4 und Satz 5 KSchG objektiv richtig mitzuteilen. Die Meldung der Arbeitnehmer als arbeitsuchend (§ 38 SGB III) entbindet den Arbeitgeber nicht von seiner Anzeigepflicht (Rn. 133).

9. Die Darlegung des Stands der Beratungen gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG soll die Arbeitsverwaltung in die Lage versetzen, beurteilen zu können, ob die Betriebsparteien aufgrund ausreichender Informationen tatsächlich über die geplante Massenentlassung und ihre Vermeidung beraten haben. Dazu ist es nicht erforderlich, sämtliche Einzelheiten der Konsultationen zu schildern. Eine bloß formelhafte Wiedergabe des Gesetzestextes des § 17 Abs. 2 KSchG ist aber unzureichend (Rn. 136 ff.).

10. Verbindet der Arbeitgeber das Konsultationsverfahren mit den Verhandlungen über einen Interessenausgleich/Sozialplan, genügt die Darlegung des Stands der Interessenausgleichsverhandlungen dem § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nur, wenn auch die Verbindung der beiden Verfahren für die Agentur für Arbeit aus den Darlegungen des Arbeitgebers ersichtlich wird (Rn. 140 f.).

11. Im Konsultationsverfahren kommt dem Arbeitgeber eine Beurteilungskompetenz bei Beantwortung der Frage zu, wann er den Betriebsrat als ausreichend unterrichtet und seinen Beratungsanspruch als erfüllt ansieht (Rn. 143).

12. Erteilt der Arbeitgeber vom Betriebsrat nachgeforderte Auskünfte und meint der Betriebsrat dennoch, er könne wegen unzureichender Informationen nicht beraten, so ist das der vom Arbeitgeber gegenüber der Agentur für Arbeit darzulegende Stand der Beratungen. Dessen Darlegung hat auf der Grundlage des tatsächlichen Ablaufs des Konsultationsverfahrens zu erfolgen. Ob das Auskunftsverlangen des Betriebsrats gerechtfertigt war und ob dieser sich zu Recht als nicht ausreichend unterrichtet ansehen durfte oder nicht, ist im Rahmen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG irrelevant (Rn. 144 f.).

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