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Wirtschaftsrecht
30.04.2025
Wirtschaftsrecht
EuGH: Übergang eines Unternehmens im Anschluss an eine Konkurseröffnung nach Vorbereitung des Übergangs im Rahmen eines Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation

EuGH, Urteil vom 3.4.2025 – C-431/23; AE, CO, DU und andere gegen BA, EP, RI, WIBRA BELGIË SRL

ECLI:EU:C:2025:232

Volltext: BB-Online BBL2025-1025-1

Tenor

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass er auf einen Fall anwendbar ist, in dem ein Konkursverfahren im Anschluss an ein gerichtliches Reorganisationsverfahren durchgeführt wird, in dessen Verlauf eine Vereinbarung über den teilweisen Übergang des betreffenden Unternehmens ausgearbeitet, aber vom zuständigen Gericht nicht genehmigt wurde, die dann nach der Eröffnung des Konkursverfahrens umgesetzt wird, sofern das durchgeführte Konkurs- oder entsprechende Verfahren tatsächlich zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wird, sofern es unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle steht und sofern der Rückgriff auf dieses Verfahren nicht als missbräuchlich eingestuft werden kann.

 

Aus den Gründen

1            Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001, L 82, S. 16).

2            Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AE, CO, DU und 19 weiteren ehemaligen Arbeitnehmern, die von der WIBRA BELGIË SA entlassen wurden, einerseits und BA, EP und RI – in ihrer Eigenschaft als Konkursverwalter der WIBRA BELGIË SA – sowie der WIBRA BELGIË SRL andererseits wegen des Vorwurfs einer Verletzung der Pflicht zur Information und Konsultation von Arbeitnehmervertretern im Rahmen der Massenentlassung von Arbeitnehmern durch die genannten Gesellschaften.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3            Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/23 lautet:

„Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche gewährleisten.“

4            In Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„a)         Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar.

b)          Vorbehaltlich Buchstabe a) und der nachstehenden Bestimmungen dieses Artikels gilt als Übergang im Sinne dieser Richtlinie der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.

…“

5            Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.

Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Veräußerer und der Erwerber nach dem Zeitpunkt des Übergangs gesamtschuldnerisch für die Verpflichtungen haften, die vor dem Zeitpunkt des Übergangs durch einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis entstanden sind, der bzw. das zum Zeitpunkt des Übergangs bestand.“

6            Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils stellt als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Diese Bestimmung steht etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.“

7            Art. 5 der Richtlinie 2001/23 bestimmt:

„1.         Sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, gelten die Artikel 3 und 4 nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Konkursverwalter verstanden werden kann) ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde. …

4.           Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit Insolvenzverfahren nicht in missbräuchlicher Weise in Anspruch genommen werden, um den Arbeitnehmern die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte vorzuenthalten.“

 Belgisches Recht

8            Mit dem Kollektiven Arbeitsabkommen Nr. 32bis vom 7. Juni 1985 über die Aufrechterhaltung der Rechte der Arbeitnehmer bei Arbeitgeberwechsel infolge einer vertraglich geregelten Unternehmensübertragung und zur Regelung der Rechte der im Falle der Übernahme des Vermögens nach Konkurs übernommenen Arbeitnehmer wurde die Richtlinie 2001/23 in belgisches Recht umgesetzt.

9            Art. 1 dieses Kollektiven Arbeitsabkommens in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: KAA Nr. 32bis) lautet:

„Dieses Kollektive Arbeitsabkommen dient … zur Gewährleistung

1.           einerseits der Aufrechterhaltung der Rechte der Arbeitnehmer in allen Fällen eines Wechsels des Arbeitgebers infolge einer vertraglich geregelten Übertragung eines Unternehmens oder eines Unternehmensteils …;

2.           andererseits bestimmter Rechte der im Falle einer Übernahme des Vermögens nach Konkurs übernommenen Arbeitnehmer.“

10          Kapitel II des KAA Nr. 32bis umfasst die Art. 6 bis 10.

11          Nach Art. 6 Abs. 1 des KAA Nr. 32bis ist dessen Kapitel II, das die Rechte der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Arbeitgebers infolge einer vertraglich geregelten Unternehmensübertragung betrifft, „auf jeden Wechsel des Arbeitgebers infolge einer vertraglich geregelten Übertragung eines Unternehmens oder eines Unternehmensteils anwendbar, mit Ausnahme der in Kapitel III dieses Kollektiven Arbeitsabkommens genannten Fälle“.

12          Art. 7 des KAA Nr. 32bis sieht vor:

„Die Rechte und Pflichten, die sich für den Veräußerer aus den zum Zeitpunkt der Übertragung im Sinne von Art. 1 Nr. 1 bestehenden Arbeitsverträgen ergeben, gehen durch die Übertragung auf den Erwerber über.“

13          Art. 8 des KAA Nr. 32bis bestimmt:

„Der Veräußerer und der Erwerber haften gesamtschuldnerisch für die zum Zeitpunkt der Übertragung im Sinne von Art. 1 Nr. 1 vorhandenen Verbindlichkeiten, die sich aus den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Arbeitsverträgen ergeben …“

14          Art. 9 des KAA Nr. 32bis sieht vor:

„Der Wechsel des Arbeitgebers stellt als solcher für den Veräußerer oder Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar.

Arbeitnehmern, die den Arbeitgeber wechseln, kann jedoch aus wichtigem Grund oder aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, gekündigt werden.“

15          Nach Kapitel III des KAA Nr. 32bis gehen dagegen weder die Sozialschulden vom Veräußerer auf den Erwerber über, noch tritt eine gesamtschuldnerische Haftung des Erwerbers mit dem Veräußerer ein, wenn der Unternehmensübergang nach einem Konkurs erfolgt.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

16          Am 30. Juli 2020 eröffnete die Ondernemingsrechtbank Gent (Unternehmensgericht Gent, Belgien) auf Antrag der WIBRA BELGIË SA ein Verfahren der gerichtlichen Reorganisation dieser Gesellschaft, wobei ihr gemäß den für dieses Verfahren geltenden Bestimmungen des Code de droit économique (Wirtschaftsgesetzbuch) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung ein Aufschub bis zum 30. Oktober 2020 gewährt wurde. Am selben Tag benannte dieses Gericht BA, EP und RI als gerichtliche Mandatsträger und übertrug ihnen die Aufgabe, die Tätigkeiten dieser Gesellschaft zu organisieren und sie ganz oder teilweise zu übertragen.

17          Am 21. September 2020 nahmen diese drei gerichtlichen Mandatsträger das von der WIBRA BELGIË SA, vertreten durch ihre Muttergesellschaft WIBRA NEDERLAND BV, vorgelegte Übernahmeangebot an, das 36 Geschäftslokale und 183 der 439 Mitarbeiter der WIBRA BELGIË SA betraf.

18          Am 30. September 2020 wurde die WIBRA BELGIË SRL mit dem Ziel gegründet, einen Teil der vormaligen Tätigkeiten der WIBRA BELGIË SA zu übernehmen und fortzuführen.

19          Am 8. Oktober 2020 wurde der Antrag der gerichtlichen Mandatsträger auf Genehmigung des in Rn. 17 des vorliegenden Urteils erwähnten Übernahmeangebots von der Ondernemingsrechtbank Gent (Unternehmensgericht Gent) abgelehnt. Sie entschied, dass das Übernahmeangebot gegen das Kollektive Arbeitsabkommen Nr. 102 vom 5. Oktober 2011 über die Aufrechterhaltung der Rechte der Arbeitnehmer bei Arbeitgeberwechsel infolge einer gerichtlichen Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts und gegen die Richtlinie 2001/23 verstoße, soweit es vorsehe, dass die im Zusammenhang mit den Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer der WIBRA BELGIË SA, die übernommen werden sollten, bis zur Genehmigung des Angebots stehenden Verpflichtungen zur Zahlung des „Urlaubsgelds“ und des „Jahresendbonus“ an diese Arbeitnehmer zeitanteilig von der WIBRA BELGIË SA zu tragen seien.

20          Mit einer weiteren Entscheidung vom selben Tag eröffnete die Ondernemingsrechtbank Gent (Unternehmensgericht Gent) das Konkursverfahren über das Vermögen der WIBRA BELGIË SA und bestellte BA, EP und RI zu Konkursverwaltern. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Mitarbeiter dieser Gesellschaft unverzüglich über diese Entscheidung und die Entscheidung, ihren Arbeitsvertrag gegen Zahlung einer Entlassungsentschädigung aufzulösen, informiert wurden.

21          Am 9. Oktober 2020 veräußerten die Konkursverwalter einen Teil der beweglichen materiellen und immateriellen Vermögenswerte der WIBRA BELGIË SA an die WIBRA BELGIË SRL. Von den insgesamt 439 entlassenen Arbeitnehmern wurden 183 von der WIBRA BELGIË SRL wiedereingestellt. In einem Schreiben, das im Lauf des Jahres 2021 an den Beistand einiger ehemaliger Arbeitnehmer der WIBRA BELGIË SA gerichtet wurde, gaben die Konkursverwalter an, dass während des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens keinerlei Personal oder Tätigkeit übertragen worden sei.

22          Am 21. Juni 2021 erhoben die 22 Kläger des Ausgangsverfahrens, bei denen es sich um ehemalige Arbeitnehmer der WIBRA BELGIË SA handelt, die von der WIBRA BELGIË SRL nicht übernommen wurden, gegen diese beiden Gesellschaften Klage beim Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien), dem vorlegenden Gericht. Am 30. Juni 2021 beantragten 38 weitere, in der gleichen Lage befindliche Arbeitnehmer, dem Ausgangsverfahren als Streithelfer beizutreten.

23          Diese 60 Arbeitnehmer machen geltend, dass im Verfahren der gerichtlichen Reorganisation der WIBRA BELGIË SA die Verpflichtungen zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter im Fall einer Massenentlassung nicht eingehalten worden seien, was eine Vertragsverletzung darstelle, aufgrund deren ihnen ein Entschädigungsanspruch zustehe. Darüber hinaus sei die WIBRA BELGIË SRL für diese Entschädigung als Gesamtschuldnerin haftbar zu machen.

24          Das vorlegende Gericht führt aus, das belgische Recht schließe die Einhaltung der Verpflichtungen zur Information und Konsultation der Personalvertreter zwar im Fall von Massenentlassungen bei Insolvenz der betreffenden Gesellschaft ausdrücklich aus, doch sei ein solcher Ausschluss im Rahmen des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens nicht vorgesehen. Daher sei die WIBRA BELGIË SA vor der Entscheidung über den Konkurs ungeachtet des Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation verpflichtet gewesen, im Vorfeld der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Massenentlassung das Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter durchzuführen, was sie nicht getan habe. Folglich schulde die WIBRA BELGIË SA wegen Verstoßes gegen ihre Verpflichtungen in Bezug auf die Information und Konsultation vor einer Massenentlassung jedem der 60 betroffenen Arbeitnehmer Schadensersatz.

25          In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob auch die WIBRA BELGIË SRL für die Schadensersatzpflicht haftbar gemacht werden kann.

26          Es führt hierzu erstens aus, dass die WIBRA BELGIË SRL nicht für den Betrieb der WIBRA BELGIË SA verantwortlich gewesen sei. Daher könnte sie nur dann für das Fehlverhalten der WIBRA BELGIË SA haftbar gemacht werden, wenn sie als Erwerberin der Rechte und Pflichten der WIBRA BELGIË SA im Rahmen einer vertraglich geregelten Übertragung von Unternehmen im Sinne der Art. 7 und 8 des KAA Nr. 32bis angesehen werde.

27          Zweitens sei ungeachtet der verweigerten gerichtlichen Genehmigung des im Rahmen des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens vorgelegten Übernahmeangebots das im Lauf dieses Verfahrens vorbereitete Vorhaben einer Teilübertragung der WIBRA BELGIË SA schließlich am Tag nach der Eröffnung des Konkursverfahrens von denselben, nunmehr als Konkursverwalter handelnden gerichtlichen Mandatsträgern umgesetzt worden, die zuvor die Genehmigung des diesem Vorhaben entsprechenden Übernahmeangebots beantragt hätten.

28          Drittens sei ein solcher Vorgang als „Pre-pack-Übertragung“ einzustufen, was es dem Erwerber ermöglichen müsste, sich auf die in Art. 5 der Richtlinie 2001/23 vorgesehene Ausnahme zu berufen, sofern dieser Vorgang durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt sei. Solche Vorschriften habe es jedoch zu der nach dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgebenden Zeit im belgischen Recht nicht gegeben.

29          So sei die vorbereitende Phase der Übertragung der WIBRA BELGIË SA zwar unter der Aufsicht der vom zuständigen Gericht im Rahmen des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens bestellten gerichtlichen Mandatsträger erfolgt und könne daher als durch Rechtsvorschriften geregelt angesehen werden, doch sei die zweite Phase dieses Vorgangs – der Übergang von Vermögen und Personal – unmittelbar nach der Weigerung dieses Gerichts erfolgt, das im Rahmen des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens ausgearbeitete Übernahmeangebot zu genehmigen.

30          Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch überdies hervor, dass keine rechtliche Regelung in Kraft war, als der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Übergang stattfand, da eine solche Regelung erst durch das Gesetz vom 21. März 2021 in das Wirtschaftsgesetzbuch eingefügt wurde.

31          Unter diesen Umständen hat das Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen, dass die dort vorgesehene Voraussetzung, wonach die Art. 3 und 4 der Richtlinie nicht für Übergänge von Unternehmen gelten, bei denen gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde, nicht erfüllt ist, wenn der Übergang eines Unternehmens oder Unternehmensteils vor der Eröffnung eines mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers durchgeführten Konkursverfahrens – im vorliegenden Fall im Rahmen eines Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation – vorbereitet wird, das mit einer Übertragungsvereinbarung endet, deren Genehmigung vom zuständigen Gericht verweigert wird und die dann unmittelbar nach der Eröffnung des Konkursverfahrens ohne Anwendung innerstaatlicher Rechts- oder Verwaltungsvorschriften durchgeführt wird?

 Zur Vorlagefrage

32          Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass er auf einen Fall anwendbar ist, in dem ein Konkursverfahren im Anschluss an ein gerichtliches Reorganisationsverfahren durchgeführt wird, in dessen Verlauf eine Vereinbarung über den teilweisen Übergang des betreffenden Unternehmens ausgearbeitet, aber vom zuständigen Gericht nicht genehmigt wurde, die dann nach der Eröffnung des Konkursverfahrens umgesetzt wird.

33          Zunächst ist festzustellen, dass die Richtlinie 2001/23, wie sich aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt, die Arbeitnehmer insbesondere dadurch schützen soll, dass sie die Wahrung ihrer Ansprüche bei einem Inhaberwechsel gewährleistet (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 38).

34          Zu diesem Zweck sieht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie vor, dass die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs eines Unternehmens bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis aufgrund des Übergangs auf den Erwerber übergehen. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie schützt die Arbeitnehmer vor einer Kündigung, die vom Veräußerer oder vom Erwerber allein aufgrund des Übergangs vorgenommen wird (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 39).

35          Als Ausnahme hiervon bestimmt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23, dass die Schutzregelung in den Art. 3 und 4 nicht für Übergänge von Unternehmen gilt, die unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen stattfinden, sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 40).

36          Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 ist jedoch, da er grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der Regelung zum Schutz der Arbeitnehmer im Fall bestimmter Unternehmensübergänge führt und damit von dem der Richtlinie 2001/23 zugrunde liegenden Hauptziel abweicht, zwangsläufig eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37          Nach dieser Bestimmung gelten, sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, der in Art. 3 der Richtlinie 2001/23 vorgesehene gleichzeitige Übergang der Rechte und Pflichten aus den mit dem Veräußerer geschlossenen Arbeitsverträgen und das in Art. 4 dieser Richtlinie vorgesehene grundsätzliche Kündigungsverbot nicht für Übergänge von Unternehmen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung seines Vermögens eröffnet wurde.

38          Aus dem Wortlaut des ersten Satzteils von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 geht zwar hervor, dass die Mitgliedstaaten bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung die Möglichkeit haben, die Schutzregelung für Arbeitnehmer nach den Art. 3 und 4 der Richtlinie anzuwenden, doch hat das Königreich Belgien im Ausgangsverfahren davon keinen Gebrauch gemacht.

39          Folglich ist Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23, soweit er eine Abweichung von der Schutzregelung für Arbeitnehmer ermöglicht, auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar, jedoch nur unter der Bedingung, dass das betreffende Verfahren die in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt.

40          Insoweit sieht Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 drei kumulative Voraussetzungen vor, nämlich erstens, dass gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren eröffnet worden sein muss, zweitens, dass dieses Verfahren zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet worden sein muss, und drittens, dass dieses Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Behörde stehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 44).

41          Die erste Voraussetzung, wonach gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren eröffnet worden sein muss, kann sich in Anbetracht des in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisses einer engen Auslegung nicht auf einen den Konkurs vorbereitenden Vorgang erstrecken, zu dem es aber nicht kommt. Dagegen impliziert ein Transfervorgang, der, obwohl er vor der Konkurseröffnung vorbereitet worden war, erst danach vollzogen wurde, tatsächlich einen Konkurs und kann daher unter den Begriff „Konkursverfahren“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 45 und 46).

42          Insoweit scheint aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten zum einen hervorzugehen, dass ein gerichtliches Reorganisationsverfahren im Sinne des belgischen Rechts nicht als Konkursverfahren betrachtet werden kann, und zum anderen, dass ein gerichtliches Reorganisationsverfahren zwar zum Konkurs des betreffenden Unternehmens führen kann, eine solche Folge aber offenbar weder automatisch eintritt noch sicher ist. Unter solchen Umständen erfüllt das gerichtliche Reorganisationsverfahren als solches nicht die erste der in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 vorgesehenen Voraussetzungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2019, Plessers, C-509/17, EU:C:2019:424, Rn. 42, 43 und 48).

43          Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht jedoch auch hervor, dass im vorliegenden Fall die Bedingungen für einen Unternehmensübergang in einem im Rahmen des Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation der WIBRA BELGIË SA, das der Eröffnung des Konkursverfahrens vorausging, unterbreiteten Vorhaben geschaffen worden waren, und dass der nach Eröffnung des Konkursverfahrens erfolgte Übergang im Einklang mit diesen Bedingungen vorgenommen wurde.

44          Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu klären, ob insbesondere unter Berücksichtigung des im betreffenden Zeitraum anwendbaren belgischen Rechts die Erstellung eines Übernahmeplans im Rahmen des Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation der WIBRA BELGIË SA und die Umsetzung dieses Plans während des Konkursverfahrens dieser Gesellschaft als ein und derselbe Vorgang anzusehen sind, was bedeuten würde, dass die Gesellschaft von Anfang an wegen ihrer erwiesenen Zahlungsunfähigkeit für insolvent zu erklären wäre, bevor der Unternehmensübergang stattfindet. In einem solchen Fall könnte der gesamte Vorgang als Konkursverfahren oder entsprechendes Verfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 angesehen werden. Anderenfalls könnte nur das Konkursverfahren der WIBRA BELGIË SA unter diese Bestimmung fallen.

45          Als zweite Voraussetzung verlangt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23, dass das Konkursverfahren oder das entsprechende Verfahren zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde.

46          Hierzu ist erstens festzustellen, dass ein Verfahren, das auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit des betreffenden Unternehmens abzielt, diese Voraussetzung nicht erfüllt (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47          Der Gerichtshof hat zu den Unterschieden zwischen einem Verfahren, das auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens abzielt, und einem auf die Auflösung seines Vermögens wegen seiner erwiesenen Zahlungsunfähigkeit gerichteten Verfahren bereits klargestellt, dass das erstgenannte Verfahren zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Unternehmens oder der bestandsfähigen Unternehmenseinheiten dient, während mit dem letztgenannten Verfahren eine möglichst hohe kollektive Befriedigung der Gläubiger erreicht werden soll. Auch wenn gewisse Überschneidungen zwischen diesen beiden mit einem konkreten Verfahren verfolgten Zielen nicht ausgeschlossen werden können, bleibt das primäre Ziel eines auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens abzielenden Verfahrens jedenfalls die Erhaltung des betreffenden Unternehmens (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C-126/16, EU:C:2017:489, Rn. 48).

48          So kann ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren selbst dann auf eine möglichst hohe kollektive Befriedigung der Gläubiger abzielen, wenn es daneben das Ziel verfolgt, ein Unternehmen, dessen Tätigkeit fortgeführt wird, zu übertragen und dabei die Arbeitsplätze so weit wie möglich zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Federatie Nederlandse Vakbeweging [Pre-pack-Verfahren], C-237/20, EU:C:2022:321, Rn. 55).

49          Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ferner, dass nicht nur festgestellt werden muss, dass das Konkursverfahren oder das entsprechende Verfahren hauptsächlich dazu dient, die Gläubiger so gut wie möglich zu befriedigen, sondern auch, dass die Umsetzung einer solchen Übertragung die Erreichung dieses Hauptziels ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Federatie Nederlandse Vakbeweging [Pre-pack-Verfahren], C-237/20, EU:C:2022:321, Rn. 53).

50          Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufeinanderfolgenden Verfahren einzeln oder insgesamt betrachtet darauf abzielten, eine möglichst hohe kollektive Befriedigung der Gläubiger zu erreichen, und es im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung ermöglichten, dieses Ziel zu erreichen, oder ob sie im Gegenteil in erster Linie auf die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Unternehmens oder der bestandsfähigen Unternehmenseinheiten gerichtet waren.

51          Insoweit scheint zum einen aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorzugehen, dass das gerichtliche Reorganisationsverfahren nach belgischem Recht im Unterschied zum Konkursverfahren nicht hauptsächlich darauf abzielt, eine möglichst hohe Befriedigung der Gläubiger zu gewährleisten. Im Übrigen geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass im vorliegenden Fall den im Anschluss an den von der WIBRA BELGIË SA gestellten Antrag auf gerichtliche Reorganisation bestellten gerichtlichen Mandatsträgern die Aufgabe übertragen worden war, die Tätigkeiten dieser Gesellschaft zu organisieren und sie ganz oder teilweise zu übertragen.

52          Zum anderen müsste das vorlegende Gericht, wenn es zu dem Ergebnis kommen sollte, dass das Verfahren der gerichtlichen Reorganisation und das Konkursverfahren der WIBRA BELGIË SA zusammen ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 darstellten (siehe oben, Rn. 44), prüfen, ob ein solches Verfahren für sich genommen die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung erfüllt, was bedeutet, dass das Hauptziel dieses gesamten Verfahrens darin bestanden haben müsste, für die Gläubigergemeinschaft einen möglichst hohen Erlös zu erzielen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Federatie Nederlandse Vakbeweging [Pre-pack-Verfahren], C-237/20, EU:C:2022:321, Rn. 52 und 53).

53          Bei der Prüfung, ob die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist, könnte das vorlegende Gericht u. a. berücksichtigen, dass die WIBRA BELGIË SRL mit dem Ziel gegründet wurde, einen Teil der zuvor von der WIBRA BELGIË SA ausgeübten Tätigkeiten zu übernehmen und fortzuführen, und dass in einer von „WIBRA“ stammenden Pressemitteilung am Tag nach der Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen dieser Gesellschaft angekündigt wurde, dass die nach der Konkurseröffnung bestellten Konkursverwalter den auf den Übergang des belgischen Sitzes der WIBRA BELGIË SA und von 36 Ladengeschäften sowie die Wiedereinstellung von 183 Arbeitnehmern gerichteten „Plan zur Übernahme von WIBRA nach Abstimmung gebilligt [haben]“, wobei hinzugefügt wurde, dass „[d]ieser Neustart … die Ungewissheit über die Fortsetzung der Aktivitäten von WIBRA in Belgien [beendet]“.

54          Zweitens muss sichergestellt werden, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Konkurs- oder entsprechende Verfahren durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt wird, die gewährleisten, dass seine Umsetzung keine Rechtsunsicherheit erzeugt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Federatie Nederlandse Vakbeweging [Pre-pack-Verfahren], C-237/20, EU:C:2022:321, Rn. 54 und 55).

55          Insoweit geht – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht hervor, dass das gerichtliche Reorganisationsverfahren oder das Konkursverfahren im belgischen Recht über keinen ausreichenden Rechts- oder Regelungsrahmen verfügt, um die in der vorstehenden Randnummer genannte Voraussetzung zu erfüllen.

56          Kommt das vorlegende Gericht hingegen zu dem Ergebnis, dass im Ausgangsverfahren das gerichtliche Reorganisationsverfahren und das Konkursverfahren der WIBRA BELGIË SA zusammen genommen ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 darstellen können, muss es klären, ob die zeitlich gestaffelte Kombination der beiden Verfahren hinreichend durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt ist.

57          Drittens ist die Voraussetzung, dass das Verfahren nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle stehen muss, zum einen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht erfüllt, wenn der gerichtliche Mandatsträger damit betraut ist, die Übertragung des Unternehmens im Namen und für Rechnung des Schuldners zu organisieren und durchzuführen, und wenn er Angebote einholen und vorrangig auf die Aufrechterhaltung der gesamten Tätigkeit des Unternehmens oder eines Teils davon unter Berücksichtigung der Rechte der Gläubiger achten muss, wie es im Rahmen des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens im Sinne des belgischen Rechts der Fall zu sein scheint (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2019, Plessers, C-509/17, EU:C:2019:424, Rn. 46 und 47).

58          Zum anderen muss das vorlegende Gericht, wenn es zu dem Ergebnis gelangt, dass das Konkursverfahren oder das entsprechende Verfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 im vorliegenden Fall in der Kombination des gerichtlichen Reorganisations- und des Konkursverfahrens der WIBRA BELGIË SA besteht, feststellen, ob eine solche Kombination insgesamt betrachtet unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle steht. Für eine solche Aufsicht spricht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zunächst, dass ein Gericht die Aufgaben der Mandatsträger in der Phase vor dieser Kombination des gerichtlichen Reorganisations- und des Konkursverfahren festlegt und die Ausübung dieser Aufgaben anlässlich der eigentlichen Konkurseröffnung überprüft, sodann, dass das Unternehmen erst nach der Eröffnung des Konkursverfahrens übertragen wird, was es dem Konkursverwalter erlaubt, dem zu widersprechen, und schließlich, dass die im Rahmen der vorbereitenden Phase tätigen Mandatsträger für ihre Handlungen unter den gleichen wie den für die Konkursverwalter geltenden Bedingungen verantwortlich sind. Dagegen kommt für die Klärung der Frage, ob ein solches Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle steht, weder dem Umstand, dass die Unterzeichnung der Übertragungsvereinbarung kurz nach Eröffnung des Konkursverfahrens erfolgt, entscheidende Bedeutung zu noch dem Umstand, dass die in der vorbereitenden Phase dieses Verfahrens tätigen Mandatsträger über keine gesetzlichen Befugnisse verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Federatie Nederlandse Vakbeweging [Pre-pack-Verfahren], C-237/20, EU:C:2022:321, Rn. 59 und 62 bis 64).

59          Schließlich ist, um dem vorlegenden Gericht alle für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nützlichen Hinweise zu geben, darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2001/23 die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit Insolvenzverfahren nicht in missbräuchlicher Weise in Anspruch genommen werden, um den Arbeitnehmern die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte vorzuenthalten.

60          Im vorliegenden Fall beantragte die WIBRA BELGIË SA zur Vorbereitung eines Übergangs ihrer gesamten Tätigkeiten oder eines Teils davon die Eröffnung eines gerichtlichen Reorganisationsverfahrens nach belgischem Recht, das den Arbeitnehmern Garantien bietet. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Gesellschaft, nachdem die Ondernemingsrechtbank Gent (Unternehmensgericht Gent) es abgelehnt hatte, das von den im Rahmen des genannten Verfahrens bestellten gerichtlichen Mandatsträgern akzeptierte Übernahmeangebot zu genehmigen, bei diesem Gericht die Eröffnung des Konkursverfahrens über ihr Vermögen beantragte und damit ein Verfahren in Gang setzte, das den Arbeitnehmern nach belgischem Recht andere Garantien bot als die im Rahmen des gerichtlichen Reorganisationsverfahrens vorgesehenen.

61          Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch auch hervor, dass dieses Übernahmeangebot von einer mit der WIBRA BELGIË SA verbundenen Gesellschaft stammte, ohne dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass nach anderen potenziellen Erwerbern gesucht wurde, und dass die Versagung der Genehmigung damit begründet wurde, dass das Übernahmeangebot gegen mehrere zwingende Bestimmungen über den Schutz der möglicherweise von dem beabsichtigten Unternehmensübergang betroffenen Arbeitnehmer verstoße.

62          Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht aller relevanten Gesichtspunkte zu prüfen, ob im vorliegenden Fall in missbräuchlicher Weise auf das Insolvenzverfahren zurückgegriffen worden sein könnte, um den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmern die Ansprüche aus der Richtlinie 2001/23 vorzuenthalten.

63          Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass er auf einen Fall anwendbar ist, in dem ein Konkursverfahren im Anschluss an ein gerichtliches Reorganisationsverfahren durchgeführt wird, in dessen Verlauf eine Vereinbarung über den teilweisen Übergang des betreffenden Unternehmens ausgearbeitet, aber vom zuständigen Gericht nicht genehmigt wurde, die dann nach der Eröffnung des Konkursverfahrens umgesetzt wird, sofern das durchgeführte Konkurs- oder entsprechende Verfahren tatsächlich zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wird, sofern es unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle steht und sofern der Rückgriff auf dieses Verfahren nicht als missbräuchlich eingestuft werden kann.

Kosten

64          Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

 

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